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19. Das Buch Sirach.

»Stecke Dich nicht in mancherlei Händel.«

Frau Margarete Halm hatte, wie wir wissen, ihr eigenes Geschäft und bewohnte ihr eigenes gut gebautes Haus in der Kaufmannsstraße. Der Buchhalter stand hinter dem Ladentisch, wog Kaffee, Zucker und Ingwer ab, verkaufte Leder und Tabak, Lübecker Kattun und rotseidene Taschentücher, welche die Frauen der Teerbauern besonders liebten und schenkte den Kindern derselben getrocknete Pflaumen. Hinter dem Laden war das Comptoir, wo es immer nach Brasilienholz roch und wo Lisu als Comptoirist gute Dienste verrichtete, wenn sie nicht hinausgerufen wurde, um im Laden zu helfen. Neben dem Comptoir war Frau Margaretes privates Arbeitszimmer, in welchem sie ihre vornehmsten Kunden empfing; neben diesem wieder ein äußerst hübsch und ordentlich gehaltener Saal, ein dito urgemütliches Kabinett mit einem langen Sopha und vergoldeten Adlern am Spiegelrahmen, und schließlich an der andern Seite des Hauses eine geräumige Küche mit der Stube für die Knechte und Burschen sowie die Kunden aus dem niederen Volk. Oben im Hause waren nach der Sitte jener Zeit zwei große Kammern, eins an jeder Seite des riesigen Bodens, die ursprünglich für Gäste bestimmt waren, von denen nun aber das eine – das nördliche – der Kommissär Halm bewohnte, während seine Brudertochter Lisu das südliche in den wenigen Stunden zur Verfügung hatte, während welcher sie unten entbehrt werden konnte. Die mit Wacholderbeerreisern bestreuten Treppen und Vorzimmer glänzten vor Sauberkeit, das ganze Haus zeugte von Sparsamkeit, Ordnung und solidem Wohlstand, jedoch ohne einen andern Luxus als das Kabinett, in welchem zweimal jährlich geheizt wurde, wenn die unvermeidlichen Kaffeegesellschaften gegeben werden mußten, das aber sonst kalt und ungemütlich, öde und verlassen war wie eine in einem Schrank hängende Galauniform.

Kapitän Edvardson war aus den früher dargelegten Gründen bei Frau Margarete, als der Kommerzienrat bei seiner Schwägerin eintrat, die gerade an einem Strumpf strickte. Die beiden Herren grüßten einander höflich, aber kalt, worauf der Kapitän seinen feinen Hut nahm, ihn mit seinen gelben Handschuhen strich, die gewaltige Hand der Wirtin küßte und sich ihrem ferneren Wohlwollen empfahl. Frau Margarete gab ihm ihrerseits einen leichten Schlag mit dem wollenen Strumpf und antwortete, sie würden schon gute Freunde sein können, wenn Vetter Edvardson nur nicht immer ihre Teerbauern nach Grabergs hinüberlocke. Was X…by angehe, so sei sie der Ansicht, daß, wenn man seinen Löffel in anderer Kohl stecke, man selbst schuld habe, wenn man sich die Finger verbrenne. »Lebe wohl, Vetter, vergiß mich nicht … Und Schwager Hans?«

»Eine seltene Ehre! Darf ich Schwager ein Glas Wein mit Pfeffermünze anbieten?«

Schwager Hans verzichtete auf Pfeffermünze, streichelte Frau Margaretes selten weiße und selten taube Katze und erklärte, er habe sich mit der schriftlichen Einladung nicht begnügen wollen, sondern möchte sich selber davon überzeugen, daß die Schwägerin seinen kleinen Knaben über der Taufe halten werde. Und außerdem gelte sein heutiger Besuch Bruder Sten, der auch eingeladen sei, wenn seine Gesundheit es erlaube.

Frau Margarete dankte für die Ehre; sie werde kommen, auch Lisu, da Schwager Hans sie mit einer schriftlichen Einladung beehrt habe; aber dem Alten da oben könne man vom Taufkuchen schicken; er thäte am klügsten, wenn er wie ein Eichhorn in seinem Bauer sitzen bliebe.

»Margarete,« sagte der Kommerzienrat, »wenn Du einen unglücklichen Bruder hättest, der nur wenige Schritte von Deinem Hause wohnte, würdest Du Dich schämen, ihn als einen Verwandten anzuerkennen?«

»Nein, Schwager, gewiß nicht! Aber seinen Verstand muß er haben. Und Sten hatte nicht für zwölf Schilling gesunde Vernunft, als ich ihn von Storkyro hierher schleppte. Der alte Teufelsspuk machte ihn wieder verrückt, und, Gott bewahre! was für Grillen er hatte, um einige Missethaten wieder gut zu machen? Ja, der Mensch ist ein armes, schwaches Wesen, Schwager; wir dürfen unser Herz nicht an das Irdische hängen, merk es Dir, Hans; es geht ein Belialsbach durch das Halmsche Geschlecht. Na, versteht sich, wir andern sind auch nicht viel besser, das sitzt in den Grabergs und der ganzen Kodille. Nun war Lisu die einzige, die über Schwager Sten einige Macht hatte, deshalb dachte ich: was nützt es, Doktor und Apotheker zu bezahlen? Hier hilft kein Kremortartari. Ich hab dann Pokkises Anna genommen, die pflegt ihn für die Kost und zwei Thaler wöchentlich; da darf man nicht sparen, und ich selber sorge dafür, daß er täglich weichgekochte Eier, Fische und Hühnersuppe essen kann. Des seligen Otto Christophers Schlafrock und Morgenschuhe hat er an seinem Bett, und das Brettspiel brauchten wir nicht erst hinaufzubringen. Er wollte ja wohl in seiner Tollheit noch einmal weglaufen, aber da schickte ich Lisu zu ihm hinauf, und er ward ruhig. Lisu las ihm jeden Tag aus Gottes Wort vor; ich denke, das war die beste Medizin. Geld gab ich ihm niemals, das war das reine Gift für ihn; und als er wieder einigermaßen vernünftig wurde, fing Lisu an, den Teufel, der in ihm war, auszutreiben. Zuerst trug sie wie zufällig ein gelbes Halstuch; das ward ein Spektakel, kann Schwager denken, da es aber Lisu war, gewöhnte er sich daran. Dann gewöhnte er sich allmählich auch an einen gelben Handschuh, eine gelbe Citrone und schließlich gar an einen messingnen Leuchter. Das ging, bis Lisu es wagte, ihm wie im Scherz einen goldenen Ring zu zeigen; wir glaubten, die alte Tollheit würde wieder über ihn kommen. Pokkises Anna und ich paßten an der Thür auf, denn er wollte ja hinaus, der lange, starke Mann. Wir wären nicht mit ihm fertig geworden, wenn Lisu ihn nicht zahm gemacht hätte. Drei Tage später konnte er den goldenen Ring ruhig ansehen, und nun kann er alles haben, nur kein Geld. Ach, Schwager, er kann weder einen Kassenschein noch einen roten Schilling sehen! Kein Mensch, außer uns dreien, Lisu, Anna und mir, durften in den letzten fünf Wochen zu ihm kommen. Schwager ist der erste. Edvardson wollte auch zu ihm, aber den hab ich nicht hineingelassen.«

»Lieber jeden andern als Edvardson! Es freut mich Margarete, daß Du gegen meinen armen Bruder Sten so gut gewesen bist; der Tag wird schon kommen, wo Du für all Deine Mühe reichen Lohn ernten wirst. Du begreifst aber wohl, daß man seine Geschäfte nicht so gehen und stehen lassen darf; die Verschreibungen können verfallen, die Obligationen eingezogen oder ausgelost werden. Was meinst Du? Soll ich mich der Sache annehmen?«

»Meine Meinung,« antwortete Frau Margarete mit einem schalkhaften Blick, der bedeutete: glaubs schon, mein Herr, aber das geht nicht – »meine Meinung ist, daß Schwager Sten, der ja nun wieder vernünftig zu werden anfängt, am besten selber dafür sorgt. Na ja, man kann da manches pro und contra sagen. Was soll man von einem Mann sagen, der seine Verschreibungen vor den Augen der Debitoren aufbrennt? Aber ich will niemals wieder ein Pfund Flachs abwägen, wenn Lisu ihn nicht kuriert. Laß uns bis zum Frühling warten. Madame Vidström hütet das Haus in Storkyro; ich habe den Lehnsmann hingeschickt, daß er das Inventar aufnimmt, und die Kasse habe ich in Gegenwart von Zeugen versiegelt. Wir müssens erst ansehen, Schwager! Sten ist ein desperater Mensch, das liegt im Blut … Lisu!«

Lisu trat ins Comptoir.

»Glaubst Du, daß Onkel Hans ihn da oben besuchen kann?«

»Er ist jetzt ruhig; Onkel kann es ganz gut thun. Aber sprich nicht von Geld.«

»Wer würde im Hause eines Mannes, der sich aufgehängt hat, vom Strick sprechen? Geh mit, Lisu, geh mit, man weiß ja nie, was passieren kann.«

Einige Augenblicke später standen der Kommerzienrat und seine Brudertochter in der Kammer des Kommissärs. Der alte Mann saß an einem Tisch und machte Stahldraht für ein Vogelbauer zurecht. Er trug seines Bruders Otto Christophers berühmten Schlafrock und Morgenschuhe und sah abgezehrt, aber nicht verstört aus. Die beiden Brüder hatten einander seit dreißig Jahren nicht gesehen.

Hans Halm war kein herzloser Mann. Es traten ihm Thränen in die Augen, als er diesen einst so bewunderten, dann so verabscheuten Bruder sah, der, zwanzig Jahre älter als er, der Stolz und die Hoffnung der Familie gewesen war, bis er ihre Schande und Verzweiflung ward – diesen Bruder, der so viel gesündigt, aber auch so viel gelitten hatte.

»Kennst Du mich nicht, Bruder Sten?« fragte er.

Der Alte sah ihn ohne sonderliche Bewegung an. »Bruder Sten?« wiederholte er. »Ich habe zwei Brüder gehabt. Bist Du Otto Christopher oder Hans Hermann?«

»Otto ist tot, ich bin Hans. Ich möchte Dir noch einmal die Hand drücken und Dich fragen, ob ich Dir in irgend einer Weise nützlich sein kann.«

»Na, Du bist Hans?« antwortete der Kommissär mit derselben gleichgültigen Ruhe. »Du bist alt geworden; ist nicht immer ein Glück, wenn man alt wird. Aber hier ist nichts zu erben, Hans, nicht einmal ein abgetragener Rock. Ich bin ein armer Mann und lebe von der Barmherzigkeit meiner Verwandten. Reich mir Deine Hand; das ist hübsch von Dir.«

»Geht es Dir nun gut, Bruder Sten? Bist Du zufrieden?«

»Ganz gut, ganz zufrieden. Ich bin niemals so zufrieden gewesen, seit ich als Knabe auf dem Kallisehügel Schlitten fuhr. Damals lebtest Du noch nicht, Hans. Und was hattest Du hier in der Welt verloren? Hier ist Sünde und Streit, nichts anderes.«

»Kann ich Dir dienen, Bruder Sten? Möchtest Du nicht irgend welche Bequemlichkeiten haben? Liebst Du Virginia-Kanaster? oder vielleicht einen guten, stärkenden Wein?«

»Nein, danke, ich brauche nichts. Ich habe es gut, wie Du siehst. Ich bin zufrieden, ganz zufrieden. Na ja, schick mir etwas Stahldraht; ich mache Vogelbauer, um mir meinen Aufenthalt zu verdienen; ich mache auch Fischangeln. Du kannst sie in Deinem Laden verkaufen. Du hast doch einen Laden? Oder bist Du eben so arm wie ich? das wäre gut für Dich, Hans!«

Der reiche Kommerzienrat schlug die Augen nieder. »Ich werde Dir Stahldraht schicken, und will Deine Vogelbauer und Fischangeln verkaufen.«

»Ja, thu es, Hans; das ist hübsch von Dir. Aber fordere nicht zuviel dafür. Spiel nicht mit dem Gelde, Hans! Ich könnte Dir etwas erzählen, aber das ist eine traurige Geschichte. O, schrecklich, mit dem Gelde zu spielen.«

Lisu suchte ihn rasch von dem gefährlichen Thema abzubringen und bemerkte, daß sie ihrem Onkel heute noch nichts vorgelesen habe.

»Ja, lies, Kind, lies mir etwas vor. Hans kann es auch anhören. Nicht wahr, Hans, Gottes Wort vertreibt die bösen Gedanken. Wo hielten wir auf?«

»Im Buche Sirach, elftes Kapitel Vers 10.«

»Richtig. Lies weiter, Kind. Siehst Du, Hans, ich bin nicht so arm, wie Du glaubst. Jeden Tag steigt ein Engel vom Himmel herab und berührt den verdorrten, aussätzigen Staub meines sündigen Herzens. Dann sprudelt eine Quelle frischen Wassers in den jammervollen, verdurstenden Pfuhl, das ist die klare, tiefe Quelle, die aus dem ewigen Leben strömt. Ja, ich bin reich, Hans, aber nicht aus mir selber, sondern durch ihn, der alles in allen ist. Lies, Kind, lies.«

Lisu las:

»Mein Sohn, stecke Dich nicht in mancherlei Händel; denn wo Du Dir mancherlei vornimmst, wirst Du nicht viel daran gewinnen. Wenn Du gleich fast danach ringest, so erlangest Du es doch nicht; und wenn Du Dich gleich hie und da hinwendest, so kommst Du doch nicht heraus.

Mancher läßt es ihm sauer werden, und eilet zum Reichtum, und hindert sich nur selber damit. Dagegen thut mancher gemach, der wohl Hilfe bedürfte, ist dazu schwach und arm; den stehet Gott an mit Gnaden, und hilft ihm aus dem Elend, und bringt ihn zu Ehren, daß sich seiner viele verwundern.

Es kommt alles von Gott, Glück und Unglück, Leben und Tod, Armut und Reichtum. Den Frommen giebt Gott Güter, die da bleiben. Und was er bescheret, das gedeihet immerdar. Mancher Mann karget und sparet, und wird dadurch reich, und denket, er habe etwas vor sich gebracht, und spricht: ›Nun will ich gut Leben haben, essen und trinken von meinen Gütern‹; und er weiß nicht, daß sein Stündlein so nahe ist, und muß alles andere lassen und sterben.

Bleibe in Gottes Wort, und übe Dich darinnen, und beharre in Deinem Beruf, und laß Dich nicht irren, wie die Gottlosen nach Gut trachten. Vertraue Du Gott, und bleibe in Deinem Beruf; denn es ist dem Herrn gar leicht, einen Armen reich zu machen. Gott segnet den Frommen ihre Güter, und, wenn die Zeit kommt, gedeihen sie bald. Sprich nicht: ›Was hilfts mich? Und was hab ich davon?‹ Sprich nicht: ›Ich habe genug, wie kann mirs fehlen?‹ Wenn Dirs wohl gehet, so gedenke, daß Dirs wieder übel gehen kann; und wenn Dirs übel gehet, so gedenke, daß Dirs wieder wohl gehen kann. Denn der Herr kann einem jeglichen leichtlich vergelten im Tod, wie ers verdient hat. Darum sollst Du niemand rühmen vor seinem Ende …«

Lisu brach ab. Ihr jüngerer Onkel Hans, der starke Manu, war bleich geworden, und große Schweißtropfen perlten auf seiner Stirn. Er stand auf, um zu gehen. »Bruder Sten,« sagte er, »ich habe eine Bitte an Dich.«

»Und die wäre, Bruder Hans?«

»Mein jüngster Sohn wird heute getauft. Ich möchte Dich und Margarete und Lisu bitten, Gevatter zu stehen.«

Der Kommissär schwieg einige Augenblicke und antwortete dann:

»Ich habe einmal von einem Manne gelesen, der geladen war und hatte kein hochzeitlich Kleid an. Der Mann ward in die äußerste Finsternis geworfen.«

»Du sollst der Mann nicht werden, Bruder Sten. Die Taufe ist heute nachmittag 3 Uhr; Du wirst zur rechten Zeit einen vollkommen passenden schwarzen Anzug erhalten. Er hat Otto Christopher gehört, und der war von Deiner Größe. Ich habe ihn von Margarete gekauft.«

»Ich werde kommen.«

»Nein, Onkel, nein!« rief Lisu voller Angst.

»Fürchte Dich nicht,« sagte der Alte ruhig. »Nun kann ich alles ertragen. Die ganze Welt mags wissen, daß ich ein armer Mann bin, der von der Güte seiner Verwandten lebt. Hans hat sich nicht geschämt, solch jammervollen Menschen wie mich als Bruder anzuerkennen; sollte ich mich schämen, in geborgten Kleidern zu kommen.«

»Aber Onkel ist Katholik.«

»Nein, Kind, ich bekenne mich zum Christentum ohne Rücksicht auf eine Konfession. Bist Du damit zufrieden, Hans?«

»Ja, Bruder Sten. Also um 3 Uhr. Lebe wohl!«

»Lebe wohl!«


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