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Je weiter wir uns vom Lande entfernten, desto unruhiger wurde das Meer. Ich ging deshalb zu einem alten Matrosen und fragte ihn, welche Aussichten wir wohl mit Wind und Wetter hätten.
»Es wird schon eine bewegte See geben«, antwortete er mit einem Kennerblick auf Himmel und Meer. »Sehen Sie die weißen Schaumspitzen auf den Wogen?«
Ich schaute über das Meer hin und betrachtete das Spiel der Wellen. Rings um das Schiff und weit im Umkreis wogten und schäumten sie. Es war gleichsam, als wenn eine unzählige Schar kleiner, schneeweißer Lämmer beständig darauf hin und her hüpften. Sie sprangen ohne Unterlaß bald in die Luft empor, bald seitwärts hierhin und dorthin, und es schien, daß ihrer stets mehr und mehr wurden.
Die alte Edda, an die ich hier erinnert wurde, vergleicht allerdings die Wogen und ihre Schaumkronen nicht mit weißen Lämmern; in ihr sind es der Göttin Kolga unruhige Schwestern, Ågirs und Rans starke Töchter. Diese Jungfrauen, heißt es da, »weinen aus Herzenslust und werfen ihre Schleier hoch hinauf zum Himmel«. Sie umringen das Schiff, drängen sich heran, fassen es, schütteln es mit ihren starken Armen, heben es mutwillig empor mit ihren breiten Schultern und ziehen es dann wieder hinab in die Tiefe.
Ja, der alte Matrose hatte recht: es gab eine bewegte See, und mit der Edda konnten wir sagen, daß wir wirklich den »weinenden Jungfrauen« begegnet waren. Wir hörten ihr unablässiges Schluchzen und merkten nur allzu gut, wie kräftig sie unser Schiff gepackt hatten.
Als wir uns dem unruhigen Kattegatt näherten, wurde das Schütteln des Schiffes geradezu unheimlich. Die meisten Passagiere verschwanden in ihren Kabinen: zuerst die Damen mit ihren Kindern, schweigend und bekümmerten Angesichts; dann die Herren, einer nach dem andern, jedoch ganz ruhig, so wie zufällig, als wollten sie bloß irgend etwas heraufholen.
Aber keiner kam wieder auf Deck!
Der Grund dieses Verschwindens war nicht schwer zu erraten, besonders wenn man die leichenblassen Gesichter betrachtete. – Ja, das Spiel der »weinenden Jungfrauen« wirkt eben nicht auf jedermann gleich und vor allem nicht angenehm. – So unglaublich es klingen mag: als zum Mittagessen geläutet wurde, waren wir insgesamt nur noch vier Reisende auf Deck! –
Etwa fünf Minuten später warf ich einen flüchtigen Blick in den Speisesaal, um zu sehen, wieviele wohl an der Tafel säßen. – Ich machte auch hier die gleiche Beobachtung: zwei Herren und mein kleiner, munterer Reisekamerad, der mit seinem jugendlichen Appetit sich offenbar jedem Essen gewachsen zeigen wollte, bildeten die ganze Mittagstischgesellschaft. Alle übrigen hatten bei der immer stärker werdenden Bewegung des Schiffes an völlig andere Dinge zu denken! –
Als ich wieder auf das Deck hinausgegangen war, kam der Kellner auf mich zu und fragte mich freundlich, ob ich nicht zu Mittag speisen wollte.
»Gern«, erwiderte ich, »wenn ich das hier oben kann.«
»Gewiß«, sagte der dienstbereite Mann, »ich werde Ihnen bringen, was Sie wünschen.«
Man spricht von so vielen Mitteln gegen die Seekrankheit. Da will ich einmal auch das meinige angeben:
Ich kenne für mich kein bewährteres Mittel, als so lange wie möglich oben in der frischen Luft auszuhalten und am besten ruhig in der Mitte des Schiffes, wo die üble schwankende Bewegung nicht so groß ist, auf und ab zu gehen und dabei tüchtig die Gedanken und die Aufmerksamkeit von der unbehaglichen Krankheit abzulenken.
Das hat mir immer am sichersten geholfen, während dagegen die eigentümliche Luft unten in den Kabinen, selbst bei ruhigem Wetter, schon oft und in kürzester Zeit alle Schrecken der Seekrankheit über mich gebracht hat. Allerdings muß man gut für zwei Dinge sorgen: erstens muß man sich warm halten, und zweitens darf man trotz aller Übelkeit die gewöhnlichen Mahlzeiten nicht unterlassen; doch heißt es dabei sehr mäßig sein.
Dieser Erfahrung folgend, speiste ich oben auf Deck zu Mittag und bewegte mich die übrige Zeit, fast ganz allein, angetan mit Regenmantel und hohen, wasserdichten Gamaschen, langsam in der frischen Luft hin und her. Ab und zu plauderte ich mit dem einen oder andern Matrosen. –
Die Wogen gingen allmählich höher und höher, das Schiff schwankte unablässig auf und nieder, es wurde gerüttelt und geworfen. Das Wasser spritzte und klatschte wie im Takt über das Deck hin. Auf besseres Wetter war keine Aussicht. –
Am Abend brachte mir der wackere Kellner mein Essen wieder auf Deck, und ich nahm es abermals unter freiem Himmel ein. Der kleine Friedrich dagegen, der nichts von Seekrankheit spürte, aß unten im Speisesaal.
Ich befand mich verhältnismäßig wohl.
Als es anfing, dunkel zu werden, sah man da und dort im Umkreis rote und grüne Punkte zwischen den Wogen aufleuchten. Das waren die Laternen der vielen Schiffe, die immer in diesen Gewässern verkehren.
Für mich entstand jetzt die Frage: Wo soll ich die Nacht zubringen?
Bei meinem Spaziergang auf Deck kam ich nämlich gerade an der Treppe zu den Kabinen vorbei, da schlug mir eine üble warme Luft entgegen. Ich sagte mir sofort: Nein, dahinunter gehe ich nicht! Lieber bleibe ich jede Nacht oben im Freien, als daß ich ein solches Gift einatme!
Ich besorgte mir nach einigem Überlegen ein paar wollene Decken und richtete mir im gut gelüfteten Rauchsalon ein Lager her.
Mein »Bett« war durchaus behaglich geworden, so daß ich eine gute Nacht erwarten durfte. Ich legte mich bequem zurecht und schloß die Augen. –
Jetzt aber vernahm ich deutlich, was unten in den Schlafkabinen vor sich ging: Es waren Geräusche, die sich nicht lustig anhörten – ein »Konzert« von etwas unheimlicher, beinahe herzzerreißender Art! ...
Ich hatte oft in Reiseschilderungen diesen Vergleich gefunden, und ich glaubte, er sei geschmacklos: aber hier, mitten in der Wirklichkeit, da fand ich, daß das Bild durchaus zutrifft. Während ich nämlich auf meinem Lager ruhte, drangen die wunderlichsten Laute wie von Gespenstern aus einem Grabe zu mir herauf:
Bald war es ein tiefes Baßsolo, bald einige Sopranstimmen in hohen, schneidenden Trillern: wie mir schien, ein paar gesunde kräftige Jungen mit ihrer Mutter.
Dann hörte man deutlich den Text: »Mutter, Mutter, laß mich ans Land! laß mich ans Land! – Ich will nicht! ich will nicht!«
Auf einmal wurden die Sopranstimmen von einem hellen Tenor unterbrochen, der jetzt für einige Zeit alles andere übertönte; und endlich fiel der ganze Chor ein mit einem erschütternden Fortissimo. –
So blieb es mit allen möglichen Änderungen der Stimmen und Töne, während »Ägirs starke Töchter« rings um uns immer wilder und wilder wurden.
Zuletzt aber fiel ich doch in Schlaf, trotz allem Jammern und Stöhnen unten im Schiff und trotz dem rasenden Lärm der Wogen draußen auf dem Meere.
Die Geister des Sturmes hörten nicht auf, uns zu »wiegen«. Sie packten immer von neuem unser Schiff und wendeten und drehten es fortgesetzt. Bald lag ich auf der linken Seite, bald auf der rechten; bald stand ich nahezu auf dem Kopf, bald wieder auf den Füßen. Nie hatte ich Rast oder Ruhe.
Dennoch schlief ich, oder besser gesagt, schlummerte ich ganz gut in meiner sturmumbrausten Einsiedelei über dem »Konzertsaal«. –
Als es hell wurde, stand ich hurtig auf und freute mich des neuen Tages.