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Wir verließen Reykjavik in der letzten Juliwoche. Es war 1 Uhr nachmittags. Ein Diener des Hotels begleitete uns eine Strecke weit bis vor die Stadt, dann waren wir uns selbst überlassen.
Wir konnten jetzt für eine geraume Zeit der ganzen modernen Zivilisation Lebewohl sagen; wir befanden uns mit einem Male in einer neuen Welt, weit entfernt von allen Behaglichkeiten, aber auch Unbehaglichkeiten der Gegenwart, in der wilden, freien, kraftvollen Natur. Von jetzt an sollten wir umgeben sein von Leuten, deren Sprache, deren Sitten und Gebräuche, deren Wohnungen und häusliche Einrichtungen noch ungefähr die gleichen sind wie vor tausend Jahren, fast in allem verschieden von dem, was man heute in der großen, sogenannten zivilisierten Welt gewohnt ist.
Das einzige »Moderne« auf den Gehöften war das Fremdenzimmer, das überall, wo es ein solches gibt, gut eingerichtet ist. Wäre das nicht der Fall, so müßte man unbedingt mit Zelt und Feldbetten reisen, was auch viele Fremde, namentlich Engländer, tun.
Wenn ich bemerke, daß wir jetzt der ganzen modernen Zivilisation Lebewohl sagen mußten, so will ich damit nicht behaupten, daß es im Innern der eigentümlichen Insel etwa gar keine Zivilisation gäbe. Das wäre das größte Unrecht gegen dieses liebe, herzensgute, in seiner Weise gebildete, überaus feinfühlende und höfliche Volk.
Nein, im Innern des Landes findet sich eine uralte, höchst interessante und achtungswürdige Zivilisation. Aber sie gleicht nicht der sonstigen modernen. Sie ist von einer ganz andern Art. Es ist ein kostbarer, uralter Überrest einer längst vergangenen Zeit.
Man lebt auf Island in den alten Formen, wie sie um das Jahr 1000 herum herrschten.
Gerade das aber ist es, was diese nordischen Leute so ungewöhnlich interessant und merkwürdig macht. Die Sprache, die sie alle reden, die Sprache der Edda und der Sagas, diese Formen und Sitten sind so altehrwürdig, daß man sie in keiner Weise geringschätzen darf, sondern ihnen vielmehr alle mögliche Aufmerksamkeit und Achtung entgegenbringen muß.
In dieses Land ritten Friedrich und ich nun froh und vergnügt hinein. Das Packpferd ließen wir lose vor uns hergehen, denn es war ja nach unserer Meinung so brav.
Indes, hätten wir nur seinen Charakter besser durchschaut! Gerade jetzt, wo wir nichts ahnten, ging es mit ganz verräterischen Plänen um.
Anfangs zog es recht nett mitten auf der Straße dahin. Aber nach einer Stunde ungefähr begann es in bedenklicher Weise nach den grünen Grasflächen hinüberzuschielen, die sich ein wenig abseits vom Wege zeigten.
Schon merkten wir, daß es mit schweren Versuchungen kämpfte; jedoch wir dachten, es würde sie überwinden, besonders da wir es nicht unterließen, es oft an seine Pflicht zu erinnern mit dem Zuruf, den alle isländischen Pferde sogleich verstehen und meist auch befolgen:
» Farðu veginn!« (»Geh auf dem Weg!«)
Trotzdem schien es plötzlich einen festen Entschluß gefaßt zu haben: Als wir es am wenigsten dachten, schwenkte es mit größter Bestimmtheit vom Wege ab; und als es merkte, daß ich ihm mit aller Kraft nachrief und hinter ihm herritt, setzte es kurzerhand über einen breiten Graben, der sich an der Landstraße hinzog, und jagte, mit unserem gesamten Proviant und all unsern Reisesachen auf dem Rücken, in wildem Lauf einer erspähten grünen Grasflur zu.
Mit großer Mühe holte ich es endlich ein und brachte es wieder auf den rechten Weg.
Aber kurze Zeit darauf wiederholte sich die Verirrung; man merkte es dem begierigen Tier an, wie es sich kaum von den Stätten fernhalten konnte, wo es ihm eben so gut ergangen war. Ich sah mich daher genötigt, das Pferd nunmehr am Zügel hinter mir herzuziehen.
Jetzt gab es jeden Fluchtversuch vollständig auf. Es schritt frisch und leicht wie die beiden andern dahin und schien kaum etwas von den hundertdreißig Pfund zu spüren, die es auf dem Rücken trug; wir konnten galoppieren, so oft wir wollten, es war immer dazu bereit.
Etwas später jedoch spielte es uns noch einen Streich, der leicht ungemütliche Folgen hätte haben können.
Friedrich bat mich nämlich um die Erlaubnis, einmal eine Zeit lang das eigensinnige Tier hinter sich herziehen zu dürfen. Ich gab ihm also die langen Zügel und ließ ihn an der Spitze reiten, während ich selbst am Ende folgte, um sehen zu können, wie das Ganze verlief. Auch ermahnte ich ihn, recht vorsichtig zu sein.
Eine Weile ging es vortrefflich. Aber dann kam das Unglück:
Das schlaue Tier merkte natürlich gleich, daß es von einer weit schwächeren Hand gezogen wurde. Und was geschah nun?
Mitten in einem kleinen Galopp, den wir anschlugen, bekommt der bosheitsvolle Schlingel den tückischen Einfall, plötzlich stehen zu bleiben. Der arme Friedrich konnte natürlich nicht gleich sein eigenes Pferd zum Halten bringen, auch konnte er nicht sofort die Zügel loslassen, da er sie unglücklicherweise um die Hand geschlungen hatte. Die Folge war, daß er im Nu rücklings von seinem Pferde herunter glitt und in ganzer Länge mitten auf dem Wege lag, mit dem unseligen Packpferd, das es gewiß so gewollt hatte, hinter sich!
Ich schrie entsetzt auf, da ich fürchtete, der Junge habe sich vielleicht schwer verletzt. – Zum Glück aber beruhigte er mich bald, indem er in lautes Lachen ausbrach.
So blieb dieser Zwischenfall lediglich eine gute Lehre für die Zukunft.
Nach einigen Wegstunden entschwand das letzte Stück des Meeres, das wir bisher noch gesehen hatten, unsern Blicken. Wir waren jetzt richtig ins Land hineingekommen, das wir durchqueren wollten. Vor uns, aber noch weit, weit entfernt, erhoben sich himmelhohe blaue Bergketten. Dorthinauf sollten wir in den nächsten Tagen mit unsern Pferden reiten, ganz allein – ein eigentümliches Gefühl!
Aber mit einer geheimnisvollen Gewalt lockte und zog es uns hin.
Das Wetter war prächtig, die Luft klar und rein: der schönste Sommertag.
»Das kann man eine Reise nennen!« rief Friedrich mit Begeisterung. »Das ist mal ganz was anderes als in den engen Eisenbahnwagen! Und was für eine gesunde, frische Luft hier ist!«
»Also hast du kein Heimweh?« fragte ich ihn.
»O, nicht im geringsten! Und wenn ich Heimweh hätte, so würde es mir mein Pony durch sein Hopsen bald kurieren!«
Der Ritt machte ihm sichtbar den größten Spaß, obschon wir an diesem Tage nicht mehr sehr weit reisen konnten, da wir ja so spät von Reykjavik aufgebrochen waren. Wir hatten vor, die Nacht auf dem Hofe Middalur zu verbringen, um dann am folgenden Tag mit Muße über die Mosfellsberge nach Thingvellir zu kommen, der berühmten alten Thingstätte jenseits dieser Berge.
Dort wurde, wie bekannt ist, im Jahre 930, also vor mehr als tausend Jahren, von normannischen Edlen das Althing, d. h. das erste Parlament Europas, gegründet, ein Parlament, das heute noch in Island besteht.
Plötzlich spitzten unsere Pferde die Ohren, alle auf einmal. – Vor uns auf dem Wege mußte etwas los sein, denn alle schauten so gespannt nach vorn.
In der Tat entdeckten wir bald eine merkwürdige Karawane:
Nicht weit vor uns sahen wir etwa zwanzig Pferde in einer langen Reihe dahinziehen, eines hinter dem andern. Ein Knabe ritt voran und zog den ganzen Zug hinter sich her; eine Schar echter isländischer Bauern aus dem Innern des Landes bildete gewissermaßen sein Gefolge.
Der Zug bewegte sich in derselben Richtung dahin wie wir; wir konnten ihn also bald einholen.
Die Bauern waren in Reykjavik gewesen und ritten jetzt heim. Die Pferde waren alle aneinandergereiht, ähnlich wie Eisenbahnwagen; das eine war an den Schwanz des andern gebunden, und jedes Pferd war beladen mit den verschiedensten Waren, so wie ein Güterzug. Eines trug zwei Säcke mit Korn, ein anderes einige Behälter mit Kaffee, Zucker und Tabak, ein drittes Baustoffe, Balken und Planken, ein viertes Eisenplatten zum Dachdecken, und so fort.
Der ganze Zug bewegte sich nur langsam voran, obwohl manches der Pferde bisweilen etwas ungeduldig wurde und kräftig am Schwanze seines Vordergängers zog.
Solche Karawanen sieht man in Island häufiger. Sie schlängeln sich eigenartig auf den oftmals krummen Wegen hin und setzten unbedenklich über Bäche und Flüsse. Ohne sich durch die Größe der Entfernung abhalten zu lassen, legt man bis zu zwanzig und dreißig dänische Meilen zurück, um die nächste Handelsstadt zu erreichen. Die Leute haben Zelte bei sich, die ebenfalls von den Pferden getragen werden, und am Abend schlägt man auf diesem oder jenem Grasplatz ein Lager auf, am liebsten in der Nähe eines Baches mit reinem, klarem Trinkwasser – alles draußen in der freien Natur, weit entfernt von menschlichen Wohnungen.
Wie urwüchsig, aber auch wie gesund und frisch ist dieses Leben! Die Pferde grasen des Nachts, um sich für die Anstrengungen des nächsten Tages zu stärken, und schlafen dann, wenn sie genug haben, eine Zeit lang stehend.
Bald hatten wir den Nachtrab der seltsamen Karawane eingeholt.
Aber man glaube nicht, daß wir so ohne weiteres daran vorbeikamen! Das würde unerhört sein, etwas in diesem Lande fast Unmögliches. Es gilt dort, die uralten Formen zu beachten und zu befolgen, und es wäre schade, wenn man sie abschaffte.
Die Bauern machten, als wir bei ihnen anlangten, halt und grüßten uns, indem sie alle kräftig und freundlich uns zuriefen: » Saelir verid thér!« (»Selig seid ihr!), ein Gruß, der etwa unserem »Guten Tag!« entspricht.
Ich antwortete mit denselben isländischen Worten.
Dann folgten die Fragen, die isländische Reisende aneinander zu richten pflegen.
Einer der Bauern, ein kräftiger Mann mit schwarzem Bart, stellte sich mit seinem Pferd dem meinigen gegenüber, sah mir frisch und freundlich in die Augen, und indem er mit der Linken die Zügel des Pferdes hielt, mit der Rechten die Reitpeitsche auf den Sattel stützte, ließ er mich ein regelrechtes Verhör durchmachen.
Ich mußte auf folgende Fragen, die er rasch nacheinander an mich richtete, antworten:
»Wie heißt der Mann?« Diese Frageform wird in Island gern statt der direkten Anrede: »Wie heißen Sie?« gebraucht, besonders im Anfang eines Gesprächs.
»Woher kommst du?«
»Woher stammst du?«
»Wohin willst du?«
»Was bist du von Beruf?«
»Was gibt es Neues?«
»Was ist er?«
»Woher ist er?«
»Spricht er isländisch?«
»Wie gefällt ihm das Land?«
Und so ging es weiter.
Ich hatte in der langen Zeit, da ich im Ausland gewesen, etwas die Übung verloren, einen andern so zu examinieren, wie ich jetzt examiniert wurde, und konnte außerdem die isländische Sprache nicht mehr ganz fließend sprechen. Ich begnügte mich daher, meinerseits an den Mann nur einige wenige Fragen zu stellen, die er natürlich auf das bereitwilligste beantwortete.
Zuletzt reichte mir mein freundlicher Examinator eine Prise Tabak, indem er lachend sagte:
»Bitte –, es liegt die Freundschaft darin!«
Dann riefen beide Teile einander ein kräftiges » Verid thér saelir!« zu, dieselben Worte wie am Anfang, aber in anderer Ordnung, in der sie nun einen Abschiedsgruß bedeuten. (»Seid gesegnet!«)
Darauf trennten wir uns.
Unsere Pferde wollten sich jedoch nicht so rasch von ihren vielen neuen Kameraden verabschieden, mit denen sie bei dieser kurzen Begegnung zusammengetroffen waren; gesellschaftlich wie sie sind, gedachten die Tiere offenbar so beisammen zu bleiben. Es schien, als wollten sie sagen:
»Hier sind wir, und hier bleiben wir!«
Das war aber direkt gegen unser Reiseprogramm.
Erst als wir sie mit fühlbarer Deutlichkeit aufforderten, zu gehen, gehorchten sie, und jetzt ritten wir im Galopp an der langen Pferdereihe der Isländer vorüber. –
Friedrich atmete erleichtert auf, als wir wieder allein waren. Er war nämlich bei dem erwähnten Verhör allmählich auf den Gedanken gekommen, wir könnten möglicherweise Räubern in die Hände gefallen sein. Die eigentümlichen Fragen des Bauern an mich hatte er sich nicht erklären können. Ich unterrichtete ihn daher nun über die ihm unbekannten isländischen Sitten, was ihn dann sofort beruhigte.
Wir entfernten uns ziemlich schnell von dem Trupp der Bauern, deren Pferde mehr zu tragen hatten als die unsrigen und deshalb nicht so gut vorankamen wie wir.
Vor unsern Augen entrollten sich jetzt nacheinander die verschiedensten Landschaften, eine eindrucksvoller, überraschender und schöner als die andere.
Erst kam ein Bach, über den wir hinüber mußten. Er bot unsern Tieren willkommene Gelegenheit, einen guten Schluck mit auf den Weg zu nehmen, ohne zu rasten. Dann gelangten wir bei einer plötzlichen Biegung des Weges an einen stillen, einsamen See, umgeben nicht von schönen grünen Buchenwäldern wie die Seen in Dänemark, sondern von einem wilden Gewirr umhergestreuter Lavablöcke.
Abermals weiter öffnete sich uns ein tiefes Tal, durch das man im Zickzack reiten mußte. Es war überragt von steilen Höhen. Der Boden bestand hier, wie zumeist auf Island, aus Felsen, Sand und losen Steinen statt aus Erde und Gras.
Während des beschwerlichen Aufstiegs zu den Anhöhen wurden unsere Pferde ganz mit Schweiß bedeckt, doch waren sie noch ebenso willig wie vorher.
Zum Lohne wollten wir ihnen jetzt etwas Ruhe gönnen. Wie verließen den Weg und ritten nach einer Stelle zu, wo wir eine schöne Grasfläche mit einem silberklaren Bächlein sahen. Hier nahmen wir den guten Tieren Sättel und Koffer herunter, um ihnen den heißen Rücken zu kühlen, und nahmen ihnen den Zaum aus dem Maule, damit sie sich leichter an dem saftigen grünen Gras erquicken konnten.
Es war eine Freude, ihren Appetit zu betrachten.
Wir selbst nahmen ebenfalls eine kleine Mahlzeit zu uns und tranken von dem köstlichen Wasser des Baches, das einen besonderen aromatischen Geschmack hatte.
Nachdem wir dann noch eine Weile geruht hatten, holten wir die noch grasenden Pferde herbei, sattelten sie, hängten dem einen die schweren Koffer wieder an den Packsattel und setzten unsere Reise fort.
Plötzlich hörten wir hinter uns Pferdegetrappel. Wir schauten um und sahen einen kleinen Jungen in vollem Galopp dahersprengen. Als er uns eingeholt hatte, hielt er sein Pferd an und nahm den Hut ab.
» Saelir verid thér!« sagte er.
Ich erwiderte: » Saell vertu!« (»Sei gegrüßt!«), und die Unterredung begann.
Diesmal wollte bei der gewöhnlichen Befragung über Namen, Wohnort, Stand usw. ich selbst der erste sein; jedoch der Kleine kam mir zuvor:
»Wie heißen Sie?« – »Wohin reisen Sie?« – usw.
Nachdem seine Wissenslust befriedigt war, sah es mich schweigend an, denn jetzt sollte ja ich meine Fragen stellen. – Ich begann also:
Wenn ich mich recht erinnere, nannte er sich Thorsten.
»Wie alt bist du?«
»Zehn Jahre.«
»Wohin willst du?«
»Ich reite nur so für mich, zur Unterhaltung. Aber als ich Sie sah, wollte ich Sie begrüßen.«
»Das ist schön von dir. Doch woher kommst du?«
»Von Reykjavik.«
»Gehört dieses Pferd dir?«
»Nein, es gehört meinem Vater.«
»Wie weit willst du reiten?«
»O, ich will Sie nur ein Stück begleiten, dann reite ich wieder zurück. – Geben Sie mir Ihr Packpferd, ich will es ein wenig ziehen.«
Dieses Anerbieten nahm ich an; jedoch bemerkte ich:
»Gib aber gut acht, daß es dich nicht herunterzieht! Es hat dies eben mit dem Jungen da gemacht!«
»Mit mir kann es das aber nicht!«
»Warum nicht? Du bist doch nicht so stark wie der Junge hier!«
»Nein, so stark bin ich nicht; aber darauf allein kommt es auch nicht an.«
»So, worauf denn sonst?«
»Das kann ich nicht so recht erklären; aber man muß gewisse Vorteile und Kunstgriffe kennen, um mit Pferden umzugehen.«
»Welchen Vorteil meinst du in diesem Fall?«
»Man muß zum Beispiel von Zeit zu Zeit mit einem raschen Ruck am Zügel ziehen ...«
So unterhielten wir uns weiter und ritten nun Seite an Seite voran. Wir sprachen über alles mögliche, wobei ich den Dolmetsch zwischen Friedrich und dem fremden Knaben machen mußte.
Friedrich begann übrigens schon etwas Isländisch zu verstehen und mußte darum sogleich dem Jungen etwas von Dänemark erzählen: von den hohen Bäumen dort, von den dänischen Pferden, die viel größer sind als die isländischen, von den Eisenbahnen, von dem schönen Kopenhagen, und von manchem anderen, was alles für den kleinen Isländer geradeso neu war wie für Friedrich alles Isländische.
»Da muß es aber schön zu wohnen sein in Dänemark«, meinte darauf der Knabe. –
Als er wieder umkehren wollte und sich von uns verabschiedete, schenkte ihm Friedrich ein kleines Andenken, worüber er sich ungemein freute. Nach der Gewohnheit vieler isländischer Kinder bedankte er sich mit einem Kuß. Dann wünschte er uns eine glückliche Reise und ritt frisch und fröhlich heimwärts. –
Bemerkt sei hier noch, daß man im Innern von Island niemals einen Fußgänger trifft, sondern alles reitet da zu Pferd.
Indessen begann bereits die abendliche Sonne die Bergspitzen zu umglänzen, und wir konnten schon in der Ferne, tief unten im Tal, den Hof Middalur sehen, unser erstes »Hotel«. Der Hof liegt eine Viertelmeile links abseits vom Wege.
Als wir ihm ungefähr gegenüber waren, wandten sich die Pferde, ohne daß wir sie dazu ermunterten, nach links, denn sie wissen aus Erfahrung, daß es um diese Zeit ins Nachtquartier geht. Und sobald sie merkten, daß wir sie ruhig in der eingeschlagenen Richtung gehen ließen, verdoppelten sie den Schritt. Wir konnten sie kaum mehr zurückhalten.
Hier war aber kein Weg, und so mußten die armen Tiere sich sehr abquälen; bald sanken sie bis zu den Knieen in den Sand ein, bald ging es bergauf, dann wieder bergab. Doch sie wurden deswegen nicht mutlos, denn jetzt waren wir ja bald bei dem schönen Hof, und sie wußten, daß sie es da gut haben würden.
Wir befanden uns noch oben auf den Höhen, das Gehöft lag tief unten zu unsern Füßen. Noch etwa zehn Minuten ging es steil hinab, dann konnten wir am Ziele sein.
Bevor wir den Abstieg begannen, machten wir einen Augenblick halt, um die Koffer zurechtzurücken und die weite, prächtige Aussicht zu genießen:
Zur Rechten lagen drei große Seen in einer meilenbreiten Talebene zwischen zwei hohen, parallelen Bergketten. Links zog sich der mächtige Gebirgsstock der Esja hin bis zurück gegen Reykjavik und nordwärts in das Land hinein; an ihm mußten wir noch den ganzen folgenden Tag entlangreiten.
Es war gegen 9 Uhr abends. Die Luft war hell und klar. Unten vor uns winkte der Hof, umgeben von ausgedehnten saftigen Grasflächen; die Leute waren noch draußen beim Heumachen, ein gutes Stück von den Häusern entfernt.
Wir schwangen uns wieder in den Sattel. Furchtlos und mit gewohnter Sicherheit wie Gemsen kletterten jetzt unsere Pferde den steinigen, steilen Abhang hinunter. Wir mußten uns stark im Sitz zurücklehnen, um nicht aus dem Gleichgewicht zu fallen.
Ernstlich bange wurde ich um Friedrich, denn ich fürchtete, er könnte über den Hals seines Pferdes hinausgleiten und den schlimmen, schroffen Hang hinunterstürzen, zumal da ich selber einem solchen Schicksal wiederholt sehr nahe war. Die Pferde waren nicht mehr zum Stehen zu bringen: sie wollten zum Nachtquartier und beeilten sich, dahin zu kommen.
Endlich erreichten wir den Hof und das »Hlad«, den kleinen gepflasterten Platz vor den isländischen Häusern.
Der Bauer auf dem Feld hat bereits die fremden Gäste gesehen und kommt von seiner Arbeit weg langsam auf uns zugeschritten. Wir grüßen ihn in der üblichen Form. Auf unsere Frage, ob wir die Nacht bei ihm bleiben könnten, antwortet er sofort mit freundlicher Zustimmung und ruft dann ins Haus hinein: »Helgi!«
Ein kleiner Knabe kommt herausgesprungen, eilt zu unseren Pferden und beginnt schon, sie abzusatteln.
Ich will ihm helfen, die schweren Koffer herunterzunehmen. Jedoch der Bauer wehrt es mir höflich:
»Dafür wird schon gesorgt«, sagt er. »Ihr seid jetzt müde; bitte, kommt mit herein!«
Wir folgen ihm durch einen breiten, dunklen Gang. Zu beiden Seiten sieht man im Halbdunkel mächtige, rauhe Holzbalken, die wohl ein paar hundert Jahre alt sind, und dazwischen die nackte Rasenwand. Dann geht es zur Rechten in einen andern, vollständig dunklen Gang.
»Auf die Stufen achten!« sagt der Bauer.
Wir gehen ein paar Stufen hinauf, indem wir uns im Dunkel vorwärtstasten.
Zuletzt öffnet sich eine Tür, und wir treten in ein nettes, kleines Fremdenzimmer, das ganz mit neuem Holz ohne Bemalung verkleidet ist. In der Mitte steht ein runder Tisch, an den Seiten ein Schrank und eine Kommode von wahrhaftig dem feinsten Mahagoniholz, ein Sofa, eine große, altertümliche Truhe und ein schönes – Harmonium! An den Wänden hängen verschiedene eingerahmte Bilder.
Gleich nachdem wir eingetreten waren, brachte der Sohn des Bauern unsere Koffer herbei, und schon kam auch die Tochter, um zu fragen, was wir zum Abendessen wünschten. Ich überreichte ihr einige unserer Blechdosen und bat, sie eine Viertelstunde in kochendes Wasser zu legen.
Nun gab es eine vorzügliche Mahlzeit. Ganz ausgezeichnet schmeckte die warme, frischgemolkene Milch, die wir bekamen; sie hatte einen wunderbar feinen Geschmack von duftenden Bergkräutern. Ebenso vortrefflich mundete das kernige Brot dazu.
Nach dem Essen ging ich hinaus, um nach unsern Pferden zu sehen. Ich fand sie, wohl eine Viertelstunde weit entfernt, auf einer Wiese, wo sie so eifrig am Grasen waren, daß sie bei meinem Kommen nicht einmal aufblickten. Selbst als ich ihnen auf den Rücken klopfte, begnügten sie sich damit, nur rasch die Augen ein wenig zur Seite zu wenden.
Die armen Tiere! Für sie ist es so überaus wichtig, die kurze Zeit der Ruhe, die man ihnen auf den langen Reisen über das gebirgige Land vergönnt, möglichst auszunützen. Die Anstrengungen des Tages übersteigen bisweilen ihre Kräfte, wie das die Pferdeskelette beweisen, denen man da und dort im Innern des Landes begegnet.
Als ich den grasenden Tieren näher gekommen war, sah ich, daß sie jedesmal, wenn sie einen Schritt vorwärts tun wollten, beide Vorderbeine heben mußten. Diese hatte nämlich der Bauer wie üblich mit einem eigens dafür eingerichteten Strick tüchtig gefesselt, damit die Pferde nachts nicht in die Versuchung kämen, nach Reykjavik zurückzulaufen.
Ich hätte den lieben, treuen Tieren wirklich eine behaglichere Nachtruhe gegönnt. Aber da ließ sich jetzt nichts ändern: so ist es Sitte und Brauch, und unter den obwaltenden Umständen war die Fesselung zugleich eine Notwendigkeit. Ich mußte also die Pferde ihrem harten Schicksal überlassen.
Bevor wir an dem Abend selber zu Bett gingen, um uns von den Beschwerden der ersten Tagreise zu erholen, schenkte uns der liebenswürdige Bauer noch eine Zeit lang seine Gesellschaft. Wir mußten ihm alles Neue erzählen, was wir von der Hauptstadt und von den fremden Ländern wußten, aus denen wir kamen.
Es ist überraschend, wie groß die geistige Regsamkeit dieses Volkes ist und wie hoch es sich entwickelt hat. Nichts ist für diese Menschen gleichgültig, alles interessiert sie. Überall, auch in den einsamsten Gegenden der abgelegenen Insel, trifft man noch heute dieselbe Lust, Neuigkeiten zu hören, wie das in alten Tagen war, wo selbst einmal eine bewegte Volksversammlung Hals über Kopf aufgelöst wurde, weil sich die Nachricht verbreitete, ein fremdes Schiff sei soeben im benachbarten Hafen eingelaufen! –
Während der Unterhaltung richteten wir an unsern freundlichen Wirt auch die Frage, wo er das schöne Harmonium gekauft habe, das in der Stube stand.
»Das habe ich nicht gekauft«, sagte er mit einem bedeutsamen Lächeln, »das hat mein Sohn hergestellt.«
»Ihr Sohn? – Wie ist das möglich! – Sie machen wohl nur Scherz?«
»O nein, das ist eine sehr einfache Sache. Mein Sohn ist eine Zeit lang in Reykjavik gewesen, da hat er ein Harmonium aus Kopenhagen gesehen; er hat dann die ganze Einrichtung des Instruments studiert und hat es schließlich in seinen freien Stunden allmählich nachgemacht. Die Sache hatte nur den einen Haken, daß es oft schwer war, sich die verschiedenen Bestandteile zu verschaffen.«
Noch höher aber stieg unsere Verwunderung, als wir hörten, daß derselbe junge Mann mit unendlichem Fleiß und größter Ausdauer, bloß durch das Beobachten anderer, sich selbst das Spielen auf dem selbstgeschaffenen Harmonium beigebracht hat. Tags darauf spielte er uns wirklich eine Reihe dänischer und isländischer Volksweisen vor und sang dazu. Es mangelte natürlich an Schulung, aber die Akkorde waren richtig.
Man sagte uns, daß es auf vielen Höfen weiter im Innern des Landes noch größere und schönere Instrumente als dieses gebe, alle von den Bauern selbst ausgeführt. Und wir bekamen auch solche zu sehen. Ein junger Bauernsohn im Nordland hatte schon eine ganze Anzahl sehr schöner Harmoniums geschaffen und an verschiedene Gehöfte in der Gegend verschenkt. Eines davon sahen wir auf dem Hofe Mödruvellir im Eyjafjördur; es war so fein und schön, daß man hätte glauben sollen; es sei im Ausland gekauft. –
So verlief dieser Abend sowie der ganze Aufenthalt auf dem Hofe in der angenehmsten Weise für uns. Die Nacht über schliefen wir vorzüglich in besten, sauberen Betten.