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15. Halm contra Graberg.

Wir müssen nach 200 000 hin.

Die beiden rivalisierenden Großmächte der betriebsamen nordfinnischen Handelsstadt, die Firmen Halm und Graberg, waren zu der Zeit, als unsre Erzählung spielte, ungefähr gleich stark, abgesehen von dem für die Geschäfte ziemlich bedeutungslosen Titel eines Kommerzienrats, der in den Augen der Menge der ersten dieser beiden Firmen einen gewissen Vorrang gab. Beide hatten, wenn auch nicht im Bunde miteinander, so doch durch die Macht des Kapitals und mit Hilfe des Wenigen, was die Staatsregierung jener Zeit statt der Zolleinnahmen anzunehmen geruhte, einen gleich großen Löwenteil der beiden wichtigsten Ausfuhrartikel, Teer und Holz mit ihren Unterabteilungen Pech, Balken, Bretter und Pottasche, an sich gerissen, während die Einfuhr von Salz, Kolonial- und Manufakturwaren sich ungefähr ebenso gleichmäßig auf die beiden Firmen verteilte. Mit scharfem Auge und kühnem Geiste hatten die beiden Häuser früher als andre die Bedeutung der neuen Märkte erfaßt, die um jene Zeit dem finnischen Handel eine andre Richtung zu geben anfingen. Beide hatten ihre Geschäfte auf Stockholm beschränkt und sie auf St. Petersburg erweitert; beide hatten sich dem Monopol Lübecks auf Einfuhr nach Finnland zu entziehen gewußt und ihre Waren aus erster Hand in England und Amerika verschrieben. Da beide mit ausländischen Häusern ersten Ranges in direkter Verbindung standen und dadurch sichere, wenn auch späte Nachricht der Konjunkturen empfingen, so war es ihnen gelungen, einen Vorsprung vor allen andern Konkurrenten zu erhalten, aber nicht vor einander. Was Halm wußte, wußte Graberg auch, und die Spekulation, die Graberg als vorteilhaft erachtete, wurde zu gleicher Zeit auch von Halm aufgenommen. Da beide außerdem ungefähr gleich viele Schiffe zur See hatten, und diese Schiffe in denselben ausländischen Häfen miteinander konkurrierten, geschah es nur allzu oft, daß die beiden Häuser ihre wechselseitigen Berechnungen kreuzten und störten, statt miteinander den Markt zu beherrschen.

Der Telegraph war noch unbekannt und die Post von Wind und Wetter, mehr noch von der Jahreszeit abhängig. Ein Brief von England gebrauchte im Dezember drei bis vier Wochen, um an seinen Bestimmungsort im nördlichen Finnland zu kommen, und die Antwort erforderte natürlich eben so viel Zeit. Diese Schneckenfahrt in der Kommunikation hatte gerade um die Weihnachtszeit bedenkliche Furchen auf die Stirn des Kommerzienrats Hans Hermann Halm gezogen, während er auf seinem Comptoir saß, gerade so, wie wir vor einigen Wochen seinen Kollegen Konsul Graberg mit der eben angekommenen Post auf dem Schreibtische vor sich sahen.

Halm war im selben Alter wie Graberg, ungefähr fünfzig Jahre, dem Äußern nach ein vollendeter Gentleman, hoch und mager, mit schönen, regelmäßigen Zügen und der ruhigen imponierenden Haltung eines Weltmanns. In seiner Jugend hatte er mehrere Jahre in Deutschland zugebracht, sprach auch gut deutsch und englisch, blies die Flöte und war ein Kunstliebhaber und Mäcen. Sein Haus war neben dem Grabergschen nicht nur das reichste, sondern auch das gastfreiste und angenehmste Haus, daher es von allen, die in demselben verkehrten, gern besucht ward. Sein Salon war der Versammlungsort aller Reisenden, Künstler und Schriftsteller, welche in diese Gegend kamen, und mit der Gastfreundschaft des Wirts vereinigte sich die Anmut einer reizenden, jungen Wirtin, und eine liebenswürdige Familie. Der Kommerzienrat Halm hatte nämlich seine erste Frau, die ihm einen Sohn, John Halm, geschenkt hatte, verloren, und war zum zweitenmal mit einer jungen Schwedin vermählt, die ihm schon vier Töchter und nun auch, gerade vor einigen Tagen, einen Sohn geboren hatte. Die Taufe desselben war verschoben, bis die Mutter sich wieder ganz erholt hätte.

Auf Halms Comptoir arbeiteten außer ihm selber zwei Buchhalter, der alte Stenmann, der schon vor der Zeit des früheren Prinzipals, Hans Christopher Halm, an seinem Pult wie fest gewachsen war, und der junge Tervola, dem es in der Zeit des gegenwärtigen Prinzipals gelungen war, sich vom Laufburschen zu diesem wichtigen Vertrauensposten emporzuarbeiten.

Stenmann, ein trockner, verdrießlicher alter Mann, der fleißig seiner Schnupftabaksdose zusprach, in blauem Rock mit messingen Knöpfen, mit roter Perücke und einer großen Warze auf der linken Backe, hatte eben sehr sorgfältig seine Feder geschnitten, als sein Prinzipal sich an ihn wandte und sagte:

»Lewis & Comp. schreiben, daß der Weizen in Hull pro Quarter um vier Schilling gestiegen sei. Das hätten wir vor vier Wochen wissen sollen.«

»Ich dachte es mir schon um Michaelis,« antwortete Stenmann, indem er sich eine Prise nahm. »Der Herbst war schlecht, viel Regen.«

»Hätten wir das vor vier Wochen gewußt, so hätten wir ›Argo‹ und ›Veritas‹ nicht nach Boston gehen lassen. Die Fracht auf Odessa steigt täglich. Graberg hat fünf Schiffe im Mittelländischen Meer, wir nur zwei.«

»Außer ›Elise‹ und ›Fürst Menschikoff‹, die in Livorno gewesen sind, haben wir ›Juno‹ in St. Ybes und ›Otava‹, die nun eingefroren in Riga liegen müssen,« bemerkte der Buchhalter.

»›Elise‹ und ›Fürst Menschikoff‹ haben Ordre nach Alexandria.«

»Der Winter ist mild. ›Otava‹ kann losgeeist werden.«

»Stenmann … verschaffe mir eine Stafette, die durch die Luft reiten kann. Ein so solides Geschäft in seinen Händen haben und vier Wochen zu spät kommen! Lewis' Brief ist vom ersten Dezember datiert.«

Stenmann zuckte die Schultern und nahm eine neue Prise. »Schicken Sie Tervola!«

Der Prinzipal biß an den Nagel seines rechten Zeigefingers, bedachte sich einige Augenblicke und sagte dann: »Tervola!«

Der junge Buchhalter erhob sich und erwartete seine Befehle.

»Kannst Du ein Pferd tot reiten?«

»Ja, wenn der Herr Kommerzienrat befiehlt.«

»Gut. In zwei Stunden bist Du unterwegs. Nach drei Tagen bist Du in Petersburg, nach fünf Tagen in Riga. ›Otava‹ wird losgeeist, geht mit Flachssamen nach London und nimmt Fracht nach Odessa. Verstehst Du?«

»Ja, Herr Kommerzienrat.«

»Mach Dich fertig. Geld und schriftliche Ordre erhältst Du in einer Stunde. Tervola … ich habe Dich aus dem Teer gezogen. Nun muß ich sehen, was Du taugst. Es kommt auf Minuten an, und davon hat die infame Post keine Ahnung. Der Frost einer einzigen Nacht – und aus dem ganzen Geschäft wird nichts. Bist Du nicht am bestimmten Tage in Riga, triffst Du Kapitän Onholm und seine Besatzung auf dem Wege nach Hause.«

»Ich werde am Sonnabend in Riga sein.«

»Nimm meine Pistolen, und brich Dir Deinen Hals nicht. Warte noch einen Augenblick … Du hast eine arme Mutter?«

»Ja, Herr Kommerzienrat.«

»Ich werde für sie sorgen, wenn Dir etwas zustößt. Geh, ich verlasse mich auf Dich.«

Der junge Buchhalter entfernte sich mit einer ehrfurchtsvollen Verbeugung. Der Prinzipal sah ihm flüchtig nach und sagte bei sich selber: »Wäre schade um den Burschen; er ist mein Werk.«

Im Comptoir hörte man einige Minuten nur die kratzende Feder des alten Stenmann, der außerdem öfter noch als gewöhnlich auf seine Schnupftabaksdose klopfte. Dann wandte der Prinzipal sich wieder an den Buchhalter und sagte:

»Frachtkonto, Kredit de dato

Der Buchhalter schlug eine Folioseite auf und antwortete: »138 654: 32.«

»Notiere: ›Elise‹ remittiert: 19 040; ›Argo‹ 14 890: 16. Summa: 172 585. ›Otava‹ mißt 380 Last; muß mit der zuletzt notierten Fracht 28 000 geben, falls Tervola zu rechter Zeit kommt. Stenmann … wir müssen nach 200 000 hin. Edvardson hat bei Bäcks damit geprahlt, daß Grabergs Fracht nach 230 000 hinkomme.«

»Er lügt. Ist nicht soviel Wahrheit in ihm, wie in einer Meise.«

»Glaubst Du, daß Tervola es erreicht?«

»Kommt drauf an. Saling bei Graberg wurde vor vier Jahren in Petersburg geplündert und ermordet, 'ne häßliche Tour nach Riga um diese Jahreszeit.«

»Salings Witwe erhielt 200 als Pension. Wir werden an Tervolas Mutter denken. Brauchen wir doch alle in unsern Geschäften Gottes Segen. Geht's mit ›Otava‹ gut, dann geben wir zwei Prozent des Nettoertrages an die Unterstützungskasse.«

Neue Pause.

»Meine Schwägerin kam gestern von Tammerfors nach Hause. Sie hat sich von Pellavoinen narren lassen.«

Stenmann brummte etwas vom Huhn und vom Fuchs vor sich hin.

»Sie hat Bruder Sten bei sich … er ist verrückt geworden.«

»Der Herr wird Vormund werden.« Der alte Comptoirgaul perhorreszierte den Kommerzienrattitel.

»Die Sache hat ihre Haken. Wir dürfen Margareta nicht verletzen.«

»Hm,« sagte Stenmann, »Lisu ist eine passende Partie für John.«

»Lisu hat Rosenius in den Augen und Schartau im Kopf; aber sie ist Bruder Stens Erbin.«

»Vermutlich. Alles wohl erworben und richtig disponiert.«

Der Comptoirdiener trat aus dem Vorzimmer herein und meldete Kapitän Edvardson. Der Prinzipal und sein Buchhalter wechselten einen raschen Blick. Es war etwas äußerst Seltenes, daß beider Hauptfeind, des Rivals vertrautester Handlanger und Bundesgenosse, sich am Horizont des Halmschen Comptoirs, so zu sagen, in der Löwenhöhle selber zeigte. War Stenmann mit seinem vierzigjährigen Dienst eine unentbehrliche Feder in der geheimen Maschinerie des Halmschen Hauses, so war Edvardson ohne allen Zweifel die eigentliche Spinne in den weit verzweigten Geweben der Firma Graberg. Der Unterschied war nur der, daß Halm einen bessern Geschäftsblick als Stenmann hatte, Edvardson aber seinen Prinzipal an Schlauheit weit übertraf.

»Bitte ihn, einzutreten!« sagte der Kommerzienrat.

Kapitän Edvardson trat herein, fein und elegant wie immer, trotz seiner siebzig Jahre.

»Heute Tauwetter, Herr Kommerzienrat. Hoffe, daß es dem Herrn Kommerzienrat gut geht?«

»Danke, es geht. Bitte nehmen Sie Platz … Wem verdanke ich denn die so seltene Ehre dieses Besuchs?«

»Ich werde mich kurz fassen. Die Post geht um sechs Uhr, und Zeit ist Geld. Herr Kommerzienrat weiß vielleicht nicht, daß unsre Nachbarstadt X…by in Flammen steht?«

»Was? In Flammen?« rief Halm erschrocken. Er hatte doch hinter seinen Geschäften ein Herz.

»Seit heute morgen sieben Uhr. Ich habe es von zuverlässigen Menschen. Spritzen und Mannschaften haben den Befehl erhalten, sich ungesäumt dorthin zu begeben. Man wird auch Lebensmittel senden müssen.«

»Alle meine Pferde stehen zur Disposition. Stenmann, laß gleich die Hälfte des Schiffsproviants hinaustragen und nach X…by fahren. Mein Gott, welches Unglück!«

»Ich wollte mich auch nach einer halben Stunde auf den Weg machen,« fuhr der Kapitän fort. »Aber wenn dem Unglück, wie ich fürchte, nicht mehr gesteuert werden kann, denn die Stadt ist ja alt und eng gebaut, dann ist es von äußerster Wichtigkeit, gleich an die praktischen Folgen zu denken. Konsul Graberg schlägt vor, es möchte unsre Stadt sofort nicht nur ihre Unterstützung anbieten und die Abgebrannten in ihre Häuser aufnehmen, sondern auch Stapelplätze und Keller, Magazine und Läden zum weiteren Handel zur Verfügung stellen. Ich brauche nicht daran zu erinnern, wie sehr unsre Stadt unter der Konkurrenz mit X…by leidet, und welch bedeutender Vorteil es für uns wäre, zwei so nahe und miteinander konkurrierende Stapelplätze in einen einzigen zu verschmelzen. Konsul Graberg ist der Ansicht, daß sofort ein schriftlicher Vertrag aufgesetzt und unverzüglich per Stafette an den Magistrat von X…by gesandt werde. Und gerade Herr Kommerzienrat ist sowohl durch seine Einsicht wie durch seine Stellung der geeignetste Mann, diesen Vertrag aufzusetzen.«

Hans Hermann Halm ging aufgeregt im Zimmer auf und nieder. »In diesem Augenblick,« rief er, »in diesem Augenblick, noch während die Stadt brennt! … – Herr Kapitän, ich habe vieles gesehen … vieles gehört, aber noch niemals etwas so infam Kluges erlebt … Sie haben jedoch recht … der Vorteil wäre unermeßlich groß … auch für die Abgebrannten. Der ganze Teerexport von zehn waldreichen Gemeinden … der ganze Salzimport nach einer Küste hin, die eben so viele Meilen lang und dicht bevölkert ist, mit reichen Gütern …«

»Nicht genug, Herr Kommerzienrat, nicht genug. Mit Hilfe dieser vereinigten Kapitalien, Schiffe und Handelsverbindungen wird unsre Stadt in kurzer Zeit die mächtigste und einflußreichste des ganzen nördlichen Finnland werden. Wir werden Abo überflügeln, werden uns wieder des ostfinnischen Handels, der uns aus den Händen zu gehen droht, bemächtigen und das aufstrebende Wiborg in sein ehemaliges Nichts hinabstürzen.«

»Die Geographie werden wir nicht verändern, Herr Kapitän. Aber einerlei. Ihr Vorschlag ist praktisch. Ich werd's mir überlegen … Morgen …«

»Schon heute, Herr Kommerzienrat. Time is money.«

»Mag's sein … die unglückliche Stadt! … Aber das ist ja die größte Wohlthat, die man den Abgebrannten erweisen kann.«

Buchhalter Tervola trat, zur Reise gerüstet, ein.

»Ah, um Verzeihung, Herr Kapitän! Ein Geschäft!«

Kapitän Edvardson fuhr mit der Hand über seinen seidenen Hut und empfahl sich mit einem verbindlichen Lächeln.


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