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Am zweiten Tage, nachdem wir von den Färöern abgefahren waren, begannen Passagiere und Schiffsmannschaft gegen Mittag lebhaft nach Land auszuschauen. Die Südwestküste von Island konnte nämlich nicht mehr ferne sein.
Endlich ging es wie ein Lauffeuer über das ganze Schiff:
»Land auf Steuerbord!«
Ein Matrose hatte es deutlich gesehen.
Nun strömt alles zum Vordersteven. Oben auf der Kommandobrücke stehen der Kapitän und der erste Steuermann mit dem Fernglas in der Hand. Niemand außer ihnen sieht etwas; aber der Matrose bleibt bei seiner Behauptung, daß Land in Sicht sei.
Nach einer Stunde sieht man wirklich weit draußen am Horizont eine bläuliche Linie, die beständig höher und höher steigt. Und wieder ein paar Stunden, da erheben sich mächtige Berge über die Wasserfläche.
Das muß der Öraefajökull (Öraefagletscher) sein, der ungeheure, mit Eis und Schnee bedeckte Vulkan. Aber wegen der großen Entfernung sehen wir ihn nur schwach.
Wir fahren unverweilt weiter in westlicher Richtung. Das Land samt dem großen Jökull verschwindet wieder, um später in vollständig veränderter Gestalt aufs neue zu erscheinen. Diesmal sehen wir gewaltige, dunkelgraue Felsen, die steil aus dem Meere emporragen, und im Hintergrund eine ganze Versammlung von Jökulls, einen neben dem andern: Mýdalsjökull, Botnajökull, Gotalandsjökull, Torsajökull.
Welch ein Anblick! – Großartig! mächtig! – Aber zugleich unendlich ernst und düster.
Neben diesen Bergesriesen gleicht unser Schiff einer kleinen Nußschale, einem unbedeutenden Nichts. Hier herrscht in ihrer ganzen Macht und Größe die wilde, unbezwungene Natur, die nie von einer Menschenhand berührt wurde.
In schneller Fahrt geht es dann vorüber an Hjörleisshöfdi, einer ungeheuren Felsenmasse, die sich einsam an der dunklen Küste erhebt und rings von einer vollständig neuen Landschaft umgeben ist:
Auf beiden Seiten dehnt sich eine düstere Sandwüste aus, Mýrdalssandur genannt, zur Rechten von einem breiten Fluß, dem Kutafljót, begrenzt. An dem Flusse sieht man einen runden grünen Fleck, in dessen Mitte scharfe Augen einen kleinen, schwarzen Punkt entdecken können. Das ist Thikkvabaers-Kloster, früher ein wirkliches katholisches Kloster, jetzt ein einsamer Hof in dieser Wüste.
Hinter dem Felsen ist ein Weg, den man aber nur mit einem zuverlässigen Führer benützen kann. Wie erzählt wird, sei es nämlich mehr als einmal geschehen, daß ein unvorsichtiger Reiter sich draußen in der Sandwüste verirrte und in die hier so häufigen Sümpfe versank, so daß nie wieder eine Spur von Roß und Reiter gesehen wurde – für Friedrich und mich ein eigenartiges Gefühl, wenn wir an unsern eigenen bevorstehenden Ritt durch dieses Land dachten.
Ein ganz neuer Anblick bietet sich nach Hjörleifshöfdi: Es kommt Portland oder Dyrhólaey, eine lange, vorspringende Landzunge, vor der ein hoher, steiler Felsen, nicht weit vom Lande entfernt, eine natürliche Wölbung oder Pforte bildet (daher der Name), durch die unser Schiff bequem hätte durchfahren können. Wir dampften jedoch mit voller Kraft daran vorbei.
An Backbord tummelt sich hier eine Schar Wale, aber man schenkte ihnen kaum noch Beachtung. Wir alle waren hingerissen von dem großartigen Blick aus das Land. Für die meisten von uns war das eine vollständig neue Welt. Neben den Bergesriesen auf der Insel nehmen sich die größten Walfische nur wie kleine Zwerge aus. –
Die Fahrt ist kurzweilig. Es ist schon gegen 8 Uhr abends. Die Sonne ist noch nicht untergegangen. Sie verbirgt sich überhaupt nur für eine kleine Weile hinter der eigenartigen Jökullandschaft zu unserer Rechten.
Wir entfernen uns wieder vom Land, und wiederum zeigt sich etwas vollständig Neues. Vor uns, weit draußen im Meer, etwa 10 Meilen weit, sieht man eine Inselgruppe. Schwarze Felsengebilde ragen hoch über die Meeresfläche empor:
Das sind die Vestmanna-Inseln, die im Jahre 1627 ein so trauriges Schicksal hatten. Sie wurden damals von drei algerischen Seeräuberschiffen angegriffen.
Das klingt unglaublich, aber es ist wahr: die nordafrikanischen Räuber trieben wiederholt hier oben bei Island ihr Unwesen. Sie brannten die Kirche und die Handelshäuser nieder und schleppten gegen zweihundertfünfzig Einwohner als Sklaven nach Afrika; die übrigen töteten sie.
Diese merkwürdigen Inseln waren unsere erste isländische Station. Wir erreichten sie nach fünf Stunden Fahrt in den isländischen Gewässern zwischen 1 und 2 Uhr nachts.
Die Passagiere wären hier am liebsten die ganze Nacht aufgeblieben, um die bezaubernde Herrlichkeit dieser Landschaft zu bewundern. Aber plötzlich ward alles in Nebel gehüllt – das schöne, seltsame Bild war auf einmal verschwunden. Darauf begaben sich die meisten doch in ihre Kojen.
Der kleine Friedrich, der schläfrig geworden war, folgte ihrem Beispiel; ich dagegen konnte mich trotz des Nebels nicht dazu entschließen: befand ich mich hier doch wieder in meinem lieben Vaterland, das ich fast fünfundzwanzig Jahre nicht mehr gesehen hatte!
Menschen, die Gefühl für ihre Heimat haben, werden verstehen können, daß es mir da unmöglich war, zu schlafen. Mein ganzes Innere war in höchster Spannung.
Ich blieb also auf Deck und ging auf und ab, tief in Gedanken und Erinnerungen versunken und noch immer gefangen von all den neuen Eindrücken und Bildern ringsumher. –
Meine Ausdauer sollte ich nicht bereuen. Nach ein paar Stunden erhob sich ein starker Sturm, der in wenigen Minuten den Nebel wegfegte, und mit einem Schlag tat sich jetzt eine Landschaft auf, die bei weitem alles übertraf, was wir bisher auf unserer Fahrt gesehen hatten:
Nahe vor uns, nur noch eine dänische Meile entfernt, die zaubervollen, prächtigen Vestmanna-Inseln, rechts in der Ferne auf Island, im Goldglanz der nordländischen Abendsonne, eine ganze Gruppe Jökulls: zunächst der mächtige Eyjafjallajökull, dann weit im Hintergrund Islands bekanntester Vulkan, die Hekla.
Das war ein unbeschreiblich schönes Schauspiel.
Aber das Merkwürdigste war die Beleuchtung, besonders wenn man bedenkt, daß es um Mitternacht herum war. Unendliche Massen von Eis und Schnee erstrahlten, soweit das Auge reichte, als ob sie in lichterloher Glut stünden. Der ganze nordwestliche Horizont nahm sich eine Zeit lang aus wie ein einziges Feuermeer! Selbst die eiskalten, schimmernden, weißen Jökulls erschienen nicht mehr leblos in dieser purpurroten und goldfarbenen Wunderbeleuchtung. Es war überwältigend: so schön, so groß, so herrlich, daß ich lange wie außer mir vor Bewunderung dastand.
Alles in dieser sonst so ernsten Natur war wie durch einen Zauberschlag lauter Licht und Leben geworden.
Das mußten unsere Passagiere alle sehen! Schnell wurden darum die Schlafenden drunten in ihren Kojen geweckt, und kurz nach 1 Uhr nachts, als wir bei den Vestmanna-Inseln anlangten, waren alle, fertig angezogen, oben auf Deck versammelt.
Die Gehöfte, die man jetzt drüben auf Island deutlich erkennen konnte, lagen so dicht unter dem Eyjasjallaberg, daß es schien, als müßten sie jeden Augenblick von den ungeheuren Eismassen hoch oben gerade über ihnen erdrückt werden.
Alles war ergriffen von dem großartigen Bild. Zwei deutsche Herren hörte ich ausrufen:
»Wir haben die ganze Schweiz durchreist, aber so etwas haben wir nie gesehen!«
Plötzlich macht unser Schiff halt. Ein lauter, langer Pfiff gellt durch die Nacht. Mit voller Kraft will die Dampfpfeife die Bewohner der Inseln wecken, die eben in ihrem süßesten Schlafe liegen. Wir sollen nämlich von den Vestmanna-Inseln Waren und Reisende nach Reykjavik aufnehmen, darum muß schnell ein Boot vom Lande herbeigerufen werden.
Wir bekamen also hier das erste isländische Fahrzeug und die ersten Isländer zu sehen!
An Bord herrscht nun begreiflicherweise große Erwartung. Aber der Wind scheint an Heftigkeit zuzunehmen; es kann noch keine Rede davon sein, daß wir Anker werfen, das Schiff muß ständig unter Dampf gehalten werden.
Eine gute Viertelstunde nach dem ersten Signal pfeift es von neuem mit aller Kraft. Am Lande aber rührt sich wieder nichts. Trotzdem wir uns eine halbe Stunde lang so nahe wie möglich an der Küste halten, scheint die Dampfpfeife nichts auszurichten.
Zur Maschine hinunter wird jetzt ein neues Kommando gegeben. Das Schiff macht darauf eine Schwenkung nach rechts und dampft nach der andern Seite der Insel, um dort die Weckversuche zu wiederholen.
Abermals ruft die Dampfpfeife, lang und kräftig. Aber auch hier ist keine Wirkung wahrzunehmen. Die See sei allzu gefährlich, meinen die meisten; die Leute würden es vermutlich vorziehen, sich lieber nicht in diesen Sturm zu begeben.
Ich ging jetzt zu einer Gruppe Engländer hin, die ja im Rufe stehen, sich in der Seefahrt auszukennen, und fragte sie um ihre Ansicht. Sie schüttelten den Kopf und sagten, ein Boot könne sich unmöglich bei einem solchen Wetter herauswagen.
Da war also guter Rat teuer. Sollten wir weiterfahren nach Reykjavik, oder sollten wir die ganze Nacht hier warten?
Der Kapitän fuhr fort, die stärksten Signale zu geben.
Auf einmal erschallt der Ruf:
»Ein Boot vom Lande!«
Alle schauen angestrengt nach der bezeichneten Richtung. Und wirklich, ein kleiner dunkler Punkt bewegt sich dicht unter einem hohen vorspringenden Felsen am Ufer. Er verschwindet von Augenblick zu Augenblick vollständig zwischen den Wassermassen, dann zeigt er sich wieder deutlich hoch oben auf dem Kamm einer Woge.
Kein Zweifel mehr, es ist wirklich ein Boot.
Alle Augen folgen ihm.
»Hurra, das sind wackere Seeleute!« hört man jetzt von allen Seiten. »Wenn es nur gut geht!«
Man merkte, daß hier eine Gefahr drohte.
Die Spannung bei den Passagieren stieg immer höher. Es wurde ganz still. Einige Matrosen begannen an den Schiffsbooten zu arbeiten.
Das machte die Sache nicht angenehmer.
Trieb man hier wirklich ein Spiel mit Menschenleben? – Die wilden, heulenden Wasser ließen das Schlimmste befürchten.
Doch das Boot vom Lande kam näher und näher heran.
Mit einem Male dreht unser Schiff, die »Botnia«, und fährt zu einer Stelle, wo etwas mehr Schutz vor dem Winde zu sein scheint; denn in einem solchen Seegang bei unserem Schiff anzulegen, war eine reine Unmöglichkeit für das kleine Boot.
Alles verharrt in ängstlicher Spannung.
Endlich kann man Leute in dem kämpfenden Fahrzeug unterscheiden:
Da waren zunächst acht Ruderer und ein Steuermann.
Die Ruderer waren alle von oben bis unten in Leder gekleidet; auf dem Kopfe hatten die einen Pelzmützen, die andern mächtige Südwester. Die meisten trugen starke Bärte, einer sogar einen schneeweißen. Zwei sahen ganz jugendlich aus, ohne eine Spur von Bart; es waren zwei Knaben von vierzehn bis sechzehn Jahren.
Nur der Steuermann stach merkwürdig von allen andern ab. Er war gekleidet wie ein Stadtherr aus Kopenhagen, mit seinem schwarzem Anzug, weißem Kragen und weißen Manschetten, und rauchte – mitten in dem Sturm – eine Zigarre!
Zwischen den Ruderern saß wohl ein halbes Dutzend Männer und Frauen, ja selbst Kinder, die mit unserem Schiff nach Reykjavik wollten. Unten im Boot lagen eine Menge Säcke und andere Gegenstände, die nach dem Festland, das heißt nach Island, mitzunehmen waren.
Wir beobachteten mit Spannung das kleine Fahrzeug. – Wie in aller Welt wird es sich bei derart bewegter See an der eisernen Seitenwand unseres Schiffes halten können, ohne zerschmettert zu werden? Alles schaukelt ja und wird mit Wucht und Gewalt von den empörten Wogen hin- und hergeworfen.
Sobald das Boot, das viel größer ist, als es anfänglich schien, unser Schiff erreicht hat, zieht seine Mannschaft auf Kommando blitzschnell alle acht Ruder ein. Im selben Augenblick haben vier Mann dicke, lange Stangen gefaßt, womit sie sich den starken Stößen unseres Schiffes entgegenstemmen. Vom Deck aus wirft man gleichzeitig zwei Taue ins Boot hinab. Die werden sofort von zwei andern Ruderern ergriffen, die eilends jeder nach seiner Ecke des Fahrzeugs gesprungen sind; beide ziehen die Taue jetzt aus Leibeskräften gegen sich.
Solange das Boot neben uns liegt, halten die vier Männer es mit den Stangen ein kleines Stück vom Schiff entfernt, während die beiden andern ständig an den Tauen ziehen, die oben bei uns auf Deck befestigt sind. Infolgedessen kommt das Boot nicht ein einziges Mal dazu, an den Dampfer zu stoßen.
Das ganze Manöver wurde so leicht und sicher ausgeführt, daß man wohl merken konnte, wie die Leute das nicht zum ersten Mal taten. –
Nun wurden Männer und Frauen, Erwachsene und Kinder, Säcke und Waren, alles ungefähr auf dieselbe Weise, an Deck befördert.
Als das Boot geleert war, füllte man es rasch vom Schiff aus wieder mit den verschiedensten Dingen, die wir von Kopenhagen mitgebracht hatten: mit Kisten und Paketen, mit Kleinen Fässern, Holz- und Metallgegenständen, daß es fast bis an den Rand voll wurde.
Dann verabschiedete man sich gegenseitig. Das Boot ruderte wieder ans Land, und wir dampften davon nach Reykjavik, wo wir in etwa zwölf Stunden sein sollten.