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20. Eine Taufe.

Danke Gott, daß Du nicht den Blick eines Sehers empfangen hast.

Kommerzienrat Hans Hermann Halm litt um diese Zeit unter einem Kummer, der noch viel tiefer war, als er sich seinem einzigen Vertrauten, dem Buchhalter Stenmann gegenüber mit einigen flüchtigen Worten hatte merken lassen. Sein ältester Sohn John, der Stolz des Vaters und der Firma, war Schritt für Schritt dem Abgrund des Verderbens immer näher gekommen. Jeder Brief aus dem Londoner Hause, an dessen Comptoir John arbeitete, hatten immer peinlichere Mitteilungen gebracht. Aus dem letzteren ging hervor, daß John das Comptoir verlassen und zugleich einen falschen Wechsel mit des Vaters Accept ausgefertigt hatte. Das Haus hatte ihn indessen, um die Ehre des Namens zu retten, ausbezahlt. Das Geheimnis war wohl verwahrt; zu Hause wußte kein Mensch davon, aber es hatte des Vaters Herz zerrissen und alle andern Gedanken in den Hintergrund gedrängt.

Aber ein Trost war ihm doch geblieben – dieser kleine Knabe, den die Vorsehung ihm nun als Ersatz für den verlorenen Sohn gesandt hatte, sollte die ganze Liebe erben, die bisher auf den älteren Bruder verschwendet worden war; er sollte einmal das Haupt der Familie und der Firma werden. Deshalb mußte der Segen schon über seine Wiege kommen, deshalb mußte bei der Taufe dieses Kindes die Gnade von oben erkauft werden, was es auch kostete, reiche Gaben, Fürbitten der Witwen, Anerkennung eines unglücklichen, verachteten Bruders … schließlich auch die Fürbitte der Brudertochter Lisu. Denn in Hans Halms Herzenskomptoir fand sich zuweilen, wenn die Geschäfte schwiegen, ein geheimnisvoller, lang vergessener Kreditor, der im Debet und Kredit der Comptoirbücher nicht ausgeschrieben war, und zeugte von einer andern Rechnungsablage als hier auf Erden. Lisu Halm kannte diesen zudringlichen Kreditor; sie allein hatte einen Blick durch die Thür dieser fürchterlichen, unbekannten Welt gethan, wo anders geurteilt und gemessen wird als unter den Menschen. Sie durfte daher nicht fehlen, sie mußte auf dem Taufschein quittieren, damit derselbe ein Leben voller Glück und Segen bringe.

Die gewöhnliche Essenszeit war 1 Uhr mittags; die Kaffeegesellschaft, die nach Sitte und Gebrauch bei einer Taufe sich versammelte, war daher auf drei Uhr geladen. Das reiche Haus, das von einem Luxus strahlte, der bisher in Y…by unbekannt gewesen war, es war bald von Gästen aus dem vornehmsten Umgangskreise der Stadt überfüllt. Man hatte es noch nicht gelernt, diese Feste auf die Familie und die nächsten Freunde zu beschränken; die Stadt ward bei solchen Gelegenheiten als eine große Familie betrachtet, und deshalb konnte keine Hochzeit, keine Taufe, keine Beerdigung ohne Hunderte von Gästen gefeiert werden.

Die junge Frau des Hauses brauchte sich in ihrem reservierten Zimmer um diese gleichgültigen Zuschauer bei dem Eintritt ihres neugeborenen Sohnes in die christliche Gemeinde nicht zu kümmern. Auch sie bat den Segen Gottes auf dieses Kind herab, aber sie wollte ihn nicht kaufen, sondern als ein freies Geschenk der Gnade annehmen.

Der Prediger der Stadt trat, würdig und freundlich mit wohl gesteiftem Priesterkragen, die Agende in seiner Hand, herein. Er pflegte das Taufformular in singendem Ton, der der Menge gefiel, zu verlesen. Er wußte, daß er seine Sache gut machen und auch nicht das geringste Wort auslassen würde. Aber ein Gedanke oder ein Gebet, daß der Name dieses Kindes einmal, wenn der Streit beendigt, in das Buch des Lebens dort oben eingeschrieben werden müsse, fiel dem freundlichen Manne nicht ein. Er hatte viele Hunderte der Kleinen, die dem Reiche Gottes gehören, getauft, und er hatte sie getauft, wie der Portier eines Schlosses die Thür des Palastes für die Unterthanen des Landesherrn öffnet – er selber bleibt draußen vor.

Die junge Mutter konnte ihn durch die halb geöffnete Thür ihres Zimmers sehen. Was ging der Pfarrer sie an? Sie dachte an dieses Kind, das seine Lebenswurzeln in einem reichen Hause schlagen sollte und vielleicht in Armut sterben würde. Solch armer, kleiner Knabe – wickele ihn in die weichsten, mit Spitzen besetzten Windeln, herze und küsse ihn mit der zärtlichsten Liebe, hege und pflege sein mit der eifersüchtigsten Fürsorge – niemand kann einer Mutter sagen, wo und wie er einmal sein sturmbewegtes Leben enden wird … vielleicht begraben weit, weit fort im Sand der Wüste, in den Schneefeldern des Nordpols oder in der unermessenen Tiefe des Oceans. Mutter, Mutter, genieße heute die reinste Freude, welche Dir die Erde schenkt – drücke mit Thränen der Liebe Deinen Liebling an die treue Brust, die für das Glück eines andern Wesens schlägt – male Dir seine Zukunft mit den hellsten Farben aus, von denen die Hoffnung träumen kann, wenn ein menschliches Leben in die Welt geboren ist – aber danke Gott, daß Du nicht des Sehers Blick in die unbekannte Zukunft empfangen hast.

Die Gevattern nahmen ihre Plätze ein. Frau Margarete, die den Neugeborenen zur Taufe trug, stand Konsul Graberg gerade gegenüber – die Handelseifersucht hat mit der Taufe eines Kindes nichts zu thun. Zu ihrer Verwunderung bemerkten die Gäste unter den Gevattern einen den meisten unbekannten hohen und hagern Mann mit gebeugtem Kopf. »Wer ist der?« flüsterte man. »Ein schwedischer Offizier, der in Finnland reist,« vermuteten einige. »Es ist Kommissär Halm«, sagte Kapitän Edvardson leise – sein scharfer Blick hatte sofort den Mann erkannt, der vor vielen Jahren durch die Geschichte mit dem Silberschiff einen häßlichen Verdacht auf sich geladen hatte.

»Der Kommissär?« flüsterten die Zunächststehenden und fragten einander mit Blicken, wie das möglich sei.

»Er ist ja der Bruder des Kommerzienrats« bemerkte der Kapitän kalt.

Die Turmuhr zeigte beinahe auf vier, als die heilige Handlung ihren Anfang nahm. Die vier kleinen Mädchen, von welchen drei schon auf eigenen Füßen standen und das vierte von der Kindermagd getragen ward, sahen mit unschuldiger Verwunderung auf den Pastor, die Taufschale, den kleinen Bruder und die vielen fremden Menschen. Es war klares Frostwetter; die Fenster des Saales lagen gegen Südwest. Die sinkende Januarsonne warf einen goldenen Schein durch die Scheiben. Der Prediger war zu den Worten gekommen: »Entsagst Du dem Teufel und allen seinen Werken?« als ein heller, goldener Sonnenstrahl auf alle Kinder fiel und um das Köpfchen des Neugebornen wie ein strahlender Glorienschein spielte. Im selben Augenblick hörte man einen schweren Fall. Was war das? Weiter nichts als daß der Kommissär Sten Halm umgefallen war.

Es entstand eine allgemeine Verwirrung; der Prediger hörte mitten im Satz auf; man trug den Ohnmächtigen hinaus. Wieder ging ein Flüstern durch den Saal, aber dieses Mal lauter: »Es ist Sten Halm … der Mann mit dem Silberschiff!«

»Ja,« sagte Kapitän Edvardson wieder so kalt, als träte er nur auf einen Wurm zu seinen Füßen, »es ist der Bruder des Kommerzienrats.«

Lisu war aus dem Kreis der Gevattern verschwunden, aber Frau Margarete stand mit dem Kinde auf dem Arme noch immer da. Auch der Pastor blieb an seinem Platz, die Agende in der einen Hand, und die andere im Taufwasser, bis man nach der störenden Unterbrechung zur Ruhe gekommen war. Nun konnte er weiter gehn: »Ich taufe Dich, Sten Otto Johann …«

Die Handlung war zu Ende und ein neuer Mensch in die Gemeinschaft der christlichen Kirche aufgenommen. Der Wirt zeigte sich, wie immer, liebenswürdig und ruhig. Sein Bruder Sten, der sich erst kürzlich in seiner Vaterstadt niedergelassen hatte, litt leider sehr an Ohnmachtsanfällen; man brauche sich nicht zu fürchten, es habe nichts zu bedeuten. Man nahm diese Erklärung als gute Ware an oder that wenigstens so; das reiche Traktament verschloß manchen gesprächigen Mund, aber dessenungeachtet blieb der Kommissär das Thema der Unterhaltung. Wer kannte seine Geschichte? War er es nicht, der, nachdem er zweimal ruiniert gewesen war, immer doppelt reich wieder zurückkehrte? Hatte er nicht zweimal das Land verlassen müssen, weil böse Gerüchte ihn wegtrieben, und war als Wucherer und Menschenhasser wiedergekommen, der sich vor der Welt verbarg und Geister sah? Wie durfte der Kommerzienrat, wie durfte sein so übel berüchtigter Bruder bei solcher Gelegenheit …? Aber der Kommissär war ja auch wieder ein reicher Mann, seine Familie war die Erbin seiner Schätze, und was wagt man nicht um des Geldes willen? Arme und anständige Menschen würden sich so etwas niemals erlauben. Ja, Hans Hermann Halm war ganz gewiß ein sehr geachteter Mann und ein gastfreier Wirt, sein Haus war sehr angenehm … nur zu verschwenderisch ausgesteuert … solche Teppiche, Spiegel, Gemälde, Gardinen … aber von der Familie wußte man sich allerlei zu erzählen. Hochmut kommt vor dem Fall … Und dann tröstete man sich mit dem herrlichen Konfekt, den köstlichen Trauben und Kuchen, scherzte mit den Kindern, war um die Gesundheit der Kommerzienrätin sehr besorgt und trank das Wohl des Neugebornen in Champagner.

»Na, Graberg!« sagte ein dicker Herr aus der Minorität der Bürgerschaft spöttisch, »hat Bruder schon die große Neuigkeit des Tages gehört? die Abgebrannten in X…by haben fünfzigtausend Reichsthaler direkte Staatsunterstützung erhalten und eine eben so große zinsfreie Anleihe, die in zwanzig Jahren amortisiert werden soll. X…by steht wie ein Felsen von Granit, wo es steht.«

»Wohl bekomms,« antwortete Konsul Graberg trocken.

»Die Neuigkeit sollte Bruder dem Wirt des Hauses erzählen,« sagte Kapitän Edvardson. »Das kann man Strohfeuer nennen! Man ist so glücklich, oben Verbindungen zu haben … man legt eine Mine, um einen Konkurrenten in die Luft zu sprengen … die Mine zerspringt unter seinen eigenen Füßen, und der Konkurrent lacht.«

»Ja, das Vergnügen hat unserm Wirt manch harten Thaler gekostet,« sagte der dicke Herr lachend.

Der Wirt, der immer höflich und zuvorkommend war, schien auf die Unterhaltung, mit der man sein Konfekt würzte, nicht zu achten. Die vier lieblichen kleinen Mädchen, die wie Schmetterlinge zwischen den Gästen umherflogen, merkten auch nichts. Selbst die Wirtin in ihrem reserviertem Zimmer lebte in glücklicher Unwissenheit. Sie drückte den Neugeborenen an ihre Brust, wie wenn sie ihn gegen alle bösen Worte, alle Gefahren und alle Versuchungen dieser falschen Welt schützen wollte!

Wer am meisten davon merkte und es sich auch am meisten zu Herzen nahm, war Frau Margarete Halm. Als die Gäste nach dem Thee gegangen waren, nahm sie ihren Schwager, den Kommerzienrat, am Arm und sagte:

»Schwager Sten, warum ludest Du Sten ein?«

»Weil er mein Bruder ist,« antwortete Hans Halm.

»Ja wohl, ja wohl! Accurat dieselben Worte hörte ich sie überall im Saale flüstern. Na, ich sage ja nichts Böses von Schwager Sten; wir sind alle arme, schwache Menschen, aber warum soll man alten Schnee wieder aufgraben? Es fällt auf die Familie zurück, Hans. Und er selber, der Arme, hätte es auch besser gehabt, wenn er den Taufkuchen oben auf seinem friedlichen Zimmer hätte essen können.«

»Ohnmacht, Margarete!«

»Ohnmacht? Willst Du mir das einbilden? Sahst Du nicht, daß die Sonne wie klares Gold auf den Kopf des Knaben schien, als ich ihn vorhielt, und der Pastor seine Hand ins Wasser tauchte, um ihn zu besprengen? Lisu hatte es so klug verstanden, Schwager Sten an alles Gelbe zu gewöhnen, aber nicht an die Sonne, vor der selbst das Gold erblaßt. Weißt Du nicht, was Deine Mutter von Sten Halms Taufe erzählte, als Dein Vater den goldenen Schein über seinem Kopf sah und von Stund an verrückt ward?«

Der Kommerzienrat faßte sie hart an den Arm. »Margarete … mach mich nicht wahnsinnig! Nimm mir nicht das bischen Vernunft, das ich noch habe und das ich wahrlich nicht entbehren kann. Das ist alberner Aberglaube. Laß mich den kleinen Knaben behalten … ich habe vielleicht bald keinen andern mehr.«

Und der sonst so ruhige, klar denkende Geschäftsmann warf sich erschöpft auf einen Stuhl und hielt seine Hand vor die Augen, aus denen ein Thränenstrom herausbrach.

Frau Margaretes gutes Herz war gerührt. »Nein, Hans,« sagte sie tröstend, »kümmere Dich nicht um die dumme Geschichte; sollte Gottes helle Sonne dem Knaben schaden können? Hat die Sonne nicht auch auf die andern lieben Kinder alle geschienen, auf Anna und Lotte, auf Margarete und Lili, als der Prediger sie taufte? Was gehts uns an, was die Menschen schwatzen? War es auch nicht gerade ein glücklicher Gedanke, Sten zur Taufe zu laden, so war es doch hübsch von Dir, daß Du den armen, verachteten Menschen, der doch Dein Bruder ist, an dem Tage in Deinem Hause haben wolltest, das wird Dir Gott noch einmal lohnen, Schwager Hans. Lebe wohl und besten Dank für das Traktament! Ich will nach Hause und sehen, wie es mit ihm steht.«

Der Kommerzienrat saß allein mit der ältesten Tochter auf dem Schoß da, als der alte Stenmann eintrat und einen Besuch anmeldete.

»Morgen, Stenmann; ich bin müde.«

»Es ist Tervola.«

»Ah, bitte ihn eintreten zu lassen.«

In den schönen Saal, in dem der Diener gerade die Lichter des Kronleuchters auslöschte, trat ein junger Mann mit schwankenden Schritten und bleich wie ein Schatten.

»Wie, bist Du das, Tervola? Wie bleich und mager bist Du geworden. Setz Dich. Bist Du krank?«

»Nicht ganz munter, Herr Kommerzienrat!« antwortete der junge Mann, indem er auf einem Stuhl hinsank. »Ich bin lange fortgewesen … habe krank in Wiborg gelegen.«

»Armer Bursche! Du hast wie ein Mann gehandelt … Hast Du viel gelitten?«

»Alle Pferde auf einer Strecke von fünfzehn Meilen waren verliehen. Ich mußte ununterbrochen fünf Nächte reisen … es war kalt … ich muß mich erkältet haben … ward krank, als ich aus dem Wege nach Hause war … der Herr Kommerzienrat hat versprochen, an meine arme Mutter zu denken …«

Er konnte nicht mehr. Ein Blutstrom quoll aus seinem Munde.

»Das fehlte noch!« sagte der Prinzipal mit leiser Stimme. »Otavas Fracht ist teuer geworden. Eine Mutter verliert ihren Sohn und ich habe meinem besten Diener das Leben genommen.«


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