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Die Tage zogen vorüber und wurden immer düsterer, denn Barrows Bemühungen, Arbeit für Tracy zu finden, waren erfolglos. Die erste Frage, die vorgelegt wurde, war immer die: »Zu welcher Genossenschaft gehören Sie?« Tracy war genötigt zu antworten, daß er zu keinem Gewerbeverein gehöre.
»Ja, dann ist es unmöglich. Sie zu beschäftigen; meine Leute würden nicht bleiben, wenn ich einen ›Lump‹, eine ›Ratte‹, oder wie sie sonst es nennen, anstellte.«
Endlich hatte Tracy einen glücklichen Gedanken. Er sagte: »Nun, wahrlich, das einzig Richtige, das ich tun kann, ist natürlich, einem Gewerbeverein beizutreten.«
»Ja,« sagte Barrow, »das wäre allerdings das Richtige, wenn es Ihnen gelänge.«
»Wenn es mir gelänge? Ist das denn so schwer?«
»Nun ja, manchmal ist es schwer – sogar sehr schwer. Aber Sie können es immerhin versuchen, das wird das beste sein.«
Tracy versuchte es also, aber es gelang ihm nicht. Die Aufnahme wurde ihm mit Entschiedenheit verweigert, und es wurde ihm geraten, nach Hause zurückzukehren, wohin er gehöre, und nicht hierherzukommen, um ehrlichen Leuten das Brot vom Munde wegzunehmen. Es wurde Tracy immer deutlicher, daß seine Lage eine verzweifelte war, und der Gedanke durchschauerte ihn kalt bis ins Mark. Er sagte sich: »Es gibt also doch eine Aristokratie der Stellung hier, eine Aristokratie des Wohlstandes und, wie es scheint, auch eine Aristokratie derer, die darinnen sind, denen gegenüber, die draußen stehen, und ich gehöre zu den letzteren.« Er fühlte sich so niedergeschlagen und elend, daß er den abendlichen rohen Scherzen und Spielen der jungen Leute in den oberen Zimmern nicht mehr mit philosophischer Ruhe zusehen konnte. Zuerst hatte es ihm Vergnügen gemacht, zu sehen, wie sie aufatmeten und sich einige frohe Stunden machten, die sie nach der Arbeit des Tages so wohl verdienten; aber jetzt verletzte es sein Gefühl und seine Würde. Wenn sie guter Dinge waren, schrien sie, kämpften miteinander, sangen Lieder und sprangen umher wie junges Vieh, und gewöhnlich machten sie den Beschluß mit einer Schlacht, in der sie die Kissen einander an die Köpfe und in jeder Richtung umherwarfen; manchmal traf auch ihn ein solcher Wurf, und sie forderten ihn immer auf, mitzutun. Sie nannten ihn »Johny Bull« und luden ihn mit der größten Vertraulichkeit ein, am Spiel teilzunehmen. Zu Anfang hatte er das alles gutmütig ertragen, aber in der letzten Zeit hatte er gezeigt, daß es ihm entschieden widerwärtig war, und bald gewahrte er eine Veränderung in dem Benehmen der jungen Leute gegen ihn. Sie wurden »sauer« mit ihm, wie sie es in ihrer Sprache auszudrücken pflegten; er war nie gewesen, was man beliebt nennt; aber er hatte ihnen gefallen; jetzt hingegen zeigten sie ihm täglich mehr Abneigung. Sein Fall wurde dadurch nicht besser, daß er kein Glück hatte, keine Arbeit fand, keiner Genossenschaft angehörte und in keine aufgenommen wurde. Er mußte viele von jenen versteckten, aber doch kränkenden Spottreden hinnehmen, gegen die man nicht eigentlich auftreten kann, und es war offenbar nur eines, was ihn vor direkter Beleidigung schützte, und das war seine Muskelkraft. Die jungen Leute hatten ihn des Morgens nach seinen kalten Waschungen sich bewegen und turnen sehen und schlossen aus seinen Leistungen und seinem Körperbau, daß er von ungewöhnlicher Stärke und auch im Boxen geübt sei. Es war ihm sehr demütigend, als er erkannte, daß er jeder andern Achtung als derjenigen vor seinen Fäusten beraubt sei. Eines Abends, als er in das Zimmer trat, fand er ein Dutzend der jungen Männer in sehr lebhafter, von wieherndem Gelächter begleiteter Unterhaltung. Das Gespräch hörte bei seinem Eintreten augenblicklich auf, und ein vollkommenes, beleidigendes Stillschweigen folgte. Er sagte: »Guten Abend, meine Herren,« und setzte sich nieder.
Man gab ihm keine Antwort. Die Zornesröte stieg ihm bis zur Stirne, aber er zwang sich zu schweigen. Kurze Zeit blieb er in der unbehaglichen Stille des Zimmers sitzen, dann stand er auf und ging hinaus. Sobald er ihnen aus dem Gesicht war, hörte er ein lautes Gelächter ausbrechen. Er sah, daß es ihre entschiedene Absicht gewesen war, ihn zu beleidigen. Er stieg auf das platte Dach hinaus und hoffte, seine Aufregung bekämpfen und seine Ruhe wieder erlangen zu können. Er fand dort den jungen Zinngießergesellen allein, trübe vor sich hinbrütend, und fing ein Gespräch mit ihm an. Sie befanden sich jetzt in ziemlich gleicher Lage, was Unbeliebtheit, Unglück im allgemeinen und Not betraf, und es wurde ihnen nicht schwer, sich auf diesem gemeinschaftlichen Grund und Boden in einer Weise zu begegnen, die für beide vorteilhaft und trostreich war. Aber Tracys Schritte waren beobachtet worden, und nach wenigen Minuten kamen die Quälgeister einer nach dem andern auf das Dach, wo sie scheinbar zwecklos hin und her wandelten. Bald jedoch ließen sie Bemerkungen fallen, die augenscheinlich auf Tracy und den Zinngießer zielten. Der Anführer dieser kleinen Bande war ein kurzhaariger Raufbold und Preisfechterdilettant namens Allen, der gewohnt war, das obere Stockwerk zu kommandieren, und mehr als einmal Neigung verraten hatte, mit Tracy Streit anzufangen.
Nun konnte man von Zeit zu Zeit ein Zischen vernehmen, dann Schreien und Pfeifen, und zuletzt wurde eine abwechslungsreiche Reihe von anzüglichen Bemerkungen ausgetauscht.
»Wie viele machen ein Paar aus?«
»Nun, gewöhnlich geben zwei ein Paar, aber manchmal haben sie nicht Zeug genug in sich, ein ganzes Paar auszumachen.«
Allgemeines Gelächter.
»Was hast du vorhin über die Engländer gesagt?«
»Ach, gar nichts, die Engländer sind ganz recht – nur – ich – –«
»Was hast du über sie gesagt?«
»Oh, ich sagte nur, sie schlucken gut.«
»Schlucken sie besser als andre Leute?«
»Ja, die Engländer schlucken ein gutes Teil besser als andre Leute.«
»Was schlucken sie denn am besten?«
»Oh, Beleidigungen.« Wieder allgemeines Gelächter.
»Es ist ziemlich schwer, sie zum Streiten zu bringen, nicht wahr?«
»Nein, es ist nicht schwer, sie zum Streiten zu bringen.«
»Nicht? – Wirklich nicht?«
»Nein, nicht schwer, sondern unmöglich.« Wieder Gelächter.
»Der hier hat keinen Mut, soviel ist gewiß.«
»Kann ja nicht anders sein – in seinem Fall.«
»Kennst du das Geheimnis seiner Geburt nicht?«
»Nein! Besteht ein Geheimnis über seine Geburt?«
»Du kannst darauf wetten.«
»Nun, was ist es?«
»Sein Vater war eine Wachsfigur.«
Allen schlenderte auf den Platz zu, wo die zwei saßen, blieb vor ihnen stehen und sagte zu dem Zinngießer:
»Nun, wie steht es jetzt mit den Freunden?«
»Ziemlich gut.«
»Hast du viele?«
»Soviel ich brauche.«
»Ein Freund ist manchmal viel wert, als Beschützer zum Beispiel. Was glaubst du, was geschehen würde, wenn ich dir die Mütze vom Kopf nähme und dich damit ins Gesicht schlüge?«
»Bitte, lassen Sie mich in Ruhe, Mr. Allen, ich lege Ihnen doch nichts in den Weg.«
»Du sollst mir antworten! Was denkst du, würde dann geschehen?«
»Nun, ich weiß es nicht.«
Jetzt ergriff Tracy das Wort und sagte mit viel Mäßigung:
»Lassen Sie den jungen Burschen in Ruhe; ich kann Ihnen sagen, was geschehen würde.«
»So? Sie können das? Wirklich? Jungens, hört, Johny Bull kann uns sagen, was passieren würde, wenn ich dieses Burschen Mütze nähme und sie ihm ins Gesicht schlüge. Nun sollt ihr's sehen.«
Er riß Brady die Mütze weg und schlug ihn damit ins Gesicht; aber ehe er fragen konnte, was nun geschehen würde, war es schon geschehen: er wärmte die Zinkplatten des Daches mit der ganzen Breite seines Rückens. Es entstand nun eine allgemeine Bewegung, und von mehreren Seiten wurde der Ruf laut:
»Einen Kreis, einen Kreis, schließt einen Kreis! Johny hat doch Grütze, nun gebt ihm Gelegenheit zu zeigen, was an ihm ist.«
Rasch war der Kreis auf dem Zink gezogen, und Tracys Kampflust war so groß, als wäre sein Gegner ein Prinz und nicht ein Arbeiter. Im Grunde war er selbst ein wenig erstaunt darüber, weil, wenn auch seine Theorien schon seit einiger Zeit diese Richtung genommen hatten, er doch nicht geglaubt hätte, so begierig zu sein, seine Kraft mit einem so gemeinen Menschen, wie dieser Raufbold war, zu messen. In einem Nu waren die Fenster und Dächer in der Nachbarschaft von Zuschauern besetzt. Die Männer machten Platz, und der Kampf begann.
Allen war dem jungen Engländer gegenüber sehr im Nachteil; weder an Muskelkraft noch an Gewandtheit kam er ihm gleich. Er bekam Gelegenheit, das Zink des Daches immer und immer wieder mit seinem Körper zu messen, ja, so schnell er überhaupt aufstehen konnte, wurde er wieder niedergeworfen, und freigebigster Beifall wurde dauernd von allen Seiten gespendet. Zuletzt mußte man Allen beim Aufstehen behilflich sein, und Tracy lehnte es nun ab, ihn weiter zu züchtigen, der Kampf war zu Ende. In sehr gedemütigter Stimmung wurde Allen von einigen seiner Freunde weggeführt, sein Gesicht war schwarz und blau und blutete, und Tracy sah sich nun von den jungen Leuten umdrängt, die ihn beglückwünschten und sagten, er habe dem ganzen Hause einen Dienst erzeigt, von nun an werde Mr. Allen etwas vorsichtiger sein im Austeilen von Kränkungen, Beleidigungen und Mißhandlungen an die Kostgänger.
Tracy war nun ein Held und außerordentlich beliebt. Vielleicht war niemand im obern Stockwerk das je in einem solchen Grade gewesen. Aber war die Nichtachtung der jungen Leute schwer zu ertragen gewesen, so war das noch mehr der Fall mit ihren verschwenderisch gewährten Beifallsbezeugungen und Lobsprüchen und ihrer Heldenverehrung. Tracy fühlte sich dadurch herabgesetzt, aber er vermied es, den Grund, weshalb das so war, näher zu prüfen. Er redete sich ein, er käme sich herabgewürdigt vor durch die öffentliche Schaustellung seiner selbst in dem Kampf auf einem Zinkdach zum Ergötzen der Umgebung. Aber diese Erklärung befriedigte ihn nicht. Einmal ging er etwas zu weit und schrieb in sein Tagebuch, sein Fall sei ärger als der des verlorenen Sohnes; dieser fütterte bloß die Schweine, hatte aber nicht mit ihnen zu verkehren. Aber er strich das wieder aus und sagte: »Alle Menschen sind gleich. Ich will meine Grundsätze nicht verleugnen. Diese Männer sind ebenso gut wie ich.«
Auch im unteren Stockwerk war Tracy beliebt geworden. Jedermann war dankbar für die gründliche Zurechtweisung, die Allen erhalten hatte, und durch welche sein Ausführen von Gewalttätigkeiten in ein bloßes Drohen mit solchen umgewandelt worden war.
Die jungen Mädchen, ungefähr ein halbes Dutzend an der Zahl, erzeigten Tracy manche Aufmerksamkeiten, besonders der Liebling des Kosthauses, Hattie, der Wirtin Töchterlein. Sie sagte mit süßer Miene:
»Ich finde Sie äußerst nett,« und als er darauf antwortete: »Es freut mich, daß Sie so denken, Miß Hattie« – sagte sie noch freundlicher:
»Nennen Sie mich nicht Miß Hattie – sagen Sie einfach Puß.«
Ah – das war eine Beförderung, er hatte den Gipfel erreicht. Es gab in diesem Kosthause keine höhere Stufe zu erklimmen. Seine Popularität war nun vollkommen.
In Gegenwart der Leute zeigte sich Tracy äußerlich ruhig, aber sein Herz verzehrte sich in Kummer und Verzweiflung. In kurzem würde er ganz ohne Geld sein, und was sollte er dann beginnen? Er wünschte jetzt, er hätte von dem Geld des Fremden etwas mehr entliehen. Er fand keinen Schlaf mehr. Ein einziger quälender, entsetzlicher Gedanke drehte sich in seinem Kopf und wühlte in seinem Gehirn. Was sollte er tun – was sollte aus ihm werden? Und mit diesem Gedanken schlich sich etwas ein, das dem Wunsche ähnlich war, er hätte sich dem erhabenen und edeln Zuge der Märtyrer doch lieber nicht anschließen, sondern hübsch zu Hause bleiben und es sich daran genügen lassen sollen, ein Graf zu sein und nicht mehr, mit keiner andern nützlichen Arbeit in dieser Welt als der, die eben ein Lord finden kann.
Aber er erstickte diesen Teil seines Gedankens, so gut er es vermochte; er strengte sich an, ihn zu vertreiben, aber er konnte ihn nicht hindern, sich doch manchmal wieder einzudrängen, und dieses Eindringen kam sehr plötzlich und traf ihn wie ein Biß, ein Stich, ein Brandfleck. Er erkannte diesen Gedanken schon an der eigentümlichen Schärfe des Schmerzes, den er dabei empfand. Auch die andern waren peinlich, aber dieser schnitt ihm tief ins Fleisch, wenn er sich einstellte. Allnächtlich wälzte er sich bis zwei oder drei Uhr morgens schlaflos in seinem Bett, das häßliche Schnarchen der ehrlichen Broterwerber war ihm widerlich; dann stand er auf und suchte eine Zuflucht auf dem Dach, wo er manchmal noch einige Minuten Schlaf fand, während er manchmal auch hier keine Ruhe erlangte. Den Appetit verlor er und mit demselben die Lebenskraft. Eines Tages, als er nahe daran war, gänzlicher Mutlosigkeit anheimzufallen, sagte er bei sich und versäumte nicht, insgeheim zu erröten, als er es sagte:
»Wenn mein Vater meinen amerikanischen Namen wüßte, er – – nun eigentlich fordert es meine Pflicht gegen meinen Vater, daß ich ihn meinen angenommenen Namen wissen lasse. Ich habe kein Recht, seine Tage und Nächte kummervoll zu machen, ich kann Unglück genug für die ganze Familie mir ganz allein schaffen. Er sollte wirklich erfahren, welches mein amerikanischer Name ist.«
Darüber dachte Tracy eine Weile nach und setzte dann im Geiste ein Kabeltelegramm mit folgenden Worten auf: »Mein amerikanischer Name ist Howard Tracy.«
Das deutete weiter gar nichts an. Sein Vater konnte es verstehen, wie er wollte, und ohne Zweifel würde er es so aufnehmen, wie es gemeint war, als den pflichtgetreuen und liebevollen Wunsch von seiten des Sohnes, seinem alten Vater einen glücklichen Augenblick zu verschaffen. Diesem Gedankengang folgend, sagte sich Tracy: »Aber wenn er mir nun telegraphierte, nach Hause zu kommen! Ich – ich könnte das nicht tun, ich dürfte es nicht tun! Ich habe eine Mission unternommen und darf ihr nicht feige den Rücken kehren. Nein, nein – ich könnte nicht nach Hause reisen, wenigstens – wenigstens würde ich nicht danach verlangen.« Nach einer dem Nachdenken gewidmeten Pause: »Nun, es könnte sein – vielleicht wäre es unter gewissen Umständen meine Pflicht; er ist sehr alt und bedarf meiner zur Stütze seiner Schritte auf dem langen Wege, der sich westwärts hinab nach dem Sonnenuntergang seines Lebens neigt. Ja, darüber muß ich nachdenken. Es würde in diesem Falle natürlich nicht recht sein, hierzubleiben. Ich – wenn – nun, vielleicht sollte ich ihm doch wenigstens einige Zeilen schreiben und mein Kommen eine Weile hinausschieben, um ihn einstweilen auf diese Weise zufriedenzustellen. Es würde – gewiß, es würde alles verderben, wenn er mein augenblickliches Nachhausekommen forderte.« – Wieder eine nachdenkliche Pause, dann: »Und doch, wenn er das täte, weiß ich nicht, ob – oh mein Gott – heim! Wie gut das klingt! Und man ist wohl zu entschuldigen, wenn man seine Heimat – wenigstens dann und wann einmal – wiederzusehen wünscht.«
Er ging nach einem der Telegraphenbureaus der Avenue und bekam die erste Probe von dem, was Barrow die »übliche Washingtoner Höflichkeit« nannte, »wo man behandelt wird, als wäre man ein Landstreicher, bis sie herausfinden, daß man ein Kongreßmitglied ist, und dann sind sie voller Süßigkeit«.
Ein junger Mann von siebzehn Jahren hatte dort den Dienst und knüpfte eben seinen Schuhriemen; sein Fuß stand auf einem Stuhl, und er drehte dem Schalter den Rücken zu. Er sah über die Schulter zurück, maß Tracy mit den Augen, wendete sich wieder ab und fuhr fort, sich mit seinem Schuh zu beschäftigen. Tracy schrieb seine Depesche und wartete, wartete immer und immer noch, daß diese Beschäftigung ein Ende nehme, aber es schien nicht, als ob das je der Fall sein sollte. Endlich sagte er:
»Könnten Sie mein Telegramm nicht nehmen?«
Der Jüngling sah wieder über seine Achsel nach Tracy und gab, wenn auch nicht in Worten, so doch durch seine Manieren, die Antwort:
»Könnten Sie nicht eine Minute warten?«
Er wurde jedoch endlich mit dem Schuh fertig und kam herbei, nahm das Telegramm, überblickte es und sah dann überrascht auf Tracy. In seinem Blick lag etwas, das an Achtung, beinahe Ehrerbietung grenzte, so schien es Tracy, obgleich er so lange von diesen Dingen nichts gesehen hatte, daß er nun nicht sicher war, ihre Zeichen noch zu erkennen.
Der Bursche las die Adresse laut, und sein Gesicht wie seine Stimme drückten Wohlgefallen aus.
»An den Grafen von Roßmore! Alle tausend! Kennen Sie ihn denn?«
»Ja.«
»Wirklich! Kennt er Sie?«
»Jawohl.«
»Nun, das läßt sich hören! Glauben Sie, er wird Ihnen antworten?«
»Ich denke wohl.«
»Wirklich? Wohin soll man's Ihnen schicken?«
»Nirgendshin. Ich werde es abholen. Wann soll ich kommen?«
»Oh, das weiß ich nicht, ich will's Ihnen schon schicken; wohin soll's gebracht werden? Geben Sie Ihre Adresse, ich will's Ihnen zuschicken, sowie es ankommt.«
Das wollte Tracy aber nicht. Er hatte die Bewunderung und Hochachtung des jungen Mannes erlangt und wollte diese kostbaren Güter nicht verscherzen, was sicher geschehen wäre, wenn er die Adresse jenes Kosthauses angegeben hätte. So sagte er nochmals, daß er wieder vorsprechen werde, um das Telegramm abzuholen, und ging.
Zögernd verfolgte er seinen Weg und dachte nach. »Es ist doch,« sagte er sich, »etwas Angenehmes um das Geehrtsein. Ich habe die Achtung Mr. Allens und einiger andrer, ja beinahe ihre Ehrerbietung erworben durch mein eignes Verdienst, weil ich Mr. Allen gehörig gedroschen habe. Das war mir angenehm; aber eine Ehrerbietung, die auf falschem Schein, auf einem Phantom beruht, scheint wirklich noch angenehmer. Es ist kein wirkliches Verdienst, mit einem Grafen zu korrespondieren, und doch macht mir das Benehmen dieses Jungen den Eindruck, als ob es so wäre.«
Das Telegramm war nun tatsächlich nach der Heimat abgegangen. Der Gedanke gab ihm Mut. Er schritt leichter dahin, sein Herz war freudig bewegt. Er warf alle Bedenken von sich und gestand sich ein, daß er durch und durch glücklich sei, dieses Experiment nun bald aufgeben und in die Heimat zurückkehren zu können. Sein Verlangen nach der Antwort seines Vaters nahm nun mit wunderbarer Schnelligkeit zu, nachdem es einmal erwacht war. Er wartete eine Stunde, ging umher und suchte die Zeit so gut als möglich hinzubringen, aber nichts interessierte ihn, was ihm vor die Augen kam, und endlich ging er wieder nach dem Bureau und fragte, ob schon eine Antwort eingetroffen sei. Der Junge sagte:
»Nein, noch keine Antwort da.« Dann sah er nach der Uhr und fügte hinzu: »Ich halte es nicht für wahrscheinlich, daß Sie heute noch eine bekommen.«
»Weshalb nicht?«
»Nun, sehen Sie, es ist schon ziemlich spät. Man kann doch nicht immer wissen, wo ein Mann ist, wenn er sich drüben jenseits des Ozeans befindet, und man kann ihn auch nicht gerade immer in der Minute treffen, zu der man ihn haben möchte; und dann ist es schon gegen sechs Uhr, und dort drüben ist es jetzt schon spät abends.«
»Das ist richtig,« sagte Tracy, »daran habe ich nicht gedacht.«
»Ja, ziemlich spät, halb elf Uhr oder elf. Ja, ja, Sie werden wahrscheinlich heute abend keine Antwort mehr bekommen.«