Bertha von Suttner
Martha's Kinder
Bertha von Suttner

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XXXI.

Während im Delnitzkyschen Hause dieses Drama sich abspielte, war Rudolf im Begriff, Wien zu verlassen, um einige seiner im Ausland abzuhaltenden Vorträge zu absolvieren.

Zwar hätte es nicht gedrängt; bis zum ersten versprochenen Vortrag dauerte es noch vierzehn Tage, aber der Vorfall im Vorstadtwirtshaus hatte ihm einen solchen Ekel eingeflößt, daß er das sehnsüchtige Verlangen empfand, so schnell als möglich eine andere Luft zu atmen und mit ganz neuen Eindrücken den so peinlichen Eindruck zu verwischen.

Er hatte solche Eile, daß er nicht einmal von Mutter und Schwester sich verabschieden wollte. Nur über eins wollte er sich vor seiner Abreise noch aussprechen, nur eine gewisse Warnung vorzubringen, fühlte er sich verpflichtet. Zu diesem Zweck suchte er Herrn von Wegemann auf und traf ihn glücklich zu Hause. Es war eben dessen Frühstücksstunde.

»Minister Allerdings« lud Rudolf ein, mit ihm eine Omelette und ein Beefsteak zu teilen, was dieser bereitwillig annahm, weil er wußte, daß es sich bei Tisch, und namentlich nach Tisch, bei Kaffee und Zigarre, am besten plaudern ließe. Er hatte die Absicht, sich über die Sache, die ihm am Herzen lag, gründlich auszusprechen. Zwar war Herr von Wegemann nicht mehr aktiv an der Politik beteiligt, aber er war in stetem Verkehr mit den leitenden Männern und gehörte mit allen seinen Ansichten und Neigungen der herrschenden Partei an. Dazu war er der intimste Freund desjenigen Staatsmannes, der damals den höchsten Einfluß besaß, und der als ein Mann von aufrichtig kirchlicher Gesinnung, dabei von universeller Bildung und lauterstem Charakter bekannt und allgemein – auch von seinen Gegnern – hochgeachtet war.

Ein gar gemütliches Hagestolzen-Heim war es, in dem Herr von Wegemann hauste. Alles, was ihn umgab, war gediegen und behaglich. Einige große schöne Frauenporträts an den Wänden ließen annehmen, daß der Minister es verstand, die sorgenlose, angenehme Gegenwart mit noch angenehmeren Erinnerungen an die Vergangenheit zu würzen.

Rudolf empfand eine gewisse, leise Anwandlung von Neid, die ihn in letzter Zeit öfters überkam, wenn er einen Menschen beobachtete, der mit sich, mit seiner Existenz, seinem Milieu und seiner Zeit in ruhiger, völliger Übereinstimmung stand; bei dem das ganze Seelenleben – Denken, Wissen, Fühlen – in eine Art System gebracht war; das alles so schön geordnet und friedlich, daß man daneben ganz gut auch seine kleinen materiellen Vergnügungen und Angelegenheiten systematisch betreiben kann, einen geregelten Haushalt haben, sein solides Vermögen administrieren, von der eigenen Klugheit und Wichtigkeit durchdrungen sein, kurz, in der Atmosphäre des engbegrenzten Egoismus sich wohlfühlen, wie der Fisch im Wasser. Während Leute, die wie er nach allen Richtungen Zustände ersehnen, Leute, die das Heimweh der Zukunft in sich tragen, sich so heimlos fühlen, so losgelöst von den kleinen Interessen der umgebenden Gegenwart.

Als die beiden Männer nach beendetem Frühstück sich im Rauchzimmer, wo Kaffee und Liköre aufgetragen waren, niedergelassen hatten, begann Rudolf:

»Und nun zum eigentlichen Zweck meines Besuchs. Daß ich mich verabschiede, weil ich heute abend auf längere Zeit Wien verlassen will, sagte ich schon; was der Grund ist, der mich forttreibt, das will ich Ihnen jetzt sagen. Ich habe hier vor kurzem etwas so Revoltierendes erlebt, daß ich eine Zeitlang eine andre Luft atmen muß ... Aber Ihnen, der Sie dableiben, möchte ich etwas ans Herz legen. Auf eine Gefahr möchte ich aufmerksam machen, die ich im öffentlichen Leben aufsteigen sehe.«

»Allerdings – Gefahren sehe ich auch. Zum Beispiel die überhandnehmende Glaubenslosigkeit, der wachsende Materialismus – womit natürlich Verrohung Hand in Hand geht –, die Begehrlichkeit der Massen und dergleichen mehr. Da gilt es eben, daß die edleren Elemente sich zusammennehmen und alles aufbieten, um die subversiven Kräfte nicht aufkommen zu lassen –«

»Bitte«, unterbrach Rudolf, »reden wir nicht in vaguen Allgemeinheiten. Das, was ich sagen will, die Sache, die mir bedrohlich scheint, ist etwas ganz Positives. Es will sich hier eine Partei breit machen, die sich auf eine einzige Idee stützt, nämlich die Idee einer Rassenverfolgung.«

»Na ja – um auch positiv zu reden – Sie meinen die Antisemiten.«

»Ja. Ich weiß, daß diese Partei, oder vielmehr diese Gesinnung sich verbreitet und bis in die hohen und höchsten Kreise heraufdringt, aber sozusagen incognito – während die Wortführer, die da offen diese Gesinnung als ein politisches Programm ins Parlament bringen wollen, in ihren Reihen so bildungslose, oder sich absichtlich roh gebärdende Individuen haben ... Wenn man das gewähren läßt, so werden diese Leute in das parlamentarische und politische Leben einen so rohen Ton, ein so niedriges Geistesniveau einführen, daß dabei – abgesehen von der Verwerflichkeit des Verhetzungsprinzips überhaupt – sämtliche politische Fragen herabgedrückt werden. Wenn ich Ihnen sagen würde, was ich neulich aus dem Munde einiger neugewählter, von der Einwohnerschaft bejubelter Vertreter dieser Partei für Ausdrücke boshaftester, beschränktester Gemeinheit gehört habe – Sie würden schaudern.«

»Ich weiß, ich weiß ... Sind ja einfache Vorstadtbürger – die reden, wie ihnen der Schnabel gewachsen ist – im Abgeordnetenhaus werden sie schon den parlamentarischen Ton annehmen müssen ... und anderseits muß man bedenken, daß diese Wahlen doch einen Sieg über viel gefährlichere Kandidaten bedeuten. Von den Antisemiten weiß man doch, daß sie gläubige Christen sind und daß sie alles bekämpfen werden, was die Ultraliberalen und Sozialisten und dergleichen unternehmen wollten, um an den Säulen von Thron und Altar zu rütteln –«

Rudolf wollte etwas sagen, aber mit beschwichtigender Handbewegung fuhr der Minister fort:

»Mein Gott, ich selber habe ja nichts gegen die Juden ... bin ja, wie sie wissen, häufiger Gast bei unserer haute finance und kenne einige ganz ausgezeichnete Leute unter jüdischen Doktoren ... aber wie gesagt, die Antisemiten, deren Verfolgungsideen man ja durchaus nicht aufkommen zu lassen braucht – haben ihr Gutes. Und wenn man sie unterstützt, so geschieht das durchaus nicht, weil man ihre Ziele erreichen oder ihre Mittel anwenden will, sondern weil sie indirekt dazu beitragen, andre Gegner fernzuhalten.«

»Sie geben also zu, daß jene Partei von oben protegiert wird? Gehört etwa Graf –« (er nannte Wegemanns Freund, den leitenden Staatsmann) »zu diesen Protektoren?«

»Allerdings –«

»Ich kenne ihn doch als einen vornehm denkenden Edelmann, als einen milden Christen, der unfähig wäre, solche Äußerungen zu indossieren, oder solche Gehässigkeit zu fühlen, wie die antisemitischen Wahl- und Hetzreden zu schüren trachten – und doch sollte er es opportun finden, diese Partei zu unterstützen?«

»Mein Freund hat ein starkes katholisches Empfinden. Erst gestern sprachen wir über die überhandnehmende religiöse Gleichgültigkeit –«

»Ich bemerke eher, daß die klerikalen Einflüsse überhandnehmen.«

»In manchen Kreisen allerdings. Anderseits aber –«

»Also, wie denkt Ihr Freund über die Sache?«

»Er sagte – ich habe mir seine Worte genau gemerkt –: »Je mehr ich diese Fragen erwäge, desto fester und klarer wird meine Überzeugung, daß sie es ganz eigentlich sind, von deren Wendung die Zukunft der Geschicke Europas abhängt. Die Krisis, in der wir leben, liegt in dem Kampf der Revolution gegen die christlichen Ideen, auf denen seit mehr als tausend Jahren die staatliche Ordnung Europas und seine Zivilisation beruht. Siegen diese Ideen nicht, dann wird Europa zugrunde gehen und mit ihm die ganze Ordnung der Dinge. Dann folgt ein Chaos, das so lange dauern wird, bis die christlichen Ideen wieder, wie in den Zeiten Karls des Großen, allmählich die Geister gewinnen und wieder eine neue christliche Ordnung der Staaten und Völker herstellen – was aber weder wir noch unsere Kinder erleben werden. Wollen wir sie vor allen Gräueln der Anarchie und der Christenverfolgung bewahren, so müssen wir in Österreich dem Sturm wider die Kirche Widerstand leisten«.«

Rudolf nickte vor sich hin.

»Das stimmt zu meiner Auffassung,« sagte er. »Man sieht, man fühlt, daß all die Dogmen schwanken, von denen man glaubt, daß sie die Grundlagen der Zivilisation sind – (aber da möchte ich doch zwischen Klammern fragen, ob denn die heutigen Staaten wirklich nach christlichen Grundsätzen verfahren? ... ich wollte es wäre so, dann fielen dreiviertel meiner Anklagen weg!) – also, um dieses hohe Gut, die Zivilisation, zu schützen, muß man kämpfen und im Kampf gilt das Axiom, daß jede Waffe gut sei – gerade so wie der jesuitische (nicht christliche) Satz allenthalben Geltung behauptet: der Zweck heiligt die Mittel. An diesem Satze krankt unser ganzes politisches System. Zwecke, – über deren Nützlichkeit man sich täuschen kann, Zukunftsgefahren, die gar nicht existieren, werden als so groß, aufgefaßt, daß sofort auch die bösesten Mittel geheiligt erscheinen, und man protegiert Roheit, Verfolgung und allerlei an sich Abscheuliches und Niedriges in der Gegenwart, welches helfen soll, ein vermeintlich Hohes zu erreichen und vermeintlich entsetzliche Zukunftskalamitäten abzuwenden. Daß aber die geduldete Roheit sicher böse Folgen nach sich ziehen muß, übersieht man ... Sehen Sie, verehrter Freund, das ist das ganze Geheimnis. Warum sonst gute, wahrhaft tugendhafte Menschen so viel Böses geschehen lassen – sie glauben dadurch noch Schlimmerem vorzubeugen. So haben sich bisher noch alle historischen Schandtaten durch edle Motive begründen lassen und sind mitunter auch aus edlen Motiven verübt worden ... und die Geschichte wird auch solange eine Kette von Greueln bleiben, solange der Kulturmensch nicht jene unselige Formel abschwört und nicht erkennt, daß für keinerlei Zweck ein Mittel angewendet werden darf, das weniger heilig, weniger rein ist als der Zweck. Wenn Sie Einfluß auf Ihren Freund haben, liebster Herr von Wegemann, und den haben Sie ja – ebenso wie auf andere machthaberische Kreise – dann benutzen sie ihn, um zu warnen ... darum habe ich Sie bitten wollen ...«

»Nein, mein lieber Dotzky, ich enthalte mich jeder Einmischung in öffentliche Angelegenheiten – ich nehme meinen »Ruhestand« ernst. Und außerdem teile ich da weder Ihre Befürchtungen noch Ihre Auffassungen. Sie haben von staatsmännischer Politik keinen rechten Begriff. Da muß man sich wehren, so gut man kann und die Mittel, die man anwendet, nicht nach ihrem idealen, sondern praktischen Gehalt prüfen. Der gute Zweck ist doch die Hauptsache. Wenn wir den monarchischen und den christlichen Gedanken schützen, schützen wir da nicht den Boden auf dem wir stehen und die Luft die wir atmen? Die anderen, unsere Gegner, die haben wieder ein Interesse daran, diese Prinzipien zu unterminieren und tun es mit allen ihnen zu Gebote stehenden Mitteln – soll man das geschehen lassen? Sie sind ein ganz vortrefflicher Mensch, mein lieber Rudi, ein liebenswürdiger Träumer, aber von dem Ernst und den Pflichten des staatsmännischen Berufs haben Sie keine Ahnung ... Idealismus und Ästhetik und dergleichen sind ganz schöne Dinge, gehören aber auf ein anderes Feld: ins Künstlerhaus, in die Pflegestätten klassischer Studien, aber doch nicht in die Volksvertretung und Ministerkabinette – in diesen muß ...«

Rudolf hatte mit wachsender Ungeduld zugehört:

»Verzeihen Sie, daß ich widerspreche,« unterbrach er jetzt. »Meine Meinung ist die: nachdem Volksvertretung und Ministerkabinette die Stätten sind, wo dem Leben der Völker die Richtung gegeben wird, so obliegt die Pflege des Ideals gerade diesen; denn dahin strebt doch die Kultur: daß die Schönheitsideale und Sittlichkeitsnormen das Leben durchdringen. Wir werden uns gegenseitig nicht überzeugen, sehe ich – es wäre fruchtlos, weiter zu disputieren, dennoch habe ich bei dieser Unterhaltung gelernt, sie hat mir einen tiefen Eindruck in die Ursachen der gegenwärtigen Kämpfe und Kampfweisen gewährt ...«

»Warum sagen Sie »gegenwärtig«? Es ist ja immer derselbe Kampf, mein Lieber, wie er seit Erschöpfung der Welt getobt hat und wie er in Ewigkeit weiter toben wird – der Kampf zwischen Gut und Böse.«

Rudolf schüttelte den Kopf:

»In Ewigkeit? Das ist wieder eine Verkennung des Entwicklungsgesetzes. Dieser lange Kampf ist aber nur darum bis heute unentschieden geblieben, weil das Gute noch nicht versucht hat, sich durch Gutes durchzusetzen, weil immer noch das Böse als Mittel sanktioniert ward. Ein neues, ganz neues Licht muß die Geister erhellen – und das wird kommen. Gerade so, wie – auf physikalischem Gebiet – das elektrische Licht entdeckt wurde, wird auf geistigem Gebiet eine neue Erkenntnis erstrahlen, durch die die Macht des sogenannten Bösen – nicht mit Unrecht Macht der Finsternis genannt – endgültig überwunden wird.«

Wegemann zuckte lächelnd die Achseln. »Schwärmer!«

»Danke«, sagte Rudolf, indem er aufstand. »Ich nehme diese Bezeichnung als Ehrentitel an und – nichts für ungut. Ich füge nur hinzu, daß, wenn ich einigermaßen schwärmerisch von der Größe einer vorhergesehenen Zukunft spreche, ich dabei die kleinen, tunlichen, praktischen Schrittchen nicht übersehe, die schon heute nach jener Richtung getan werden können, und die jeder von uns zu tun sich bemühen soll. Jetzt adieu – und nochmals Dank für die lehrreiche Unterhaltung.«

Am selben Abend reiste Rudolf von Wien ab. Sein Ziel war Venedig. Vom stillen Zauber dieser Stadt, dem er sich durch vierzehn Tage hingeben wollte, versprach er sich Linderung für sein durch die letzten Vorgänge verwundetes Gemüt.


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