Bertha von Suttner
Martha's Kinder
Bertha von Suttner

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XXXV.

Martha Tilling hatte ihr Ruhebett zur offenen Balkontür schieben lassen, und hier lag sie, mit Kissen unter dem Kopf und einer Decke über dem Schoß. Von ihrem letzten Anfalle war ihr eine große Mattigkeit geblieben, und trotz der Sonnenwärme fröstelte es sie.

Rudolf trat herein und eilte auf das Lager zu:

»Mutter! Liebste!«

Er hatte sich neben sie gekniet und sie drückte seinen Kopf an ihre Brust.

»Mein Rudolf ... wie freu' ich mich, daß Du da bist ... und daß ich – nicht fort bin.

»Du wirst bald wieder ganz gesund sein.«

»Möglich ... Wollen's hoffen ... obgleich – – nein, fürchterlich wäre es mir gewesen, wenn ich so plötzlich, ohne Dich noch einmal zu sehen ... das war mir das Schmerzlichste bei meinem Anfall – wie ich glaubte, daß es schon aus sei und Du so weit weg ...«

»Jetzt bleibe ich bei Dir, bis zu Deiner vollen Genesung –«

»Oder bis zu meinem – nein, denken wir nicht daran ... ich bin so froh, daß Du gekommen bist. Wir werden uns ja viel zu erzählen haben.«

Als Rudolf einige Stunden später sich in seinem Zimmer umgezogen hatte und in das Speisezimmer zum Diner hinabging, fand er da außer Sylvia und Cajetane den Grafen Kolnos, der seit einigen Wochen Marthas Gast in Grumitz war. Der junge Mann empfand eine aufrichtige Freude, den älteren Freund hier zu treffen; auch wußte er, wie seine Mutter Kolnos schätzte und daß es ihr lieb sein werde, während ihrer Rekonvaleszenz dessen Gesellschaft zu genießen. Er war fest überzeugt, daß sie bald wieder hergestellt sein würde. Die Angst, sie nicht mehr zu finden, war so schmerzlich gewesen, daß die darauf folgende Freude eine umso intensivere war und nun keine neue Angst mehr aufkommen ließ; – die Nähe des schönen Mädchens – der Schreiberin der anonymen Briefe, das wußte er längst – trug auch dazu bei, seine Stimmung zu heben; und in wirklich froher Laune nahm er an der kleinen Tafelrunde Platz. Vergessen und verscheucht alle seine eigenen Kampfsorgen – nur ein eigentümliches Gefühl von Herzensbehaglichkeit erfüllte ihn.

Dieses Grumitzer Speisezimmer, wie weckte das auch so freundliche Kindheitserinnerungen in ihm! Es war noch alles so wie vor dreißig Jahren: dieselben Bilder, Frucht und Wildstücke – an den Wänden: dieselbe große silberzeuggeschmückte Kredenz aus geschnitztem Eichenholz – diese unheimlichen Vögel Greif mit den herabhängenden Flügeln und wie zum Schnappen offenen Schnäbeln, die hatten ihm stets einen ganz besonderen Eindruck gemacht – und wie einem manchmal eine schwache Erinnerung an einen Duft, an einen Geschmack durchzuckt, so durchzuckte ihn jetzt eine Mahnung an jene damals so starke Vogel-Greif-Sensation; und andere Bilder daneben; wenn der kleine Junge zum Dessert hereingeführt wurde, da nahm ihn Großpapa Althaus auf den Schoß und gab ihm eine Frucht oder ein Bonbon; er sah noch den struppigen weißen Schnurrbart, den lose aufgeknöpften blauen Generalsrock ...

Alle diese Vergangenheits-Erinnerungen erhöhten die Behaglichkeit seiner Stimmung und in heiterem Tone begann er mit den anderen zu plaudern. Aber er fand keinen Widerhall. Auf ihren Gesichtern lag ein düsterer Schatten. Sie antworteten ihm einsilbig und in gedämpftem Ton. Von Sylvia wunderte ihn dieses Gebaren nicht – sie trug ja schwer an ihrer Trauer, aber was bedrückte Kolnos und Cajetane? Sollte die Gefahr doch nicht behoben sein – wußten sie etwa von einer hoffnungslosen Prognose des Arztes?

»Warum seid Ihr so traurig?« fragte er. »Der Zustand unserer Kranken ist doch nicht mehr furchterregend?«

Kolnos seufzte: »die unmittelbare Gefahr scheint gehoben,« antwortete er, »aber –«

»Aber was?«

»Es war ein fürchterlicher Moment vorgestern – und das kann sich wiederholen– –«

Jetzt war Rudolfs momentane frohe Laune wieder verflogen. Er war sich neuerdings bewußt, daß diesem Hause der Engel des Todes schon gar nahe gewesen; hatte er doch vor wenigen Stunden selber gefürchtet, ihn hier zu finden ...

Und mit diesem Stimmungswechsel tauchten jetzt auch andere Erinnerungsbilder aus seiner Grumitzer Kinderzeit in ihm auf ... nichts mehr von Spielen und Festen, sondern jene Sterbewoche des Kriegsjahres 1866, aus der sich eine Kette von Angst- und Schreckensszenen in sein Gedächtnis gegraben hatte ...

Der Rest des Mahles verlief ziemlich schweigsam. Gleich nach dem Essen entfernte sich Sylvia, um bei der Mutter nachzusehen.

»Bring' uns Nachricht,« sagte ihr Rudolf, »und frage sie, ob jemand von uns ihr heute noch Gesellschaft leisten soll.«

Nach einer Weile kam eine Kammerjungfer und richtete aus:

»Frau Gräfin Sylvia läßt sagen, daß es der Frau Baronin viel besser ist, daß sie aber schon zu Bett gegangen und schlafen will – heute also niemand mehr sehen will. Frau Gräfin Sylvia bleibt bei ihr.«

Das Mädchen wandte sich zum Gehen. Cajetane rief ihr nach: »Sagen Sie der Gräfin Sylvia, daß ich sie in der Nachtwache ablösen werde.«

»Sehr wohl, Komteß. Ich hab' so schon, wie gestern und vorgestern, im Nebenzimmer für Komteß ein Bett aufgeschlagen.«

»Wie gut Sie mit meiner Mutter sind, Cajetane –«

»Weil ich sie liebe. «

Nach diesen Worten wurde das junge Mädchen feuerrot; es fiel ihm ein, daß man beim gesprochenen Wort nicht unterscheiden kann, ob das »sie« mit kleinem oder großem Anfangsbuchstaben gedacht sei, und rasch verbesserte es sich: »Weil ich die Baronin Tilling liebe.«

Eine Welle von Zärtlichkeit erwärmte Rudolfs Herz. Er richtete einen dankbaren Blick auf sie und drückte ihr stumm die Hand.

Sie entfernte sich bald und die beiden Männer blieben allein. »Ein liebes Geschöpf,« sagte Kolnos, nachdem sich die Tür hinter Cajetane geschlossen. »Ich weiß, welcher Trost ihre Anwesenheit hier im Hause ist ... Und sie beweist Charakterstärke, indem sie hier bleibt. Täglich erhält sie Briefe von zu Hause, wohin man sie zurückruft: die Ihren sind gar nicht damit einverstanden, daß sie so lange fortbleibt, und so manches andere ... Aber sie läßt sich nicht irre machen. Komm, ich schlage vor, daß wir unsere Zigarren draußen rauchen; es ist ja ein gar so wundervoller Abend.«

Die Fenstertüren des Speisesaals führten auf eine Terrasse, vor welcher das Blumenparterre des Parkes lag. Kolnos und Rudolf traten hinaus und ließen sich da in zwei Schaukelstühle nieder. Die Luft war warm; am mondlosen Himmel wimmelte es von funkelnden Sternen. Ein Duft von Violen und Heliothrop strich von den Beeten herauf. Allerlei Nachtgeflüster war vernehmbar: raschelndes Laub, das Tropfen einer Fontäne, ein ferner Unkenchor und nahes Grillenzirpen; manchmal das Anschlagen eines Hundes vom Dorfe her und aus dem Schlosse, dessen Fenster meist offen standen, hin und wieder die gedämpften Töne verrichteter Hausarbeit: das Schließen von Türen, Stimmen, Schritte.

Aus den Fenstern des oberen Stockes, da, wo Marthas Zimmer lagen, drang ein Schein durch die Jalousien. Kolnos schaute hinauf:

»Es ist noch Licht bei ihr,« sagte er. Dann nach einer Weile: »Hier auf der Terrasse saßen wir – sie und ich – vor einigen Tagen noch beisammen, und ich mußte ihr von meiner letzten Reise erzählen. Es war vielleicht meine letzte ...ich bin schon zu alt, um mich in fremden Zonen herumzutreiben.«

»Wo bist Du diesmal gewesen?«

»Ach, lassen wir das ... Mich drängt es, Dir etwas anderes zu erzählen – etwas, was weiter zurückliegt und was mir in diesen letzten Tagen, am Lager Deiner Mutter, das ich für ein Sterbelager hielt, wieder vor die Seele getreten ist, so deutlich und lebendig – so –«

»Was war es?« fragte Rudolf, da Kolnos bewegt inne hielt.

»Die Erinnerung an meine letzte tiefe Leidenschaft. Du sollst es wissen, Rudolf – ich habe Martha Tilling aus ganzer Seele geliebt.«

»Du? ... Meine Mutter?« rief der junge Mann erschüttert. »Und sie?«

»Sie? Ach, Du kennst sie ja: sie hat dem Toten die Treue gewahrt. Ich werde Dir einmal den Brief lesen lassen, worin sie das Angebot meiner Hand zurückgewiesen hat.«

»Wann war denn das? Daß ich niemals eine Ahnung hatte ...«

»In der Mitte der siebziger Jahre – sie war damals fünfunddreißig Jahre alt – in der Vollentfaltung ihrer Schönheit. Wir hatten eine Zeitlang korrespondiert anläßlich einer Gedichtsammlung, die ich veröffentlicht hatte und worin sie einige Strophen gegen den Krieg gefunden. Dann besuchte ich sie ... die Innigkeit des Kultus, den sie dem verlorenen, auf so tragische Weise verlorenen Gatten weihte, hielt mich davor zurück, meiner erwachenden Leidenschaft Ausdruck zu geben. Aber wir verstanden uns in vielen Dingen so gut ... stundenlang konnten wir miteinander sprechen über Gott und die Welt. Ich fühlte, wie in ihr Herz eine warme Freundschaft für mich einzog und da – nach einem weiteren Jahre – wagte ich, sie zu bitten, die Meine zu werden ... Ich hätte es nicht tun sollen – ich hätte verstehen sollen, daß ich Unmögliches wollte –«

»Ja – ich kann es mir auch nicht vorstellen, daß meine Mutter ihrem – heute noch – Betrauerten jemals einen Nachfolger hätte geben können.«

»Für mich war ihre Antwort – ihr sanftes, wehmütiges aber entschiedenes Nein ein harter Schlag. Damals unternahm ich meine erste große überseeische Reise, die mich drei Jahre von Europa fernhielt.

»Und kamst geheilt zurück? Ja, Zeit und Abwesenheit sind souveräne Mittel gegen Liebesschmerz.«

»Nicht immer,« versetzte Kolnos kopfschüttelnd. »Du siehst es an Deiner Mutter selber. »Ich habe Linderung gefunden. Meine Leidenschaft hat sich in Freundschaft verwandelt und jetzt – Na, jetzt sind wir ja beide alt – und die Freundschaft ist auf beiden Seiten echt und treu. Ich kann Dir nicht sagen, wie ich erschrak, als ihr so schlecht war ... sie zu verlieren, das Unglück wäre –«

»Reden wir nicht davon,« unterbrach Rudolf. »Ich hoffe fest, daß sie wieder gesund wird.«

Die beiden Männer blieben noch länger als eine Stunde im Gespräch; Rudolf erzählte von seinen jüngsten Unternehmungen und Erfahrungen und daran knüpfend, besprachen sie übereinstimmend des jungen Mannes weitere Aktionspläne.

Es war zehn Uhr und Kolnos zog sich auf sein Zimmer zurück. Rudolf blieb noch eine Weile, in Gedanken versunken, auf der Terrasse sitzen. Dann stieg er die Treppe zum Garten hinab; er wollte noch einen kurzen Rundgang in den duftenden Laubgängen machen.

Unterdessen war Cajetane Ranegg gleichfalls – von einer anderen Seite – in den Garten gekommen; die herrliche Nacht hatte sie herausgelockt. In ihrem Zimmer war sie von großer Unruhe gequält worden. Das Zusammentreffen mit dem so heftig geliebten Mann hatte sie aufs tiefste erschüttert. Wie sie ihn heute kennen gelernt – als liebevollen, um das Leben der Mutter so zärtlich besorgten Sohn – war er ihr noch teurer geworden. Morgen wollte sie abreisen ... Sie mußte ihn fliehen, wenn sie sich nicht verraten sollte. Vielleicht wußte er schon, wie es um sie stand. Die anonymen Briefe hatte er wohl durchschaut – und dennoch war er kalt geblieben; sie hatte also nichts zu hoffen und ihr Stolz verbot ihr, sich dem Verdacht auszusetzen, daß sie ihn doch zu erobern trachtete. – Also fort von Grumitz.

Dieser Entschluß verursachte ihr Schmerz – aber sie war das ihrer Würde schuldig ... Der Violenduft der schönen Sommernacht erschien ihr wie der Ausdruck ihres Schmerzes. Gerade wie Musik dasselbe zu sagen scheint – nur in verstärktem Maße – was in der Stimme des bewegten Hörers liegt, so sprechen mitunter auch Düfte nach, was die Seele des Atmenden erfüllt: Sehnsucht, Zärtlichkeit, Trauer.

Um die Biegung eines dunklen Weges stießen die beiden Lustwandelnden aneinander.

»O, Cajetane – noch auf?«

Ihr Herz schlug heftig.

»Ja – ich ... – es ist eine so schöne Nacht ...«

»Wundervoll ...«

Er schob ihren Arm unter den seinen, als ob es ganz selbstverständlich war, daß sie nun miteinander weiter promenieren sollten. Ein Glücksschauer durchrieselte das junge Mädchen, dennoch hielt ihre Wehmut an, denn sie wußte ja doch, daß sie hoffnungslos liebte.

Rudolf begann von seiner Mutter zu sprechen. Das war doch die Frage, die ihn jetzt am meisten erfüllte: würde das Übel überwunden werden oder nicht? Und das Bewußtsein, daß das Mädchen an seiner Seite von treuer Anhänglichkeit an die Kranke beseelt war, machte sie ihm lieb und wert – mehr noch als die Kenntnis ihrer Schwärmerei für ihn. Aber auch diese war ihm süß: geliebt von ihr – zum ersten Male, seit er Cajetane kannte, ergriff ihn dieser Gedanke mit einer dankbaren weichen Rührung. Er drückte ihren Arm an sich und blieb stehen.

»Liebe Cajetane,« sagte er innig. Es war ihm ganz warm ums Herz.

Aber nein: falsche Hoffnungen durfte er ihr nicht machen. Gewaltsam riß er sich aus der zärtlichen Stimmung heraus, und wieder weitergehend sagte er im veränderten Ton:

»Wir müssen jetzt ins Haus zurück ... ich will noch einmal oben nachfragen. Und Sie? ... Bleiben Sie noch draußen?«

Sie ließ seinen Arm los. »Ja, ich bleibe noch ... Gute Nacht.«

»Also auf morgen.«

Er schüttelte ihr die Hand und entfernte sich rasch.

Cajetane wandte sich um und verlor sich in die dunklen Laubgänge. Der Violenduft war jetzt noch viel beredter als zuvor. Das kurze Erlebnis hatte die Stärke ihrer Gefühle verdoppelt: doppelt verliebt und – im Gegensatz zu der kurzen Seligkeit, die seine plötzliche Wärme erweckt und seine darauf folgende Kälte so schnell verscheuchte – doppelt unglücklich.

Martha verbrachte eine gute, ruhige Nacht. Am folgenden Tag fühlte sie sich so gekräftigt, daß sie ausgehen wollte; das gab aber der Arzt nicht zu; sie durfte sich nicht anstrengen.

Um zwei Uhr nahm sie am Mittagessen im Speisezimmer teil; das Mahl wurde begangen wie eine Genesungsfeier. Cajetane aber fehlte dabei; sie war am selben Mittag nach Raneggburg zu ihren Eltern zurückgekehrt.

Als Rudolf von dieser Abreise erfuhr, war er unangenehm betroffen; doch die Freude über die sichtliche Besserung seiner geliebten Kranken ließ die Mißstimmung nicht aufkommen. Die Idee, nächste Tage in Ranneggsburg einen Besuch abzustatten, flog ihm durch den Sinn ... Er fragte: »Warum ist sie so plötzlich abgereist? Ist etwas geschehen?«

»O, ihre Mutter begehrte schon lange nach ihr – sie sollte schon vor einigen Tagen fort und blieb nur wegen meiner Erkrankung ... und da ich jetzt wieder wohl bin – –« sagte Martha laut, leise fügte sie aber hinzu: »Sie flieht Dich.«

Im Laufe des Nachmittags besuchte Rudolf seine Mutter auf ihrem Zimmer. Sie war allein.

Wieder lag sie auf der Chaiselongue, denn es hatte sie plötzlich eine große Mattigkeit befallen und ein leiser Schmerz in der Herzgegend hatte sie daran gemahnt, daß der überstandene Anfall sich über kurz oder lang wiederholen könnte.

»Nun, wie geht's rief Rudolf eintretend, in munterem Ton.

»Ach, leidlich ... Schön, daß Du kommst – ich habe Dir viel zu sagen.«

»Strenge Dich nur nicht an mit Reden.«

Er schob einen anderen Sessel herbei und setzte sich seitlich zu Füßen der Chaiselongue.

»Ich möchte sprechen,« begann Martha, »von dem, was nach meinem Tode –«

»Nein, nein, das verbitte ich mir,« unterbrach Rudolf ungestüm. »Du bist wieder gesund – ans Sterben brauchst Du nicht zu denken – und ich will nichts davon hören.«

Martha faltete die Hände.

»Sei doch vernünftig!« bat sie. »Du kannst Dir nicht vorstellen, wie quälend mir jener Moment war, den ich für das Ende hielt – weil Du nicht an meiner Seite warst und ich Dir nicht alles sagen und von Dir nicht hören konnte, was wir zwei uns zum Abschied zu sagen hätten ... damit also solche Qual nicht wiederkomme, lasse uns die gegenwärtige Stunde benützen, in der Du bei mir bist und in der ich die Kraft habe, zu sprechen. Du wirst ja wieder von hier abreisen: auch Dir wird es eine Genugtuung sein – falls mir etwas geschieht – daß wir nicht auseinander gerissen worden, ohne uns gesagt zu haben, was zu sagen war. Also reden wir jetzt, als wäre es meine letzte Stunde ... es ist ja nur eine Fiktion ... der Schmerz fällt weg, aber die Feierlichkeit soll bleiben ... Wir sind doch zwei vernünftige Menschen, Rudolf – wir wissen, daß der Tod, wenn er einmal angeklopft hat, bald wirklich zu kommen pflegt ... schüttele nicht den Kopf – es ist so ... Und wir wissen auch, daß sein Kommen oder Wegbleiben nicht dadurch bestimmt wird, ob man von ihm spricht oder nicht. Wir beiden haben schon schlimmeren Todesfällen ins Gesicht geschaut, mein armer Sohn, als es der meine wäre! Ich habe meine Laufbahn vollbracht ... es ist Abend – ich fürchte mich nicht vor der Nacht.«

Sie nahm vom nebenstehenden Tischchen ein mit Limonade gefülltes Glas und tat einen tiefen Zug.

»So sprich, Mutter, ich höre,« sagte Rudolf ehrerbietig.

»Ich bitte Dich – es ist meine letzte höchste Bitte – laß niemals nach in dem Werk, das Du begonnen hast ... Wenn Du viele Enttäuschungen erlebst – wenn Du auch wahrnimmst, daß der eingeschlagene Weg nicht der richtige war, versuche einen anderen, nur das Ziel verliere nicht aus den Augen – es handelt sich ja um so Großes, so unausdenkbar Großes, um nichts Geringeres, als das Glück – das Edelglück – der Welt, an Stelle ihres Elends.«

»Ich verstehe Dich,« schaltete er ein.

Bei den letzten Worten, die sie mit vor innerer Erregung bebender Stimme gesprochen, hatte sie sich ein wenig erhoben. Jetzt lehnte sie sich wieder ganz zurück und fuhr in ruhigerem Tone fort:

»Man sollte meinen, wenn man diese Welt verläßt, daß es einem gleichgültig sein müßte, wie die Zukunft der künftigen Geschlechter sich entwickelt. Das ist aber nicht der Fall, wenigstens nicht bei mir. Die Sehnsucht nach besseren Zeiten für unsere Enkel – wenn ich ja auch keine Enkel habe – brennt mir hier auf meinem Totenbette...« – Rudolf machte eine Bewegung – »es ist ja nur Fiktion – brennt mir ebenso heiß auf der Seele, wie in der Zeit jugendlicher Lebenskraft, da man noch hoffen konnte, jene Zukunft selber zu erleben. Das muß ein Naturtrieb sein, diese Sorge um ein Jenseits des eigenen Lebens; und auf das Vorhandensein dieses Triebes stütze ich meinen Unsterblichkeitsglauben.«

»Das tun die Gläubigen auch, die auf einen Himmel hoffen.« »Ja, die erhoffen aber diesen Himmel für ihr eigenes Ich – außerhalb der Erde und außerhalb der Menschen. Solchen ist gewöhnlich auch die Zukunft der Gesellschaft ganz gleichgültig und sie arbeiten nicht dafür. Ich aber glaube an ein allgemeines – nicht individuelles – ewiges Leben, ein Leben, an dem wir alle gleich teilhaftig sind. Stets enthält die Welt ein bewußtes, leidendes, genießendes, höherstrebendes Ich – gleichviel, ob die einzelnen Erscheinungen davon hier und dort gestorben oder nicht geboren sind ... Aber lassen wir das – um mich Dir verständlich zu machen, müßte ich lange sprechen, und ich muß Dir ja anderes sagen.«

»Ich glaube doch zu wissen, was Du meinst. Zum Beispiel: eine große, lodernde Flamme; die einzelnen Funken zerstieben, andere entzünden sich – es ist aber dasselbe Feuer und brennt weiter.«

Martha nickte:

»Und soll nicht nur weiter brennen, sondern immer lichter und immer heißer, damit jeder einzelne Funke, der sich neu entzündet, desto fröhlicher sprühen kann ... Und so wird das kommende Jahrhundert die krieglose, die endlose Zeit bringen, und die das herbeiführen helfen, erfüllen das Gesetz ... die allein sind auf dem richtigen Wege – mögen sich ihnen tausend Hindernisse entgegenstemmen, mögen sie verkannt, verspottet – vernichtet werden, ihre Arbeit baut das Kommende auf. Überdauern sie den Ansturm der Gegenkräfte, so können sie ihren Sieg noch sehen. Dir, Rudolf, kann es beschieden sein, Du bist noch jung.«

»Ich sehe schon heute, Mutter, daß jener Bau sich zu erheben beginnt, zu dem ich einzelne – verschwindend kleine – Steinchen trage und so lange ich lebe, tragen werde. Laß mich die Feierlichkeit dieser Fiktion, daß Du eine Sterbende seist, benützen, um den unverbrüchlichen Eid zu leisten, daß ich in dem begonnenen Kampfe niemals erlahmen werde, daß keine Lockungen und keine Trübsale mich vermögen sollen, von meiner Aufgabe abzulassen. Ich gestehe, daß ich manchmal verzagte ... in ähnlichen Augenblicken werde ich an die gegenwärtige Stunde denken, an diese feierliche Erneuerung meines Fahneneides.«

Bei den Worten: »daß Du eine Sterbende seist« hatte er sich auf ein Knie herabgleiten lassen und Marthas herabhängende Hand erfaßt. Zum Schluß drückte er einen Kuß darauf und setzte sich wieder auf seinen vorigen Platz.

»Danke, mein Kind. Und noch eins: glaube nicht, daß ich – eine Art weiblicher Abraham – meinen Sohn einem fremden Wohl opfern will. Ich sehe im Gegenteil, daß Dir die höchste Genugtuung winkt, wenn Du Dich dem Geist der wachsenden Kultur verbündest, wenn Du – geschehe was wolle – ausharrst als Streiter der Güte. »Die Zukunft gehört der Güte« – das Wort stammt von Tilling – aber damit die Güte zur Eroberin werde, zur Welteroberin, dazu braucht sie ihre kraftvollen Helden. Mögest Du ein solcher sein! Dabei aber sollst Du nicht – ich sagte es schon – hingeopfert werden. Die Arbeit am Glück anderer schließt das eigene Glück nicht aus.«

»Tilling war glücklich,« sagte Rudolf nachdenklich.

»Ja – und auch ich. Weißt Du, Rudolf, Du solltest– – doch nein ich will nicht etwa diese Stunde mißbrauchen, um Dir etwas aufzuzwingen, wozu Dein eigenes Herz Dich nicht drängt... aber wenn Du Dich einmal einsam fühlst ... Oder, sag' mir's offen: hast Du irgend eine Liebe, die –«

»Nein, ich bin frei – und ich verstehe, wo Du hinauswillst ... Cajetane... Was meintest Du – bei Tisch – als Du sagtest, sie hätte mich geflohen?«

»Es ist so. Sie ahnt, daß Du von ihrer Liebe weißt, und dabei weiß sie, daß Du nicht an sie denkst – also meidet sie Deine Nähe, aus Stolz und aus Furcht – – Sie liebt und bewundert Dich so sehr, daß sie ganz aufgehen würde in Deinem Tun und Streben ... davon ist ihr nichts mehr fremd. Nicht nur, daß sie alles auswendig weiß, was Du geschrieben und gesprochen– alle Berichte über Deine Vorträge besitzt sie – sie ist auch durch meine Schule gegangen. Ich habe sie in unsere Ideale eingeweiht – Du hast auf der ganzen Welt keine verständnisvollere und begeisterte Anhängerin als sie, Rudolf. Doch genug – ich darf in dieser Stunde nicht einen Druck auf Deine Entschließungen üben – wenigstens in dieser Richtung nicht. Da habe ich noch eine andre Bitte als Sterbende an Dich: Nimm Dich unserer Sylvia an – sei ihr Stütze! Sie wird sich erholen – aber jetzt darf man sie ihrem Grübeln nicht überlassen. Nimm Dich ihrer an.«

»Ich verspreche es.«

»So und jetzt« – Martha erhob sich wieder in sitzende Lage – »jetzt kehre ich wieder zu den Lebenden, den vielleicht noch lange Lebenden zurück. Die Fiktion ist vorüber. Ich will gesund werden.«

Rudolf umarmte sie:

»Das hoffe ich zuversichtlich, Mutter!«

Am nächsten Tage, als Mutter und Sohn wieder allein waren, kamen sie auf die Gegenstände zurück, die gestern in der fiktiven Sterbestunde besprochen worden – diesmal aber ohne Pathos, in familiärem Ton.

»Ich fühle mich heute wirklich viel besser,« sagte Martha, »vielleicht wird's noch ganz gut.«

»Aber gewiß!«

»Weißt Du, obgleich ich das Sterben nicht fürchte, das Leben ist mir doch noch lieb. Es ist – abgesehen von seinen Freuden, die ja mit seinen Sorgen abwechseln – an sich doch so interessant. Wenigstens fünf Jahre wollte ich noch leben.«

»Warum gerade fünf?«

»Weil da ein neues Jahrhundert eintritt, und die Menschen dann vielleicht –«

»Ach, das hoffe ich nicht,« unterbrach Rudolf kopfschüttelnd. »Die Natur macht keine Sprünge – die Zivilisation auch nicht. Sag' mir, Mutter, um von näherliegenden Dingen zu reden: Du wolltest mir keinen bindenden Wunsch aussprechen inbezug auf – – auf –« Er stockte.

»Nun?«

»Auf Cajetane – sag', würdest Du es wünschen?...«

»O, wie sehr!«

»Warum?«

»Schon, damit sich Dein Adel fortpflanzt –«

»Mein Adel? Darauf legst Du Wert? Nun aber ich dem Majorat entsagt habe –«

»Mißversteh' mich nicht. Nicht an den gräflich Dotzkyschen Adel denke ich – sondern an Deinen Rang als Edelmensch. Auch dieses Wort stammt von Tilling, erinnerst Du Dich? – und so wie Du den Rang von Tilling übernommen, so könntest Du ihn einst einem Sohn übertragen. Den Stamm derer fortsetzen, die den Mut haben, das Rechte, das sie sehen, auch zu ergreifen – Du würdest ja Deine Kinder danach erziehen.«

»Schon wieder denkst Du an ferne Generationen? – Einstweilen trachte ich erziehend auf meine Zeitgenossen zu wirken – die mich hören und die mich lesen, und vor allem auf mich selber. Ich fühle, daß ich in einemfort mich entwickle und daß ich noch sehr viel zu lernen und an mir zu formen habe. Man muß beständig auf seine innere Stimme horchen – man muß trachten, sein inneres Wesen von allen äußeren Hindernissen zu befreien –«

»Man darf kein Kompromißmensch sein, willst Du sagen?«

Die Unterhaltung wurde durch das Hinzukommen von Kolnos und Sylvia unterbrochen.

Kolnos überbrachte die eben eingelangten Postsachen und setzte sich damit zu Martha, um ihr, wie es in den letzten Wochen zur Gewohnheit geworden, aus den Zeitungen vorzulesen.

Rudolf benützte das, um seine Schwester in eine andre Ecke des Zimmers zu führen.

»Komm, Sylvia, laß uns ein wenig plaudern; wir haben eigentlich gar nicht Gelegenheit gehabt – ich wollte, daß Du mir Dein Herz ausschüttest.«

Unterdessen sah Martha ihre Briefe durch. Sie gab zwei davon Kolnos.

»Lesen Sie mir das vor, es wird Sie interessieren.

Er las:

»Krasnoje Poljana, den –...

Auf die Gefahr hin, liebe Baronin, Sie zu langweilen, indem ich wiederhole, was ich so oft in meinen Schriften, und ich glaube, auch Ihnen schon gesagt habe, kann ich mich nicht enthalten, es noch einmal auszusprechen: je älter ich werde und je mehr ich über die Frage des Krieges nachsinne, desto mehr bin ich überzeugt, das; die einzige Lösung der Frage in der Weigerung der Bürger läge, Soldaten zu werden. So lange jeder Mann im Alter von 20, 21 Jahren seine Religion – nicht nur das Christentum, sondern auch das mosaische Gebot »Du sollst nicht töten« – abschwören und versprechen muß, alle niederzuschießen, die sein Chef ihm befiehlt – auch die Brüder und Eltern –, solange wird der Krieg dauern und wird immer grausamer werden. Auf daß der Krieg verschwinde, tut nur das eine not: Die Wiederherstellung der wahren Religion und damit der menschlichen Würde. Man muß den Leuten zeigen, daß sie selber es sind, die das Leid des Krieges hervorbringen, indem sie den Menschen mehr gehorchen, als Gott.

Leo Tolstoi.«

»Was sagen Sie dazu?« fragte Martha, »halten Sie das von Tolstoi angegebene Mittel wirklich für das einzige?«

»Ich glaube überhaupt nicht an einzige Mittel,« antwortete Kolnos. »Eine so tausendfach verschlungene Sache, wie eine alte Institution es ist, die muß auch von tausend verschiedenen Seiten angegriffen werden, um zu weichen. Und dann, wer kann den einzelnen – anderen – zwingen hinzugehen und als Märtyrer zu sterben? – Auch die Sklaverei ist nicht dadurch aufgehoben worden, daß die Sklaven sich widersetzten ...«

Darauf las Kolnos den zweiten Brief:

»Aulestad, Norwegen.

Sie fragen mich, wie ich mir die Zukunft der Friedenssache denke? Immer im Bilde des Sonnenaufgangs. Für uns Nordländer kann der Sonnenaufgang so viel mehr bedeuten als für Südländer – bisweilen erwartet und begrüßt wie ein Wunder. Die Finsternis war so erdrückend lang, die Stille unheimlich, die erste Glut über den Felsenspitzen so trügerisch ... Es dauert und dauert und wächst, aber – keine Sonne! Auch wenn der Himmel schon hoffnungsvoll erstrahlt – noch immer keine Sonne! Und es ist kalt – eigentlich kälter als früher, denn die Phantasie ist ungeduldig geworden.

Da, auf einmal wie ein Blitz mitten in unsere Betrachtung hinein die so lange verkündete Majestät selber! So stark, so bezwingend, daß die Augen sie nicht ertragen. Wir wenden den Blick zur Landschaft, die schon lange beseelt war, ohne daß wir es merkten, – in die Luft, die schon lange erhellt war, ohne daß wir es wahrnahmen. Alles, alles, bis hinab in die Tiefen und bis hinauf in die Höhen ist besonnt, klar, vollendet – von Wärme erfüllt, von Tönen durchzogen ...

So, meine ich, geschieht es uns. Wir merken in unserer Sehnsucht nicht, was sich vollzieht – wie nahe schon die große Sonne des Weltfriedens ist. Es kommt etwas, das es bringt, wie ein Wunder. Aber es ist kein Wunder, wir sehen nur nicht in unserer Ungeduld, wie alles dafür vorbereitet war.

Ihnen, liebe Frau, viele Grüße Björnstjerne Björnson.«

Unterdessen hatte Rudolf seine Schwester neben sich auf ein kleines Sofa setzen lassen. Er schaute sie voll besorgter Teilnahme an. Sie war so blaß, und die zarten Züge gar so schmal. –

»Nun, sag', wirst Du mir nicht wieder aufblühen? Du bist kaum achtundzwanzig – was kann Dir das Leben noch alles bieten!«

»Nichts.« Und nach einer kleinen Pause: »Haft Du den toten Stern gelesen, Rudolf?«

»Ja. Aber so denke doch nicht immer an den Verlorenen. Ich weiß, daß Dich ein harter Schlag getroffen hat.«

»Ach wäre mein Unglück nur reuelos ...«

»Reuelos? Das bist Du nicht?«

»Das bin ich nicht...«

»Meine arme Schwester, also doch?«

»Was doch?«

»Du warst seine – seine Gel–«

Sie unterbrach ihn mit heftiger Gebärde.

»Nein, nein ... das ist's ja eben – das nie genossene, das nie geschenkte Glück. »Man soll zum Glücke nicht »später« sagen – später kann eins von uns gestorben sein« – das schrieb er mir in seinem letzten Brief... Und so kam es auch – später war er gestorben!«

Rudolf drückte ihr mitfühlend die Hand. »Ach so!« –

Nach einer Weile versetzte er:

»Du darfst Dich Deinem Kummer nicht so standhaft hingeben, Sylvia. Nimm Du Dir nicht als Beispiel die unverbrüchliche Totentreue unserer Mutter. Du hast kein gleiches Recht dazu. Wenn man jahrelang mit einem geliebten Wesen verbunden, wenn man mit ihm eins gewesen, Glück und Unglück geteilt, – die Seelen mit allen Gedanken und Wünschen verflochten, dann nur ist das lebenslängliche Nachtrauern erlaubt. Aber Du und Hugo? – Glaubst Du, wenn er Dich verloren hätte, Dich, die er nie besessen – hätte da nicht schon nach kurzer Zeit eine neue Liebe seinen Dichtersinn erfüllt?«

»Du tust mir weh, Rudolf.«

»Verzeih – eine rettende Hand muß manchmal rauh zugreifen –«

»Mir geht Cajetane ab – die hatte eine gar zarte Art, mit meiner wunden Seele umzugehen ... Daß sie so plötzlich abgereist ist, macht mich böse – auf Dich!«

»Warum auf mich? Hab' ich Deine Freundin verjagt?«

»O, Du weiht ganz gut...«

Ja, er wußte. Und ein Wunsch daß die Geflohene da wäre, erfaßte ihn. Am liebsten hätte er zu Sylvia gesagt: »Schreib' ihr, daß sie wiederkomme« Aber er hielt sich zurück.


 << zurück weiter >>