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Nur sechzehn Mann schlagen ihn weg, nicht weniger.
Wer schon auf der gewöhnlichen Landstraße nördlich von Tavasthaus gefahren, und nicht links nach Tammerfors abgegangen ist, wird sich ohne Zweifel der großen, öden Heide erinnern, die über einen bedeutenden Teil von Orihvesi und Ruovesi gleichsam eine feste Mauer von Sand und Felsen zwischen den großen, weit verzweigten Seen Näsijäroi, Ruorehvesi und Längälmenvesi bildet. Die umliegende Gegend ist romantisch oder wild, wenn man's so nennen will; gewaltige Bergeshöhen umgeben die Ufer der Seen, während dunkle, von der Axt nur wenig berührte Tannenwälder ihre Schatten in den stillen Wassern wiederspiegeln. Wie gewöhnlich führt der uralte Weg bis in die jüngste Zeit hinein alle Felsenspitzen hinauf und durch alle Thäler und Schluchten hindurch, weshalb jene Gegend von den Reisenden immer als eine schwierig und gefährlich zu passierende angesehen worden ist. Erst in unsern Tagen hat man, da man vielen armen, hungernden Menschen Arbeit verschaffen wollte, einen sehr vernünftigen Gedanken ausgeführt und den Weg um die passierbarsten Berge in Ruovesi gelegt oder gar die letzteren durchgraben. Ganz gewiß werden gefühlvolle Reisende dadurch manche schöne Aussicht verlieren, aber freilich reist man auch um so viel sicherer und bequemer.
Durch die eigentliche Heide, die eine kleine halbe Meile nördlich von der Orihvesier Kirche beginnt und noch weiter nach Norden auf einer Strecke von ungefähr drei schwedischen Meilen von der Landstraße durchschnitten wird, zieht sich ein wilder Bergrücken, wo der Weg gerade nördlich von dem einsam gelegenen Wirtshause Kallenautio mitten durch die Heide über den berüchtigten »Pahawirsta« geht.
Im übrigen wird dieselbe nur ausnahmsweise von Hügeln und Bergesschluchten unterbrochen, da sie größtenteils ein flaches und hartes Heideland ist, das bisher allen Versuchen, kultiviert zu werden, getrotzt hat.
Fast mitten auf der Heide und ganz in ihrem Stil findet sich ein merkwürdiger Platz, und selten widerstehen Studenten und fahrende Schüler, die hier im Sommer vorüberziehen, der Versuchung, vom Wagen zu steigen und eine halbe Stunde ihrer kostbaren Zeit zu verlieren. Der Ort ist bekannt unter dem Namen »Ryövärin ruoppi« oder »die Räuberhöhle«; sie liegt rechts vom Wege, wenn man von Süden her kommt, einige Schritt südlich vom zehnten Werststein vom Wirtshause Ruhela. Wer den Ort nicht kennt, fährt leicht an demselben vorüber, ohne etwas anderes zu bemerken als die hohen, dichten Tannenwälder, die den Weg zu beiden Seiten einrahmen; steigt man aber vom Wagen ab, so findet man unmittelbar am Wege, und halb von Tannen umgeben, einen schaurigen Abgrund, der von den Wänden einer Felsenschlucht und den über dieselbe herabhängenden Zweigen so sehr überschattet ist, daß es drunten im Grunde der Höhle ganz finster ist und selbst an den heißesten Sommertagen erquickend kühl. Hier, so erzählt die Tradition, haben die Räuber ihren Aufenthaltsort gehabt und den Reisenden aufgelauert; mancher, der seine Waren zum Markt bringen wollte, hat hier alles den Räubern lassen müssen, während andere, die mit voller Börse vom Markt zurückkehrten, ihres Geldes beraubt wurden, und oft sah die braune Heide wohl dort am Rande des Weges unschuldig vergossenes Blut. Die Räuber konnten sich ja, sicher vor Verfolgungen, in die tiefen Schluchten und Thäler zurückziehn, die sich von »Ruövärin ruoppi« weit in den großen Wald erstrecken.
Eines Abends, es war in der ersten Hälfte des Dezember im Jahre 182– raste ein furchtbarer Schneesturm in dieser Gegend. Der Winter hatte sich früh eingefunden, so daß man schon im November die herrlichste Schlittenbahn hatte. Eines solchen Schneetreibens aber, wie es jetzt war, und gar um diese Jahreszeit, erinnerten sich nur wenige, und es ist in den Chroniken des Landes angeführt, daß der Tammerforser Markt, der gerade in die Zeit hineinfiel, dadurch großen Abbruch erlitt, nicht zu reden von all den Beschwerden, welche diejenigen über sich ergehen lassen mußten, die von nah und fern zum Markte zogen.
Bei diesem Kampf der Elemente war die gewaltige Heide furchtbar wild. Der Sturm heulte in den hohen Föhren; wirbelnde Schneewolken hüllten ihre dunkeln Kronen in einen weißflatternden Flor. Hie und da hörte man ein Krachen, das auch das Heulen des Schneesturms übertönte; das war einer von den Riesen des Waldes, der vielleicht vor vielen Sommern vom Waldbrand versengt war, und dessen zwei- oder dreihundertjähriger, halbverkohlter Stamm nun plötzlich vor der Gewalt des Sturmes zerbrach. Und zwischen diesem Krachen, bald nah, bald fern, und mitten in dieser unübersehbaren Wüste, wo die Elemente ungezähmt raseten und, so schien es, kein lebendes Wesen bei sich dulden wollten, hörte man dann und wann ein Schreien, wie wenn Kinder in großer Not um Hilfe rufen. Das war der Wolf, der überrascht von dem frühen Winter, heulend umherschwärmte, um einen verlaufenen Hund auf der Landstraße zu erhaschen oder möglicherweise in den Dörfern des ebenen Landes eine fettere Beute zu finden.
Der Weg durch die Heide war bald ganz verschneit und fast unfahrbar, und als nun auch noch das Dunkel des Weihnachtsmonats, das durch das Schneetreiben noch vermehrt ward, dem kurzen Tag schnell ein Ende machte, wurde die Gegend um die Räuberhöhle in der That so abschreckend, daß es keiner Traditionen von Raub und Mord bedurfte, um furchtsame Wanderer abzuschrecken, diese Straße zu ziehen.
Um so mehr mußte es daher überraschen, daß man noch spät am Abend und bei solch grimmigem Schneewetter von Norden her den Klang von Schellen sich dieser berüchtigten Gegend nähern hörte. Es war nicht der rasche, muntre Ton, der so lustig an einem kalten und mondhellen Winterabend durch die frostklare Luft ertönt; vielmehr konnte man aus den langsamen und melancholischen Tönen der Schellen, die oft unterbrochen wurden und hie und da ganz zu verstummen schienen, schließen, daß der Schlitten sich nur mühsam, holperig und schwerfällig vorwärts bewegte, und diese Vermutung hatte auch wegen des Zustandes, in welchem sich die Wege während des Schneesturmes befanden, sehr viel Wahrscheinliches für sich.
Der Schellenklang näherte sich indessen mehr und mehr, und ein herumschleichender Wolf – denn andere Zuschauer gab es augenblicklich nicht bei der Räuberhöhle – würde allmählich die Umrisse eines sogenannten Kojureki haben entdecken können, d. h. eines mit Bastmatten bedeckten Schlittens, so wie sie in dem nördlichen Teil des Landes gebraucht werden. Dieses Fahrzeug, dessen Mangel an Schönheit durch seine Größe und Bequemlichkeit genügend ersetzt ward, bahnte sich durch die hohen Schneeschanzen mühsam den Weg. Es wurde von einem einzigen Pferd gezogen und von einem Kutscher geführt, der neben dem Schlitten herging und bis zu den Armen hinauf im Schnee watete. Dann und wann mußte das Pferd stehen bleiben, so müde war es, und in solchem Fall unterließ der Kutscher es nicht, mit seinen breiten Schultern den Schlitten aus dem Schnee empor zu heben. Dann ging's vorwärts, aber nur etwa fünfzig bis hundert Schritte weiter, und wieder versank er in noch tieferen Schnee und mußte mit noch größerer Anstrengung wieder in Bewegung gesetzt werden. Man mußte es anerkennen, daß der Kutscher sich eben so wenig wie das Pferd schonte, während ein kleiner Bursche, in einen Schafspelz gehüllt, auf dem Kutschersitz zusammengekauert saß. So ging es mit finnischer Zähigkeit, die hier allerdings nötig war, wenn man nicht eine lange Winternacht in dem Schnee der unwirtlichen Heide bleiben wollte, eine Stunde vorwärts.
Da, wo die Reisenden sich nun befanden, hatten sie das Wirtshaus Ruhala eine Meile hinter sich und die nächste Station Kallenautio eben so weit vor sich. Die Aussicht, ein schirmendes Obdach in dem immer schrecklicher werdenden Wetter zu finden, war um so geringer, als in der öden Gegend nicht die geringste Hütte oder irgend eine menschliche Wohnung zu entdecken war. Mit unerschütterlicher Ruhe und einer Resignation, wie sie die Situation erforderte, kämpfte der Kutscher sich weiter, bis ein neues und unüberwindliches Hindernis ihm alle Hoffnung nahm, auch nur einen Schritt vorwärts zu kommen.
Eine jener riesigen Föhren, die ihre stolze Krone vor dem Sturm hatte beugen müssen, war quer über den Weg gefallen, und der Schnee hatte dann über den Zweigen und dem Stamm eine so hohe Mauer gemacht, daß man ganz unmöglich vorwärts kommen konnte. Nachdem sich der Kutscher davon überzeugt hatte, daß der Weg an den Seiten der Schneemauer ebenso undurchdringlich war, wie über dieselbe weg, gab er alle weiteren Versuche auf und schlug mit phlegmatischer Ruhe Feuer, um sich seine Pfeife anzuzünden.
Aus dem Innern des Schlittens hörte man nun eine barsche Stimme, die ungeduldig auf finnisch fragte, was das bedeuten solle. Der Mann, der das wichtige Amt eines Kutschers bekleidete und vermutlich der Ansicht war, daß alles Reden vom Übel sei, fuhr fort, mit seinen erfrorenen Fingern Feuer zu schlagen; da aber der Feuerschwamm nicht recht trocken war, mußte die Stimme drinnen ihre Frage wiederholen.
»Isak – warum fährst Du nicht, Mensch?«
Der Fuhrmann hatte nun endlich Feuer gefangen und der Kutscher rauchte mit wahrer Freude einige tüchtige Züge aus der Pfeife, zog dann seine Handschuhe von Hundefell an, ging zur Thür des Schlittens und antwortete ruhig: »Weil der Weg versperrt ist.«
»So gieb dem Luder die Peitsche und schlag es vom Wege ab!« fuhr die Stimme im Schlitten fort, offenbar des Glaubens, daß ein Tavastländer mit seinem Wagen den Weg versperrt habe und nicht ausweichen wolle.
»Nur sechzehn Mann schlagen ihn weg, nicht weniger!« antwortete der Kutscher im selben Ton.
Neugierig, was für ein Tavastländer Vieh es sein möchte, kam ein dicker Kopf aus dem Schlitten heraus, der so vorsorglich in eine gewaltige graue Kaputze eingehüllt war, daß man, falls es etwas heller gewesen wäre, vom Besitzer der Kaputze kaum mehr als eine große rotgefrorene Nase gesehen haben würde. »Ich kann nichts sehen,« sagte der dicke Kopf, der die weiße Schneemauer vor dem Schlitten nicht erkennen konnte.
»Glaub's schon,« antwortete der Kutscher, noch immer gleich phlegmatisch.
»Dann fahr zu!« sagte die Stimme aus der grauen Kaputze in weniger befehlendem Ton.
Auf diese erneute Aufforderung zu antworten, schien der Kutscher nicht für der Mühe wert zu halten, denn er nahm dem Pferde schweigend das Gebiß ab und gab ihm etwas Brot.
Der dicke Kopf schien sich nicht so leicht beruhigen zu wollen. Er wandte sich zu dem kleinen Burschen auf dem Kutschersitz und fragte weniger barsch, ob er wisse, wie weit es noch bis zum Wirtshause sei.
»Sind halb hin,« antwortete der Knabe, während seine Zähne vor Angst und Kälte klapperten.
»Ist hier kein Haus in der Nähe?« fuhr die Stimme immer sanftmütiger fort.
»Wo sollte das wohl stehen?« antwortete der Knabe mit Nachdruck.
»Wo sind wir denn?«
»Bei der Räuberhöhle.«
»Albernheit, hier sind keine Räuber. Geh und bitte die Bewohner des Hauses, daß sie uns weiter helfen; Dein Weg soll Dir gut bezahlt werden.«
»Was für Menschen würden wir wohl finden!«
Der dicke Kopf kam nun so weit aus dem Schlitten heraus, daß die Hälfte des demselben gehörenden, noch solideren Körpers sichtbar wurde; ein Strom wohlberedter Worte kam über seine Lippen, aber nur der Sturm und die Föhren schienen sie zu hören. »Räuberhöhle! Das ist unmöglich – haben wir denn nicht Polizei im Lande? Will man uns morden und plündern? Wo wohnt der Lehnsmann? Fahr zu ihm, Isak, kehr augenblicklich um! Es muß doch ein Lehnsmann in der Nähe wohnen. Kehr um, sage ich, nach Ruhala. Paß auf, Kerl, daß Du die Peitsche nicht aus der Hand verlierst und setz Dich nicht auf meine Hutschachtel. Hat man doch so etwas noch niemals auf dem Wege nach Tammerfors gehört! Aber es ist kein gutes Haar an den Tavastländern. Na, Mann, warum kehrst Du nicht um?«
»Wird eben so gut sein, daß sich die Frau zum Schlafen hinlegt,« antwortete der Kutscher mit einer Ruhe, die einen Stein hätte zur Verzweiflung bringen können. »Hier kommen wir weder rückwärts noch vorwärts.«
Der immer noch zunehmende Schneesturm, der rasch jede Spur des Weges verwehte, die der Schlitten gemacht hatte, schien diese wenig erfreulichen Worte nur zu sehr zu bestätigen, als sich den Reisenden eine ganz unerwartete Aussicht eröffnete, aus ihrer kritischen Situation erlöst zu werden.