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Keine Antwort auf das Telegramm kam an und keine Tochter; doch niemand äußerte darüber Unruhe oder Erstaunen, niemand außer Washington. Nach drei Tagen des Wartens fragte er Lady Roßmore, was sie für die Ursache dieses Zögerns halte. Sie antwortete vollkommen ruhig:
»Oh, das ist irgendein Einfall von ihr; man kann das nie wissen; sie ist durch und durch eine Sellers, wenigstens in manchen ihrer Launen, und ein Sellers kann nie vorher sagen, was er tun wird, weil er es selbst nicht weiß, bis er es getan hat. Es wird schon alles in Ordnung sein mit ihr, ich sehe keine Ursache, sich ihretwegen zu beunruhigen. Wenn sie bereit ist, wird sie kommen oder schreiben, man kann nicht wissen, welches von beiden, bis es geschehen ist.«
Es ergab sich diesmal, daß es ein Brief war. Er wurde soeben abgegeben und von der Mutter ohne Zittern der Hände oder eines der Zeichen fieberhafter Aufregung in Empfang genommen, die im Fall lange verzögerter Antworten auf dringende Telegramme gewöhnlich zutage treten. Sie wischte ihre Brillengläser ruhig und sorgfältig ab, während dessen gemütlich weiter plaudernd; dann öffnete sie den Brief und las laut:
»Kenilworth-Keep, Redgauntlet-Hall.
Rowena, Ivanhoe College, Donnerstag.
Liebe teure Mama Roßmore!
Oh, welche Freude! Du kannst es Dir gar nicht vorstellen. Du weißt, sie hatten immer die Nasen gerümpft über unsre Ansprüche, und ich hatte das so gut als möglich durch ein Nasenrümpfen über ihren Dünkel erwidert. Sie sagten, es wäre in der Tat etwas Schönes und Großes, der rechtmäßige Schatten einer Grafenfamilie zu sein, aber bloß der Schatten eines Schattens und noch dazu im zweiten oder dritten Grade, ah bah! Ich entgegnete jedesmal: nicht im stande zu sein, vier Generationen amerikanischen Kolonial-Krämer-Pfeffer- und Salz-Sack-Adels aufzuweisen, möge erträglich sein, aber eine solche Abstammung eingestehen müssen – pfui, pfui! Und nun das Telegramm! Es wirkte geradezu wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Der Bote kam geradeswegs in die große Rob-Roy-Empfangshalle, so aufgeregt wie nur möglich, und rief aus: ›Depesche für Lady Gwendolin Sellers!‹ Nun hättest Du sehen sollen, wie diese zimperliche, schnatternde Versammlung von Talmi-Aristokraten zu Stein erstarrte. Ich saß abseits im Winkel, natürlich, dahin gehört ja Aschenbrödel. Ich nahm das Telegramm, las es und versuchte in Ohnmacht zu fallen – ich würde es wirklich getan haben, wenn ich vorbereitet gewesen wäre, aber es kam ja alles so plötzlich – doch gleichviel, ich tat das nächste beste, ich hielt mein Taschentuch vor die Augen und entfloh schluchzend nach meinem Zimmer, das Telegramm im Hinauseilen fallen lassend. Mit dem einen für einen Augenblick nur halb verhüllten Auge konnte ich gerade sehen, wie die Herde sich auf das Telegramm stürzte, dann setzte ich meine verzweifelte Flucht fort, glücklich wie ein Vogel.
Nun begannen die Kondolenzbesuche, und ich mußte das Anerbieten von Miß Augusta Templeton Ashmore Hamilton, mir ihr Zimmer zu überlassen, annehmen, denn das Gedränge war groß, und in dem meinigen ist nicht einmal für drei Personen und eine Katze Platz. Seitdem habe ich mich in Trauer zurückgezogen und mich gegen alle Versuche, Verwandtschaft geltend zu machen, ablehnend verhalten. Und denke Dir nur, die erste, die ihre Tränen und ihr Beileid bei mir zu Markte brachte, war das alberne Skimpertonmädchen, die mich immer so schmachvoll behandelte und den Vorrang vor dem ganzen College beanspruchte, weil einer ihrer Vorfahren zu irgendeiner Zeit ein Mc Allister gewesen war. Aber rate, welches mein größter Triumph war! Doch das wirst Du Dir nie denken können. Das war es: Die kleine Närrin und zwei andre haben sich schon immer darum gestritten, wer von ihnen durch den Rang zum Vortritt berechtigt sei. Sie sind dabei fast verhungert, jede nahm das Recht in Anspruch, beim Verlassen des Tisches die erste zu sein, und so wurde keine mit dem Mittagessen fertig, sondern stand schon früher auf und bemühte sich, den andern zuvorzukommen. Nachdem der erste Tag meiner Trauer und Zurückgezogenheit vorüber war – ich richtete während dieser Zeit mein Trauerkleid her – erschien ich wieder an der Mittagstafel, und da ... was meinst Du wohl, was geschah? ... Die drei halbflüggen Gänschen blieben ganz zufrieden sitzen und stillten den lange ertragenen Hunger, löffelten und löffelten, kauten und kauten, aßen und aßen in einem fort, bis ihnen die Augen übergingen, und warteten demütig, daß Lady Gwendolin den Vortritt nehme und zuerst hinausgehe.
Ja, ich habe gute, prächtige Tage gehabt. Und Du mußt wissen, nicht eine der Schülerinnen des Colleges ist so grausam gewesen, mich zu fragen, wie ich denn zu dem neuen Namen komme. Bei einigen war das Nächstenliebe, bei andern nicht. Sie enthielten sich einer solchen Frage nicht aus angeborener Gutmütigkeit, sondern aus anerzogener Diskretion. Ich habe sie so erzogen.
Sobald ich alles geordnet habe, was von alten Rechnungen noch zu begleichen ist, und noch einiges von diesen so angenehm berauschenden Weihrauchwolken eingesogen habe, werde ich packen und heimwärts ziehen. Sage Papa, daß ich ihn ebensosehr liebe wie meinen neuen Namen, stärker kann ich es nicht ausdrücken. Welch herrliche Eingebung war es von ihm, aber die kommen ihm ohne alle Schwierigkeiten.
Deine Dich liebende Tochter
Gwendolin.«
Hawkins streckte die Hand nach dem Brief aus und überflog ihn.
»Eine gute Handschrift,« sagte er, »voll Leben und Sicherheit, mit kühnem, geradem Zug. Sie ist gescheit, das sieht man deutlich.«
»Oh, die Sellers sind alle gescheit, wenigstens würden sie es alle sein, wenn es deren noch mehr gäbe. Selbst diese armen Lathers würden gescheit gewesen sein, wenn sie zu den Sellers gehört hätten, ich meine zu dem Vollblut. Sie hatten schon einen Sellersschen Zug in sich, einen bedeutenden Zug noch dazu, aber ein gemischter Wein ist eben doch kein echter Wein.«
Am siebenten Tag nach der Absendung des Telegramms kam Washington etwas träumerisch zum Frühstück herunter, wurde aber plötzlich vollständig wach durch einen elektrischen Schlag angenehmster Art. Da saß das schönste junge Geschöpf, das er in seinem Leben erblickt hatte. Es war Sally Sellers, Lady Gwendolin; sie war in der Nacht angekommen. Auch ihr Anzug schien ihm der hübscheste und zierlichste von allen, die er je gesehen, so außerordentlich geschmackvoll hergerichtet und zusammengestellt in bezug auf Besatz, Ausputz und harmonische Farbenverschmelzung. Es war nur ein Morgenkleid und durchaus nicht kostbar, aber er sagte sich in der zu Cherokee-Strip gebräuchlichen Sprache, daß es »brillant« sei. Nun war es ihm auch erklärlich, weshalb die Armseligkeit und Nacktheit der Sellersschen Häuslichkeit doch das Auge erfreuen und den Sinn befriedigen konnte; das war die Zauberin, die hier inmitten ihres Werkes saß und durch ihre Person dem ganzen den gehörigen Nachdruck und die höchste Vollendung verlieh.
»Meine Tochter, Major Hawkins, die nach Hause gekommen ist, um mit uns zu trauern, nach Hause geeilt, um den Urhebern ihres Daseins die Last des Verlustes tragen zu helfen. Sie war dem verstorbenen Lord sehr zugetan, sie verehrte ihn, sie vergötterte ihn.«
»Aber, Vater, ich habe ihn ja nie gesehen.«
»Das ist wahr, du hast recht, ich meinte jemand anders, oder – deine Mutter.«
»Ich hätte diesen geräucherten Schellfisch vergöttert, diesen sentimentalen, unnützen – –«
»Ich dachte an meine eignen Empfindungen! Armer, edler Mensch; wir waren unzertrennliche Gef...«
»Nun höre einer den Mann! Mulberry Sel ... Roßmore, der Kuckuck hole den langweiligen Namen, ich werde nie ...; ich habe dich nicht einmal, nein, tausendmal sagen hören, daß, wenn das arme Schaf ...«
»Ich meinte den ... ich weiß nicht mehr, wen ich meinte, aber das macht gar keinen Unterschied, irgend jemand vergötterte ihn, ich erinnere mich dessen, als ob es gestern gewesen wäre und –«
»Vater, ich reiche einstweilen dem Major Hawkins die Hand, die Vorstellung mag immerhin ihren Fortgang nehmen und nach Belieben beendigt werden. Ich erinnere mich Ihrer sehr wohl, Major Hawkins, obgleich ich ein kleines Mädchen war, als ich Sie zum letzten Male sah, und ich freue mich ganz außerordentlich, Sie wiederzusehen und Sie als einen der Unsrigen hier im Hause zu haben.« Ihm zulächelnd, beendigte sie den freundschaftlichen Händedruck, indem sie die Hoffnung aussprach, daß auch er sie nicht vergessen habe.
Er war im höchsten Grade erfreut über ihre rückhaltlose Herzlichkeit und wünschte dieselbe zu erwidern, indem er ihr versicherte, daß er sich ihrer erinnere, nicht nur so obenhin, sondern besser als seiner eignen Kinder; nur wollten die Tatsachen das nicht ganz bestätigen; immerhin brachte er mit Ach und Krach einen verwickelten Satz zustande, welcher dem Zweck einigermaßen entsprach, da der Inhalt ein ungeschicktes und unwillkürliches Geständnis war, daß ihre außerordentliche Schönheit ihn aus der Fassung gebracht hätte und er folglich nicht sicher wäre, ob er sich ihrer überhaupt erinnerte oder nicht. Diese Rede machte ihn zu ihrem Freunde, wie es ja gar nicht anders sein konnte.
Die Schönheit dieses jungen Mädchens war in Wahrheit von seltener Art, und es mag daher wohl zu entschuldigen sein, wenn wir ihrer Betrachtung eine Minute unsrer Zeit widmen. Diese Schönheit bestand nicht in der Tatsache, daß Gwendolin Augen, eine Nase, einen Mund, ein Kinn, Haar und Ohren hatte, sie bestand vielmehr in der besonderen Anordnung aller dieser Gegenstände. Bei wirklicher Schönheit kommt es mehr auf die richtige Stellung und vorteilhafte Verteilung der Züge an als auf ihre Mannigfaltigkeit; ebenso ist es in bezug auf die Farben. Dieselbe Farbenzusammenstellung, die bei einem vulkanischen Ausbruch einer Landschaft Schönheit verleihen kann, kann diese einem Mädchen nehmen. So war es in Gwendolin Sellers' Fall. Da der Familienkreis durch die Ankunft der Tochter vollzählig geworden war, wurde beschlossen, daß die offizielle Trauer nun zu beginnen habe, und zwar sollte sie diesen Abend um sechs Uhr (die Stunde des Mittagsmahles) beginnen und mit dem Mahle zu Ende gehen.
»Es ist eine vornehme, alte Linie, eine stolze Linie, Major, und verdient, daß man um sie trauere; fast königlich, beinahe kaiserlich, möchte ich sagen. Lady Gwendolin – ah, sie ist nicht mehr hier – nun gleichviel, ich wünschte meine Adelsliste, ich will sie gleich selbst holen und dir einiges zeigen, was dir einen Begriff davon geben kann, was unser Haus ist. Ich habe Burk studiert und gefunden, daß von Wilhelm des Eroberers vierundsechzig natürlichen – oh, meine Liebe, würdest du wohl die Güte haben, mir dieses Buch zu holen? Es liegt auf dem Schreibtisch in unserm Boudoir. Ja, wie gesagt, nur die St. Albans, Buccleugh und Grafton kommen vor uns in der Liste, alle übrigen britischen Adelsfamilien kommen nacheinander hinter uns. Ah, ich danke, Mylady. – Also jetzt zu Wilhelm, wo wir finden – ah, ein Brief für X. Y. Z. Ah, herrlich – wann hast du ihn erhalten?«
»Gestern abend; aber ich schlief schon, als du nach Hause kamst, du bliebst so lange aus, und heute beim Frühstück habe ich über Gwendolin alles andre vergessen.«
»Ein herrliches Mädchen! Ihre hohe Abstammung zeigt sich in ihrem Gang, ihrer Haltung, ihren Zügen. – Aber was schreibt er? Rasch, ich bin gespannt.«
»Ich habe es noch nicht gelesen – ahem – Roß– Mr. Roßm– –«
»Mylord, sage nur kurz so, wie es in England Sitte ist. Ich will den Brief öffnen, so, nun werden wir ja sehen.«
»An: Du weißt wen. Ich glaube, ich kenne Dich.
Warte zehn Tage; komme nach Washington.« –
Die Aufregung schwand aus den Zügen der beiden Männer. Ein kurzes, banges Schweigen herrschte; dann sagte der jüngere mit einem Seufzer:
»Ja, wir können nicht zehn Tage auf das Geld warten.«
»Nein, der Mann ist unvernünftig; wir sitzen, finanziell genommen, auf dem Trockenen.«
»Wenn wir ihm in irgendeiner Weise erklären könnten, daß in unsrer Lage die Zeit für uns von äußerster Wichtigkeit ist.«
»Ja ja, ganz richtig – und daß, wenn es ihm ebenso gelegen sei, gleich zu kommen, es für uns ein großer Vorteil sein würde, den wir auch – –«
»Den wir auch – den –«
»Nun ja, den wir auch dankbar anerkennen würden.«
»Ja wohl, und für den wir uns mit Vergnügen erkenntlich zeigen –«
»Gewiß, damit werden wir ihn schon kriegen. Schreiben wir so, dann wird er, vorausgesetzt, daß er ein Mann ist und die Gefühle eines solchen, Teilnahme, Sympathie und alles das besitzt, binnen vierundzwanzig Stunden hier sein. Schnell Papier und Feder, wir wollen gleich dazu tun.«
Sie verfaßten zusammen zweiundzwanzig verschiedene Anzeigen, aber keine davon war ganz befriedigend ausgefallen. Der Hauptfehler in allen war die Dringlichkeit. Dieser Zug war sehr beunruhigend, wenn er zu sehr hervortrat; er war dazu angetan, Peters Verdacht zu erregen, und unter den Verdachtspunkt herabgemildert, war er nichtssagend und nutzlos. Endlich gab es der Oberst auf und sagte:
»Ich habe bei meinen literarischen Erfahrungen die Bemerkung gemacht, daß es eine der größten Schwierigkeiten ist, seine Absicht zu verbergen, wenn man sich besonders darum bemüht, sie geheim zu halten. Dagegen wenn man mit freiem Gewissen und ohne etwas verbergen zu wollen der Schriftstellerei sich hingibt, man zu jeder Zeit ein Buch herausbringen kann, das sogar die Auserwählten nicht begreifen. – So machen's alle.«
Dann gab auch Hawking die Sache auf, und beide kamen überein, daß sie es in einer oder der andern Weise ermöglichen müßten, die zehn Tage noch zu warten. Bald aber zeigte sich ihnen noch ein Hoffnungsstrahl: da sie nun auf etwas Sicherem fußen konnten, würden sie wohl auf die zu erwartende Belohnung hin Geld borgen können – auf jeden Fall genug, um sie über Wasser zu halten, bis sie jene wirklich bekamen; und indessen würde das Verkörperlichungsrezept zur Ausführung gelangen und damit jeder Sorge und Verlegenheit für immer der Abschied gegeben werden.
Am nächsten Tage, den 10. Mai, geschahen unter andern ein paar bemerkenswerte Dinge. Die Überreste der Arkansaszwillinge verließen die Küsten Amerikas, um nach England an Lord Roßmore abzugehen, und Lord Roßmores Sohn, Kirkendbright Llanover Marjoribanks Sellers, Lord Berkeley, segelte von Liverpool aus nach Amerika ab, um den Verzicht auf die Grafschaft niederzulegen in die Hände des rechtmäßigen Lords Mulberry Sellers von Roßmore-Kastell im Distrikt Columbia, Vereinigte Staaten von Nordamerika.
Diese beiden bedeutungsvollen Schiffsladungen sollten sich fünf Tage später mitten auf dem Atlantischen Ozean begegnen und wieder trennen, ohne sich ein Zeichen zu geben.