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5. Vetter und Cousine.

Verstand kommt mit den Jahren.

Da der junge Herr Graberg nun solchermaßen, er mochte wollen oder nicht, seine glückliche Unabhängigkeit mit der Ehre, der Beschützer seiner tapferen Tante zu werden, vertauschen mußte, machte er aus der Notwendigkeit eine Tugend, und wollte schon in den Schlitten hineinspringen, um seinen Platz neben der ehrwürdigen Matrone einzunehmen. Aber sein Erstaunen wuchs noch mehr, als die mannhafte Frau ihn zurückdrängte und barsch fragte, was das bedeuten solle.

»Ich glaubte,« antwortete der Jüngling unschuldig, »der Schlitten sei breit genug.«

»Wenn die jungen Herren unsrer Zeit,« sprach die würdige Frau Margarete Halm, »nicht so blind vom Tabaksrauch wären, könnte ein junges Mädchen wohl verlangen, daß sie von ihrem Vetter nicht tot getreten wird. Lisu, gieb Roderik die Hand.«

Ohne Widerrede ward gleich eine Hand mit wollenem Winterhandschuh aus dem Schlitten heraus gegeben und von dem jungen Lars Roderik fast mehr mit Überraschung als mit Freude genommen. Damit der Leser diese Gefühle verstehen kann, müssen wir gleich hinzufügen, daß der Herr Vater, Konsul Graberg, sich ebensosehr über die treue Liebe seines jungen Herrn Sohnes zu seinen Jugendflammen wie über seine plötzliche Neigung, nach Hause zu reisen und Kaufmann zu werden, gründlich täuschte. Es hatte wirklich eine unschuldige Zeit gegeben, während welcher Lars Roderik in seine junge Cousine verliebt gewesen war, aber diese Gefühle waren in der Hauptstadt immer schwächer geworden und ein brennendes Verlangen, sich in der Welt umzusehen und einige Zeit außerhalb des Bereiches natürlicher Kontrolle zu stehen, hatte nun seine jugendliche Seele erfüllt. John Halm war nach England gereist, um die Handelswissenschaft zu erlernen; Lars Roderik Graberg wollte einen ähnlichen Versuch machen, einerlei wie es dann mit der Handelswissenschaft oder mit Lisu Halm würde. Da der junge Student seine Cousine seit mehreren Jahren nicht gesehen hatte, war es verzeihlich, daß ihr Name alte Erinnerungen in seiner Seele erweckte, Erinnerungen an ein kleines, schmächtiges Mädel mit flachsgelbem Haar, an ein Kleid, dem sie entwachsen war, an eine etwas rote Nase und einen Mund, den sie immer voll hatte, entweder von Preißelbeeren oder vom großen Katechismus, Erinnerungen, die für einen jungen Herrn aus der Hauptstadt nicht gerade vielversprechend waren, um so weniger, als er schon vierundzwanzigmal sterblich verliebt gewesen war und noch nicht einmal soviel Lebensweisheit besaß, daß er an eine gute Mitgift nach ihrem wirklichen und klingenden Wert gedacht hatte.

Also reichte Lars Roderik seiner Cousine zwar die Hand, aber er that es mit dem aufrichtigen Vorsatz, so unliebenswürdig wie möglich zu sein, weshalb er ihr auch nach einigen gleichgültigen Worten die kleine Hand mit dem wollenen Handschuh bedeutend härter drückte, als es eigentlich mit der Galanterie eines Kavaliers vereinbar war. Er erwartete vermutlich, daß auch sie ihn wieder drücken würde, denn derartiges war während ihrer kleinen Kämpfe in der Kinderzeit Lisus mehr als einmal geschehen. Nun ließ Lisu den Handschuh fahren und wünschte ihm sanftmütig einen guten Abend, aber mit einer Stimme, in welcher Lars Roderik weder den mütterlichen Baß noch die Stimme des großen Katechismus aus alten Tagen wieder erkennen konnte.

»Lisu ist in Stockholm gewesen,« sagte die Mutter, »aber später, seit dem Herbst, hat sie angefangen, mich auf die Märkte zu begleiten. Ein ordentliches Mädchen muß sich an alles gewöhnen, und aufs Geschäft passen; dazu paßt sie besser als mancher Mann. Das habe ich auch so gemacht, und weil ich nun Lisu habe, denke ich meinen zweiten Buchhalter gehen zu lassen.«

Frau Margarete Halm trieb wie manche andere Kaufmannswitwe ihren eigenen Handel und stand zwischen ihren beiden rivalisierenden Schwägern, Halm und Graberg, vollkommen selbständig da. Auch wußte Lars Roderik sehr gut, daß manche reiche Kaufmannstochter in den nördlichen Städten des Landes noch während der beiden ersten Decennien dieses Jahrhunderts als wirklicher Buchhalter in dem väterlichen Geschäft gute Dienste leistete, im Laden verkaufte, auf dem Markte handelte, die Korrespondenz besorgte und mit dem Vater oder der Mutter zu den Märkten reiste. Um die Zeit, da unsre Geschichte spielt, war diese Sitte allerdings in manchen Städten sehr in Abnahme gekommen, in andern aber hielt sie sich noch immer. Lars Roderik konnte es daher nicht auffallend finden, daß seine Cousine eine Marktreise machte; im südlichen Finnland dagegen hatte man von der Erziehung junger Mädchen andere Ansichten. Ein Amt als Comptoiristin hob Lisu nicht gerade in den Augen des Jünglings, wie Ihre Mutter es vielleicht berechnet hatte. Er machte ihr daher nur ein kurzes Kompliment, in welchem er seine Freude aussprach, daß Lisu »so tüchtig« geworden sei und nahm auf dem Kutschersitz Platz, fest entschlossen, bei erster Gelegenheit auf eigene Rechnung weiter zu fahren und – so drückte er sich in seinen Gedanken aus – die Frau und ihren Buchhalter so viel trompeten zu lassen wie sie wollten. Mit diesem löblichen Vorsatz zündete er sich eine Cigarre an und that, als merke er es nicht, daß der Wind die kräftigen Rauchwolken den Damen gerade ins Gesicht trieb.

Die böse Welt behauptete, Frau Margarete Halm sei selber einmal zwischen dem Magazin und dem Boden mit einer Pfeife im Munde überrascht worden; soviel ist jedenfalls gewiß, daß sie sich durch die Unhöflichkeit ihres Schwestersohnes nicht sonderlich geniert fühlte.

Man erreichte ohne weitere Abenteuer das Wirtshaus von Ruhala und wurde in einem geräumigen Saal einquartiert, in welchem alle Stühle verschiedene Façons hatten und an dessen Wand ein Meisterwerk Jönköpingscher Holzschnittskunst – ein Bild, das »den Giftbaum« darstellte, an welchem statt reifer Apfel Bräutigame hingen – schon seit mehreren Decennien die Bewunderung aller verliebten Reisenden erweckt hatte.

Bei dem hellen Schein des im Kamin brennenden groben Föhrenholzes entpuppten sich nun aus ihren Pelzen drei Nachtschmetterlinge. Ein richtiger Student, zwanzig Jahre alt, mit dunkeln Haaren, gesunder, frischer Gesichtsfarbe, froh und munter, reichlich versehen mit allen Vorzügen des männlichen Geschlechtes, das heißt mit Cigarren und Pistolen, mit einer Peitsche und sorgfältig gepflegtem Schnurrbart, der zu den schönsten Hoffnungen zu berechtigen schien, stampfte auf der Thürschwelle den Schnee von seinen Stiefeln. Eine kolossale Emballage von Mänteln und Tüchern verwandelte sich plötzlich in eine fünfzigjährige Matrone, die selber in ihrer linken Hand die Reisetasche trug, während ihre rechte Hand dem träumerischen Hausknecht einen Puff in den Rücken gab. Eine bedeutend kleinere Erscheinung ward zu einem jungen schönen Mädchen, das der Student nicht ohne Neugierde im feurigen Schein des Kamins zu betrachten anfing. Er erwartete, das fünfzehnjährige Mädel wiederzusehen, die ihn vor drei Jahren bald bezaubert, bald geärgert hatte, aber er fand eine hohe, wohl kräftig gebaute, doch schlanke und reizende Jungfrau von achtzehn Jahren, die ihn mit ruhigen, festen und klugen Augen ansah. »Nicht schlecht für ein Marktfräulein!« dachte er bei sich selber. Aber warum sollte er, ein Gentleman, unnötige Komplimente an sie verschwenden? Er ergriff die Hand seiner Cousine und geruhte mit Kennermiene zu sagen, daß Lisu recht gewachsen und hübscher geworden sei, seitdem er sie zuletzt gesehn, aber er könne nicht begreifen, wessen Tochter sie sei, da die mütterliche Natur sie so mager erschaffen habe.

»Hat keine Not,« antwortete die Mutter. »In Lisus Alter wog ich kaum so viel, wie sie jetzt wiegt, aber Verstand kommt mit den Jahren.«

Lars Roderik schauderte. Also auch sie, die zarte Jungfrau, würde eines Tages achtzehn Liespfund wiegen! Auch sie sollte, in sieben Röcke eingepackt, Butter abwägen, Lachs einsalzen und den Teerbauern am Ladentisch einen Schnaps anbieten. Aber er durfte weder in Lisu noch in ihrer Mutter ungegründete Hoffnungen erwecken, daß er als der ersteren Liebhaber auftreten werde. Er fing daher wieder an, in gleichgültigem Ton von Lisus Onkel, dem Kommissär Sten Halm in Storkyro, zu sprechen, dessen Krankheit so unerwartet die beabsichtigte Marktreise unterbrochen hatte. »Ich habe den Kommissär noch niemals gesehn,« sagte er. »Ein unangenehmer alter Herr, wie man mir erzählt hat. Er soll den Stein der Weisen gefunden haben … er macht Gold.«

»Wer spart, macht aus Feldsteinen Gold,« antwortete die Tante.

»Ja, warum nicht aus grauen Felsen? Es giebt mancherlei Steine: Mauersteine, Schornsteine u. s. w.,« sagte der Student flott. Mein Vater wünscht, auch ich möchte solch einen kostbaren Stein finden. Ich mache ihm lieber eine andere Freude und bringe wieder durch, was er gesammelt hat. Warum sollte er sonst auch sammeln? Aber was hat eine Spinne wie der Kommissär davon, daß er den Stein der Weisen besitzt? Lisu, willst Du Deinen Onkel beerben, so erweise ihm den Liebesdienst und heirate einen liberalen Mann, der das Kapital des Geizigen in Kurs bringt.«

»Jeder Hund kann von dem leben, was andere sich erspart haben,« antwortete Lisu. »Wäre ich ein Mann, ich würde mich schämen, wenn ich nicht selber meines eigenen Glückes Schmied würde.«

»Lisu kann, Gott sei Dank, ihr eigen Brot essen,« sagte die Mutter.

»Und was nennt meine schöne Cousine Glück?« fuhr der Student in demselben ausgelassenen Ton fort. »Vielleicht einen guten Markt?«

Lisu sah ihm fest in die Augen. »Ich nenne es ein Glück, wenn jemand für sein eigenes Wohl und das anderer arbeiten kann,« antwortete sie. »Ich nenne es ein Glück, wenn man ein freier Mensch ist, der weder der Schuldner noch der Sklave eines andern ist und der keinem andern, als Gott, etwas schuldig ist. Aber ich nenne es eine Schmach und ein Unglück, seiner Lüste Wetterhahn und ein Grashüpfer froher Tage zu sein.«

Der Student sah sie lange und überrascht an und fing dann an zu flöten. Nach einer Weile fragte er: »Ists wahr, daß der Kommissär Geister sieht?«

»Dummheit!« sagte die Tante.

Man hatte Kaffee bestellt; die Magd kam mit einem sehr schlechten Präsentierteller herein, auf welchem verschiedene Tassen Kaffee standen, die Tasse zu zwei Schillingen, falls er den Reisenden nicht zu teuer war. Es ward neues Holz in den Kamin gelegt. Frau Margareta Halm nahm so viel Sahne in ihre Tasse, daß der Kaffee überlief, trank aus der Untertasse und genoß recht die glückselige Ruhe, wie man sie nur dann fühlt, wenn man nach einer Reise in nächtlichem Schneesturm den Friedenshafen erreicht hat.


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