Bertha von Suttner
Martha's Kinder
Bertha von Suttner

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XIV.

Zwei Tage nach dem kleinen Diner traf Sylvia wieder mit Hugo Bresser zusammen. Diesmal in Marthas kleinem Empfangssalon.

Als sie eintrat, in der Absicht, wie sie es oft tat, ein Vormittagsstündchen mit ihrer Mutter zu verplaudern, fand sie diese in Gesellschaft Rudolfs und Hugos. Letzterer sprang auf, um sich vor der Eingetretenen zu verneigen. Es lag Verwirrung in seiner allzu raschen Gebärde, in seinem blaß und rot werdenden Gesicht. Oder schien es Sylvia nur so – und vielleicht nur darum, weil sie selber etwas wie Verwirrung empfand? Keine unangenehme – im Gegenteil...

Sie umarmte ihre Mutter, schüttelte den beiden jungen Männern die Hand und setzte sich. Bresser wollte sich nun empfehlen.

»Nein, nein, warum nicht gar, mein Lieber«, widersetzte sich Baronin Tilling, »bleiben Sie doch! Wir drei sind oft genug miteinander allein – und Sylvia wird gewiß auch gern in unser Gespräch eingreifen, gerade da, wo wir es unterbrochen haben.«

»So? Wovon spracht Ihr denn?«

Hugo, indem er sich auf seinen früheren Platz wieder niederließ, antwortete:

»Wir sprachen vom Dichterhandwerk. Die Herrschaften – wie das so üblich, wenn z. B. der Kaiser auf dem Industriellenball Cercle hält – haben leutselig die Unterhaltung auf mein Fach hinübergelenkt.«

»Das ist eine falsche Darstellung, Bresser!« rief Martha. »Rudolf sprach ein Langes und Breites über die Weltlage, über den Drang, den er empfindet, da handelnd einzugreifen und Sie waren es, der dagegen die Behauptung aufstellte, daß man die Welt nicht umformen könne, bis sie nicht umgedichtet sei, und damit war das Gespräch bei der Dichtkunst angelangt.«

»Das ist ja im Grunde dasselbe Thema«, bemerkte Sylvia, »das von denselben Streitern an jenem Gewittertage –« Sie stockte errötend. Hätte sie von dem Tag reden sollen und zeigen, daß sie sich so genau erinnerte an alles, was damals getan und gesagt worden? Hätte sie sich dem Dankesblicke aussetzen sollen, der sie jetzt aus Hugos Augen traf? Sie zog ihre Hand aus dem Muff und atmete an dem halbwelken Veilchensträußchen, das darin verborgen gewesen.

Jetzt nahm Rudolf das Wort:

»Ich erwiderte, daß die Kunst keine Kultur-Umwälzungen hervorbringen kann. Eine Gegend wird verwandelt durch vulkanische Erschütterungen, durch hereinbrechende Fluten – aber nicht durch Blumenzucht.«

»Blumenzucht!« rief Bresser. »Als ob die Kunst ein so harmlos-heiteres Spiel wäre – als ob nicht auch sie mitunter so glühend wie Lava aus den Tiefen der Menschenseele strömte...«

Lachend fiel Baronin Tilling ein: »Sie sind doch nicht exaltiert? ... Wenn ich denke, was für ein natürlicher, nüchterner, beinahe trockener Mann mein alter Freund, Ihr Vater, ist!« – Absichtlich goß sie diesen kleinen Wasserstrahl auf Hugos feurige Art. Sie hatte beobachtet, wie bewegt ihre Tochter ihn angeblickt und erinnerte sich der Mitteilung, die ihr Rudolf an Sylvias Hochzeitstag gemacht: Hugo sei abgereist, weil er Sylvia liebte.

»Sie finden mich überspannt, gnädigste Baronin? Darf man denn bei meinem Berufe ganz nüchtern sein? Mein Vater ist Arzt und ich bin – – daß es doch für unseren Kunstzweig keinen bescheidenem Namen gibt! Es kann einer ohne Anmaßung von sich sagen: ich bin Bildhauer, bin Musiker ... aber »ich bin Dichter«, klingt so eingebildet – denn das Wort bedeutet nicht allein die Ausübung, es drückt schon die sieghafte Bewältigung dieser Kunstgattung aus ... und weil ich davon so weit, ach so weit bin, darf ich mich wohl nicht Dichter nennen – sagen wir: Wortziselierer, Traumbändiger – –« »Bändiger ist auch ein siegreicher Begriff«, sagte Sylvia.

»So nehme ich auch diese Bezeichnung zurück. Es ist ja richtig: die Träume unterwerfen eher mich als ich sie... Bilder, Gestalten drängen sich mir auf... sie rufen nach Ausdruck – sie lassen mich nicht, ehe ich sie aufs Papier gebannt...«

»Und so sind Sie denn daran, die Welt »umzudichten«?«

»Absichtlich? Planmäßig? Nein. Der Genius der Kultur baut die Welt von selber um – er zwingt nur die Künstler, ein paar Bausteine zuzutragen, ohne daß sie es wissen.«

»Von selber geschieht gar nichts«, warf Rudolf ein. »Als ich noch Publizist war und plante, eine große Zeitung zu redigieren, da hatte ich auch so etwas im Sinne, wie Sie, Graf Dotzky: auf die Welt reformierend einzuwirken. Das ist mir, seit ich mich der Dichtkunst, der lyrisch und dramatisch schaffenden, hingegeben habe, ganz verloren gegangen. Vielleicht auch deshalb, weil ich das leidige Zeitungslesen aufgegeben habe, mich um die Tagesereignisse gar nicht kümmere und mich in die Dichterwerke der alten und neuen Zeit vertiefe. Da hat sich eine ganze Phantasiewelt um mich aufgebaut, bevölkert von tausend Gestalten: Götter, Helden, Könige, Feen, Heilige. – Gestalten, die den Köpfen von Homer, Dante, Shakespeare, Corneille, Goethe entstiegen sind. Von den neueren und neuesten gar nicht zu reden – und ich habe alle Modernen gelesen, auch die Russen und Skandinavier. Und da sind es nicht allein die erdichteten Geschöpfe, die mich gefangen nehmen – da ist es auch die technische Seite der Dichtung – der Stil, die Musik der Sprache, das Virtuosentum auf dem Instrument des Worts ... das ist's, was mich entzückt und was mir anzueignen mich als leidenschaftlicher Kunstehrgeiz erfüllt. Schönheit, Schönheit: die erscheint mir als die höchste Offenbarung unseres Genius ... und was man der Schönheit abzuringen vermag, das bereichert, das veredelt uns selber und unser ganzes Geschlecht ... Auf diese Art kann auch der einzelne Künstler, wenn er nur seine liebende Kraft anstrengt, wirklich den Schatz der Kultur vermehren, wirklich das eigene Gehirn und die Gehirne der Mitwelt feiner modeln und so an dem Entwicklungswerk des Menschengeistes helfend mitschaffen – besser als durch alle politischen und ökonomischen und sozialen Spekulationen und Maßregeln. Es ist nicht zu sagen, welche Gleichgültigkeit, um nicht zu sagen Verachtung, mich über all das kleinliche Getriebe erfaßt hat ... man sehe doch – in dem sogenannten öffentlichen Leben – die Enge der Interessen, die Flachheit ihrer Vertretung, die Häßlichkeit und Gemeinheit der Kampfweise. Ästhetisch – in der Politik – wirken höchstens die Gewaltmenschen, daher der Kultus für einen Napoleon oder einen Bismarck – –«

Rudolf schlug sich auf die Stirn:

»Sie haben mir da einen neuen Horizont eröffnet, Bresser ... Politiker und Künstler geringschätzen sich gegenseitig. Sie verstehen einander nicht. Ihre Gebiete sind zu getrennt. Ich sehe aber, daß sie sich verschmelzen sollten: als oberstes Prinzip hat – nicht nur in den Künsten – hat auch in der Lebenskunst, in der Regierungskunst die Schönheit erkannt zu werden. Und was die Lenker der Völkergeschicke leiten sollte, das müßte auch Begeisterung – nicht Berechnung sein.« Martha warf ihrem Sohn einen dankbaren Blick zu.

Jetzt wurde neuer Besuch gemeldet.

Es war Graf Kolnus. Nachdem er alle begrüßt und sich gesetzt:

»Ich bin gekommen, um – nein, noch nicht, um Abschied zu nehmen, aber um mein baldiges Verschwinden anzukündigen. Mich packt wieder einmal meine Reisewut.

»O weh«, rief Martha. »da bleiben Sie uns wieder auf ein, zwei Jahre verschollen – Sie sind ein so unmäßiger Reisender – und ich entbehre Sie schwer so lange ... Wohin diesmal?«

»Diesmal nach Indien – dort war ich noch nicht. Vielleicht auch einen Abstecher nach Japan.«

Sylvia lachte. »Abstecher ist gut.«

»Willst Du mitkommen?« wandte er sich an Rudolf. Dieser schüttelte den Kopf. »Doch warum frage ich? Wenn man Weib und Kind hat und Mutter und Schwester, so hat man nicht diese erotischen Gelüste, nicht die Fernensehnsucht, die mich Einsamen alle paar Jahre packt, sogar noch jetzt in meinen alten Tagen. Wenn ich so recht müde geworden bin von dem hiesigen Einerlei, von dem Tritsch-Tratsch der Gesellschaft und dem Quitsch-Quatsch der Politik, da muß ich mich erfrischen in ganz fremder Landschaft, unter Menschen, die nichts von uns wissen, wie ich nichts von ihnen weiß. Da lese ich keine europäische Zeitung, da gebe ich niemand meine Adresse, damit man mir von zu Hause ja nicht schreiben könne, »was es Neues gibt«.«

Kolnos blieb nur kurz. Er versprach, am selben Abend zu Martha zu Tisch zu kommen.

»Ich muß Sie vor Ihrer Europaflucht noch tüchtig genießen«, hatte sie ihm gesagt. »Sie gehören zu den wenigen Menschen, deren Existenz mir eine Wohltat ist – Ihnen kann ich immer alles sagen, was ich auf der Seele habe.«

Kaum war Kolnos gegangen, als wieder neuer Besuch eintrat – ein Besuch, der gleich fünf Mann hoch war: Exzellenz, Gräfin Ranegg mit vier Töchtern.

Diese Gelegenheit benützte Bresser, um sich neuerdings zu empfehlen, und Martha hielt ihn nicht mehr zurück.

Raneggs gehörten zu den nächsten Gutsnachbaren von Brunnhof und die Familien verkehrten sehr lebhaft miteinander. Zur Zeit, als Sylvia ihre Hochzeit feierte, war Gräfin Ranegg mit ihren Töchtern auf einer Italienreise begriffen gewesen, sonst hätten die vier schönen Schwestern sicherlich als Brautjungfern fungiert. Diese Mädchen nebeneinander zu sehen, war wirklich ein ästhetischer Genuß. Alle vier von hohem, schlankem Wuchs, von vornehmer und dabei natürlichster Anmut im ganzen Wesen. Die älteste, Cajetane, dreiundzwanzigjährig, hatte feingeschnittene regelmäßige Züge, dunkles Haar und schwarze Augen; die zweite, Christine, um drei Jahre jünger, war kastanienbraun mit lebhaft-schalkhafter Kapricenphysiognomie, und die beiden jüngsten, die achtzehnjährigen Zwillinge Ella und Bella, einander zum Verwechseln ähnlich – waren hellblond mit sanften Blauaugen und Madonnengesichtchen. Die Zwillinge waren immer gleich gekleidet, die zwei älteren verschiedenartig, alle vier mit höchster Einfachheit.

Das in hohem gesellschaftlichem Ansehen stehende Paar Ranegg – er bekleidete eine der ersten Hofchargen, sie war eine geborene Fürstin – besaß außer diesen reizenden Töchtern noch zwei wohlgeratene Söhne, beide im Militärdienst. Der ältere, noch nicht ganz dreißig und schon Ulanenrittmeister, der andere, im vergangenen Sommer ausgemustert, Leutnant bei den Dragonern.

In Wien sahen sich die beiden Frauen – Martha und Gräfin Ranegg – eigentlich nur selten, denn während die erste sehr zurückgezogen lebte, machte die andere ihren Töchtern zuliebe alle Unterhaltungen der großen Welt mit: Hof- und Kammerbälle, adelige Picknicks, erzherzogliche und aristokratische » on dancera«, Amateurtheater und Wohltätigkeitsbazare ... desto öfter sah man sich auf dem Lande. Für Martha war es immer eine Herzensfreude, mit dieser Familie zusammenzukommen, besonders in deren eignem Heim.

Das Leben dort bot nach jeder Richtung das Muster glücklichen und harmonischen Menschenloses. Genügender Reichtum, glänzende soziale Stellung, gegenseitige Anhänglichkeit, ein heiteres Dahinfließen der Tage in regelmäßigen Beschäftigungen: musizieren, lesen, sticken, malen, reiten, gemeinsame Spaziergänge und Spiele. Die Mädchen, so jung sie waren, zogen dieses Landleben dem Wiener Aufenthalt vor. Das Mitmachen der Wintervergnügungen war für die Schwestern Ranegg mehr die Erfüllung einer Standespflicht, als wirkliches Vergnügen. Im Mai, wenn die weltliche Nachsaison ihre höchsten Wogen schlug, waren sie schon immer voll Ungeduld, Wien zu verlassen, um in ihr geliebtes Raneggsburg zurückzukehren, das sie im Schmuck des Flieders und der blühenden Kastanien besonders anzog. Und wenn es Winter wurde, schoben sie die Übersiedlung nach Wien so weit als möglich hinaus. Sie liebten es, auf dem zugefrorenen Schloßteich Schlittschuh zu laufen und die langen Abende um den Familientisch zu verplaudern, jede mit einer Handarbeit beschäftigt. Vor Weihnachten wollten sie um keinen Preis fort, das Fest mußte in Raneggsburg gefeiert werden, mit dem großen Christbaum im Billardsaal, mit Bescherung für die Dorfkinder und Beschenkung aller Dorfarmen mit selbstgestrickten warmen Unterkleidern und Tüchern.

Martha unterhielt sich sehr gern mit Gräfin Ranegg, deren Altersgenossin sie war. Zwar hatten sich die beiden in ihrer Jugend nur sehr flüchtig, beinahe gar nicht gekannt – erst durch die Nachbarschaft zwischen Brunnhof und Raneggsburg waren sie einander seit einigen Jahren so nahe gekommen –, dennoch sprachen sie mit Vorliebe von alten Zeiten miteinander, von den Begebnissen, Sitten und Anschauungen, die in der Welt herrschten, als sie jung waren. Gräfin Ranegg war in ihren Gesinnungen viel konservativer als Martha, wenn gleich sie viel liberaler dachte, als die Mehrzahl ihrer beiderseitigen Standesgenossinnen. Auf halbem Wege kamen sie sich entgegen; die etwas kühnen Ideen Marthas berührten die andere sympathisch, und das völlige Gleichgewicht des gediegenen, toleranten, vornehmen Wesens der Gräfin Ranegg übte trotz der Grundverschiedenheit der Ansichten auf Martha einen eigenen Reiz; es lag etwas so Beruhigendes und Harmonisches darin, – wie in allem, was aus einem Gusse und dabei aus edlem Stoffe ist.

Mit aufrichtiger Freude ging Martha der Eintretenden entgegen:

»Ah, sieht man Euch endlich wieder, ihr mondänen Geschöpfe!«

Die vier Mädchen küßten Martha die Hand.

»Ja, mondaines sind wir«, seufzte Gräfin Ranegg, »gestern Ball bei Pallavicini, heute bei Erzherzog Ludwig Viktor, morgen im Ministerium des Äußern ... Es ist eine wahre corvée

»Nun, nun, es macht Euch doch Vergnügen«, sagte Martha, »das heißt den Kindern ... das Los der Mütter ist auf Bällen freilich kein beneidenswertes.«

Die Mädchen waren mit Sylvia und Rudolf in eine andere Ecke des Zimmers gegangen, wo sie sich laut und eifrig unterhielten, sodaß die beiden älteren Damen miteinander sprechen konnten, ohne von den anderen gehört zu werden.

»Ich kann Dich versichern«, sagte Gräfin Ranegg, »nicht nur für Mütter, auch für die Töchter ist jetzt in unserer Welt nicht viel Vergnügen zu finden ...«

»Ja«, bestätigte Martha, »das habe ich an Sylvia auch erfahren ... die moderne junge Herrenwelt ist gar so, ich weiß nicht, wie ich sagen soll ...« »Sag' ihr eigenes Lieblingswort: fad. Erinnerst Du Dich zu unserer Zeit, welch ein Unterschied – wie wurde da den jungen Mädchen der Hof gemacht, was doch – seien wir aufrichtig, was doch die Würze der weltlichen Vergnügungen ist. Geflirtet muß werden oder, wie man früher sagte, »Passionen« müssen entbrennen ... Das hat alles aufgehört. Unsere jungen Männer verlieben sich nicht mehr – wenigstens nicht in unsere Mädchen.«

»Nein, in Bühnenprinzessinnen«, schaltete Martha ein.

Gräfin Ranegg fuhr fort: »Und zum Tanzen – da muß man die jungen Leute ordentlich zwingen. Dabei sind die meisten, deren man doch habhaft wird, so uninteressant, so langweilig, so gar nicht bei der Sache ... Sie tanzen ein paar Touren, weil es sein muß, oder tanzen auch nicht. Und zu den Soiréen sind sie einfach gar nicht zu haben. Wieviel solche haben wir schon mitgemacht, wo wir fast nur Frauen waren – ein paar alte Diplomaten und Generäle ausgenommen. Auf den Bällen gibt es zwar männliche Jugend, aber die wird hinkommandiert – die Mehrzahl der Tänzer besteht aus den ganz Jungen: Gymnasiasten, Theresianisten. Väter, Mütter, Töchter und Flaumbärte: das ist das Kontingent unserer Ballsäle. Auch junge Frauen sieht man da wenig – die haben ihre Diners und Spielpartien – dort verkehren auch unsere Herren lieber – –«

»Vielleicht wird die Sitte des Tanzens ganz aussterben«, sagte Martha. »Es ist schon einmal so – die Welt verändert sich.«

»Leider!«

»Ich sage nicht leider. Platz dem Neuen ... Und so langweiligen sich Deine Töchter?«

»Langweilen? O nein ... hörst Du, wie sie dort mit Deinen Kindern lachen – sie sind, Gott sei Dank, stets so guter Laune.«

»Wie geht es Deiner Mutter?«

»Danke – nicht gar gut. Sie spürt ihre fünfundachtzig Jahre ... Wir sind sehr viel bei ihr ... jeden Abend bringt eine oder die andere von den Mädchen bei ihr zu – und oft streiten sie, welche von ihnen den Vorzug haben kann, statt auf den Ball, zur Großmutter zu gehen. Jetzt aber« – Gräfin Ranegg stand auf – »müssen wir wieder fort ... Kinder, kommt!«

»Das war ein kurzer Besuch!«

»Wir haben noch ungefähr siebzehn Visiten zu machen. – Wenn das keine corvée ist! Nächstens will ich übrigens auf einen ganzen Nachmittag zu Dir kommen – auf einen ordentlichen ›Plausch‹.«

»Tu' das! Wir hätten uns so viel zu erzählen.«

Nachdem sich die Tür hinter den Besucherinnen geschlossen hatte: »Diese Familie ist mein Kreuz«, rief Rudolf. »Ein wahrer Jammer!«

»Aber, aber!« machte Martha vorwurfsvoll, »wie kannst Du so etwas sagen? Ich kenne keine lieberen achtungswerteren Menschen.«

»Das ist ja eben der Jammer ... Soll ich Dir das erklären?«

»Ja, da wäre ich neugierig.«

»Nun denn: Ich erinnere mich, einmal dem Gärtner den Befehl erteilt zu haben, einen gewissen Baum umzuschlagen, dessen Stamm hohl war. Beim nächsten Sturm konnte er umfallen und dabei vielleicht Schaden anrichten, also war es besser, ihn gleich zu fällen. Und während ich das Todesurteil sprach, blickte ich in die Krone hinauf und sah da ein Vogelnest, aus dem die Jungen die Hälse streckten und das die Alten umkreisten. »Lassen wir's«, – sagte ich zum Gärtner – »vielleicht hält der Baum noch den ganzen Sommer aus« – Verstehst Du, was ich meine? So stehen wir sogenannten Reformatoren auch vor morschen Gesellschaftsordnungen und meinen, es müßte da die Axt angelegt werden; in dem Laubwerk aber, das den hohlen Stamm krönt, da haben sich die lieben, glücklichen Vöglein ihre Nester gebaut. Ihre ganze Existenz ist an die Existenz des Baumes gebunden – was liegt ihnen an der innern Fäulnis des Holzes, solange die Blätterfülle ihres Astes grünt? Hier wohnen sie und singen sie und ziehen ihre Kleinen groß. Und siehst Du – denselben Eindruck macht mir das Bild einer Familie wie die Raneggs ... ihr ganzes Glück, ihre ganze Würde ruht auf den Einrichtungen –.«

»Ich verstehe«, ergänzte Martha, »auf den Einrichtungen, die innen morsch sind und gegen die Du ankämpfen willst –.«

»Ja – und so ist mir dieses Ankämpfen erschwert. Wären schon alle Äste dürr, wäre statt der lieblichen Singvögel nur mehr ekles Gewürm auf dem Baum, da brauchte man nicht zu zögern mit dem Fällen ... wäre die Aristokratie durchaus verderbt und wären die Soldaten milde Räuberseelen, wie viel leichter wäre es da, die Adelsprivilegien und den Militarismus abschaffen zu wollen ... Aber wenn man solche Familien sieht wie diese, deren ganzer Sinn auf den alten Traditionen ruht – wie das Vogelnest auf dem Ast –, deren Söhne mit Stolz und Freuden dienen, deren Töchter auch wieder bestimmt sind, auf dem Nebenast zu nisten – und dabei so holde, so makellose Geschöpfe sind, wie z. B. diese Ranegg-Mädchen (ich gestehe, wäre ich frei, die Cajetane könnte es mir antun ...) da vergeht einem die Lust, zerstörend – oder auch nur störend dreinzufahren und –«

»Und« – fiel Sylvia ein – »man sagt dann dem Gärtner: »Lassen wir's noch.« »Besonders«, fügte sie hinzu, »wenn man wie wir eigentlich, zur selben Vogelgattung gehört.«


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