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»Gott stehe mir bei, Hawkins!«
Die Morgenzeitung fiel aus des Obersten zitternder Hand.
»Was gibt es denn?«
»Er ist dahin ... der gescheite, begabte junge Mann, der edelste seines erhabenen Geschlechts ... dahin! In Flammen überirdischer Glorie dahingegangen.«
»Wer?«
»Mein lieber, teurer Vetter: Kirkendbright Llanover Marjoribanks Sellers, Graf Berkeley, Sohn und Erbe des Usurpators Roßmore.«
»Nein!«
»Es ist wahr, nur zu wahr!«
»Wann?«
»Gestern abend.«
»Wo?«
»Gerade hier in Washington, wo er, wie die Zeitung sagt, gestern aus England ankam.«
»Ist es möglich!«
»Das Hotel brannte ab.«
»Welches Hotel?«
»Das neue Gadsby-Hotel.«
»Oh, mein Gott, so haben wir sie beide verloren?«
»Wieso beide?«
»Den einarmigen Peter.«
»Oh, Bomben und Granaten, den hatte ich ganz vergessen! Ich hoffe nicht ...«
»Hoffen ... nun ja, hoffen wir; wir können ihn nicht entbehren. Lieber eine Million Grafen verlieren, als unsre letzte Stütze, unsern einzigen Halt.«
Sie durchforschten das Blatt aufmerksam und waren entsetzt, zu finden, daß ein einarmiger Mann gesehen worden war, der in Unterkleidern durch einen der Korridore des Hotels stürzte und augenscheinlich vor Angst vollständig den Kopf verloren hatte; da er auf niemand hörte und dabei beharrte, nach einer Treppe zu eilen, die ihn dem sichern Verderben in die Arme führen mußte, gab man seine Rettung als hoffnungslos auf.
»Armer Kerl!« seufzte Hawkins; »und seine Freunde waren so nahe. Wären wir doch nicht weggegangen, vielleicht hätten wir ihn retten können.«
Der Lord blickte auf und sagte ruhig:
»Sein Tod hat weiter nichts zu sagen. Er war vorher unsicher, jetzt haben wir ihn sicher.«
»Wir haben ihn? Wieso?«
»Ich werde ihn materialisieren.«
»Roßmore, ich bitte dich, scherze jetzt nicht. – Willst du sagen, daß du das imstande wärest?«
»Ich bin es imstande, so gewiß, als du hier sitzest; und ich werd' es auch tun.«
»Gib mir deine Hand und gewähre mir den Trost, sie drücken zu dürfen. Ich war dem Tode nah, und du hast mir neues Leben eingehaucht. Mache dich daran, ich bitte dich, mache dich gleich daran.«
»Es wird schon ein wenig Zeit dazu gehören, Hawkins, aber wir haben keine Eile; nicht die geringste Eile, so wie die Umstände jetzt liegen. Überdies fallen mir jetzt gewisse Pflichten zu, die notwendigerweise in erster Linie meine Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen. Dieser arme junge Edelmann!«
»Oh, über meine Herzlosigkeit! Du bist von neuem Familienleid betroffen. Natürlich mußt du ihn zuerst, wie du es nennst, materialisieren oder verkörperlichen, das verstehe ich vollkommen.«
»Ich ... nun ... ich meinte nicht gerade das, aber wie konnte ich nicht gleich daran denken! Freilich muß ich ihn materialisieren. O Hawkins! Die Selbstsucht ist doch der Grundzug der menschlichen Natur; ich dachte nur daran, daß nun, wo der Erbe des Usurpators aus dem Wege geschafft ist ... aber du wirst mir diese augenblickliche Schwäche verzeihen und sie vergessen. Erinnere mich nie mehr daran, daß Mulberry Sellers einst so niedrig gesinnt war, den Gedanken zu denken, den ich gedacht. Ich werde ihn materialisieren, auf Ehre, ich werde und würde es tun, bestände er auch aus tausend in einem einzigen vereinigten Erben, die von hier bis zu den gestohlenen Besitzungen eine undurchdringliche Mauer bildeten und so dem rechtmäßigen Grafen den Weg für immer versperrten.«
»Das sprach der echte Sellers; des andern Worte hatten einen falschen Klang, alter Freund.«
»Hawkins, mein Junge, mir fällt eben etwas ein, etwas, was ich immer zu erwähnen vergaß, und was wir doch sehr sorgfältig beachten müssen.«
»Was ist das?«
»Wir müssen uns in betreff dieser Verkörperlichungen ganz still verhalten. Vergiß es nicht, auch nicht die leiseste Andeutung darf uns entschlüpfen, nicht die leiseste. Abgesehen davon, wie meine Frau und meine Tochter mit ihren zartbesaiteten, empfindsamen Organisationen das aufnehmen würden – die Neger würden nicht einen Augenblick länger hier bleiben.«
»Das ist wahr, die würden nicht bleiben. Es ist übrigens gut, daß du es gesagt hast, denn meine Zunge ist von Natur nicht sehr verschwiegen, wenn ich nicht gewarnt werde.«
Sellers streckte die Hand aus und drückte auf einen Knopf an der Wand, dann heftete er die Augen auf die hintere Türe und wartete; drückte nochmals und wartete weiter; und gerade als Hawkins seine Bewunderung darüber ausdrücken wollte, daß der Oberst unzweifelhaft der fortschrittlichst gesinnte, rührigste Mann sei, den er je gesehen, weil er jede neu erfundene Bequemlichkeit augenblicklich in seinen Dienst zu stellen wisse und in dem großen Werke der materiellen Kulturentwicklung immer Schulter an Schulter mit dem Bannerträger bleibe, gerade da ließ Sellers von dem Knopf ab (an dem gar kein elektrischer Draht befestigt war), läutete eine große Tischglocke und bemerkte, er habe die neuerfundene, trockene Batterie nun zu seiner vollständigen Zufriedenheit probiert und sei ihrer jetzt überdrüssig; dann fügte er hinzu:
»Es half alles nichts, Graham Bell bestand darauf, daß ich einen Versuch damit mache; schon die bloße Tatsache eines solchen meinerseits würde der Sache das öffentliche Vertrauen gewinnen und ihm Gelegenheit geben, zu zeigen, was er damit leisten könne. Ich sagte ihm, daß die trockene Batterie zwar in der Theorie etwas ganz Famoses wäre, aber in der Praxis nichts ... und hier haben wir das Ergebnis. Hatte ich nun nicht recht? Was sagst du dazu, Washington Hawkins? Du hast gesehen, wie ich diesen Knopf zweimal drückte! Hatte ich nicht recht? Ich frage dich: wußte ich, was ich sagte, oder wußte ich es nicht?«
»Du weißt ja, Sellers, wie ich über dich denke und immer gedacht habe. Mir kommt es vor, als wüßtest du alles von allem. Wenn dieser Mann dich gekannt hätte, wie ich dich kenne, so würde er dein Urteil ohne Zögern angenommen und die trockene Batterie gelassen haben, wo sie war.«
»Haben Sie geläutet, Harre Sellers?«
»Nein, Herr Sellers läutete nicht.«
»Dann war es Sie, Harre Washington, ich hab's gehört doch.«
»Nein, Harre Washington war es auch nicht.«
»Nu aber – wer denn hat geläutet?«
»Lord Roßmore war es.«
Der alte Neger schlug die Hände über dem Kopf zusammen und rief aus:
»Oh, ich dumme Haut, hab' ich nicht rein vergessen den Namen ... kommst her, Jenny, lauf her, Alte.«
Jenny kam herbei.
»Du sollst hören Befehl, der Lord dir gibt; ich muß gehen hinunter und studieren den Namen, bis ich ihn behalten.«
»Ich soll Befehl hören! Wer war bisher dein Diener? Glocke geläutet für dich.«
»Das macht keinen Unterschied nicht. Wenn Glocke läutet für jemand und Harre mir sagen – –«
»Macht, daß ihr fortkommt, und macht das in der Küche miteinander ab.«
Der Lärm des Zankes ging in ein entferntes Murmeln über, und der Lord setzte hinzu:
»Ist das nicht eine Last mit den alten Hausdienern, die einst unsre Sklaven und immer unsre persönlichen Freunde waren!«
»Ja, und Glieder der Familie.«
»Sie werden entschieden Glieder der Familie, ja, in Wirklichkeit die Glieder und oft Herr und Herrin des Hauses. Diese beiden Alten sind unendlich gut und liebevoll, treu und redlich, aber zum Henker, sie tun, was ihnen beliebt, sie mischen sich in das Gespräch, wann sie Lust haben; genau genommen, sollte man sie totschlagen.«
Es war das eine Bemerkung ins Blaue hinein, aber sie brachte ihn auf einen Gedanken ... es konnte ja nichts geschehen, was nicht diese Folge hatte.
»Was ich eigentlich wollte, Hawkins, war, nach der Familie schicken und ihr die Neuigkeit mitteilen.«
»Oh, dazu brauchst du die Dienerschaft nicht, ich will sie herunterholen.«
Während er fort war, verfolgte der Lord seinen soeben gefaßten Gedanken.
»Ja,« sagte er zu sich selbst, »wenn ich die Materialisation einmal mit Sicherheit beherrsche, werde ich Hawkins veranlassen, sie zu töten, dann werden sie unter strengerer Aufsicht stehen. Ohne Zweifel könnte ein materialisierter Neger gleich durch Hypnotisieren in einen Zustand versetzt werden, der dem Schweigen ähnlich ist, und dieser könnte dauernd gemacht und nach Belieben auch geändert werden ... manchmal ganz still, manchmal etwas gesprächiger, tätiger, beweglicher, wie man es eben braucht. Das ist ein ausgezeichneter Gedanke; man muß die Sache nur anzufassen wissen; nun, ich denke, mit einer Schraube oder dergleichen wird es sich machen lassen.«
Die beiden Damen traten mit Hawkins ein, die beiden Neger folgten und fingen an im Zimmer umher abzustäuben und zu bürsten, denn sie merkten wohl, daß etwas Besonderes vorging, und wollten gern herausfinden, was es war.
Sellers verkündigte die Nachricht mit Würde und Feierlichkeit, die Damen erst mit sanftem Wort vorbereitend, daß ihren Herzen ein besonders empfindlicher Schmerz bevorstehe, den Herzen, die noch an einer ähnlichen Wunde litten; dann ergriff er die Zeitung, und mit zitternden Lippen und tränenerstickter Stimme entrollte er vor ihnen das Gemälde des Heldentodes.
Die Hörer zeigten sämtlich aufrichtige Trauer und Anteilnahme. Die ältere Dame weinte, als sie sich sagte, wie stolz die Mutter dieses jungen Helden sein müßte, wenn sie noch lebte, und wie grenzenlos ihr Schmerz; die beiden alten Diener weinten mit ihr und drückten Lob und Mitleid mit der so beredten Aufrichtigkeit und Einfachheit aus, die ihrer Rasse angeboren ist. Gwendolin war gerührt, und die romantische Seite ihres Charakters war lebhaft erregt. Sie sagte, eine Natur wie die des jungen Mannes sei an sich schon wahrhaft edel und fast vollkommen zu nennen, vereint mit dem Adel der Geburt aber ganz vollkommen. Für einen solchen Mann könnte sie alles ertragen, alles leiden, selbst das Opfer ihres Lebens bringen. Sie wünschte, es wäre ihr vergönnt gewesen, ihn zu sehen; die leichteste, kürzeste Berührung mit solch einem Geist würde ihren eignen Charakter veredelt und ihr fernerhin unedle Gedanken und Handlungen unmöglich gemacht haben.
»Hat man den Körper gefunden, Roßmore?«
»Ja ... das heißt, man hat deren mehrere gefunden; einer davon muß der seinige sein, aber sie sind alle unkenntlich.«
»Was willst du tun?«
»Ich werde mich sogleich nach der Brandstätte begeben, einen von den Toten identifizieren und ihn dem schwergetroffenen Vater nach England senden.«
»Aber, Papa, hast du denn den jungen Mann jemals gesehen?«
»Nein, Gwendolin; weshalb?«
»Wie willst du denn die Identität feststellen?«
»Ich ... nun, siehst du, da sie alle unkenntlich sind, werde ich seinem Vater einen davon schicken; es bleibt wohl keine andre Wahl.«
Gwendolin wußte, daß es nicht der Mühe wert sein würde, weiter über die Sache zu reden, da ihr Vater entschlossen war und sich für ihn die Aussicht bot, auf dem Schauplatz der Trauer in amtlicher Eigenschaft und gebietend zu erscheinen. Sie sagte deshalb kein Wort weiter, bis ihr Vater einen Korb verlangte.
»Einen Korb, Papa, wozu?«
»Er ist vielleicht nur noch Asche.«