Bertha von Suttner
Martha's Kinder
Bertha von Suttner

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XV.

Es war im großen Musikvereinssaal und an einem Sonntag Nachmittag, damit – bei freiem Eintritt – recht viele Leute aus den arbeitenden Klassen kommen könnten. Für vorherige Bekanntmachung durch die Zeitungen und durch Anschlagzettel war gesorgt worden, und so geschah es, daß der weite Raum sich noch als zu klein erwies. Einige vordere Reihen waren für die persönlichen Bekannten Dotzkys, die ihn hören wollten, reserviert; das übrige Publikum war aus allen Schichten der Gesellschaft zusammengesetzt.

Als die Türen geöffnet wurden, gab es ein Drängen und Hasten, und bald war der Saal bis auf den letzten Platz gefüllt. Viele mußten umkehren, ohne Einlaß zu finden.

Rudolf stand vor der ersten Sitzreihe, mit seiner Mutter und Grafen Kolnos im Gespräch. Das Schwirren und Sausen, welches das Drängen und Niedersetzen all dieser Leute verursachte, machte ihm keinen anderen Eindruck, als ob er, von einer Strandterrasse aus, das Branden des Meeres gehört hätte. Ein fremdes, fernes Element, diese Menschenmenge, weiter nichts.

Was er sprechen wollte, das galt ja nicht diesem zufällig hier versammelten Publikum, das galt der Mitwelt, der Öffentlichkeit überhaupt. Eine Handvoll Samenkörner wollte er ausstreuen, hier und anderswo, heute, und morgen wieder; allmählich würde doch, an einer Stelle oder der anderen, die Ideensaat aufsprießen; in einzelne Seelen würde wohl dringen, was die seinige erfüllte, und Nachfolger und Mitarbeiter würden ihm erstehen, vielleicht auch solche, die ihn weit überflügelten – desto besser! Von persönlicher Beifallssucht war in dem heiligen Feuer, das ihn durchglühte, auch nicht ein Funke enthalten.

Eine Zuhörerschaft, die einen Redner beklatscht und ihm zujubelt, die hatte er in diesem selben Saale vor einigen Wochen gesehen, als anläßlich eines Katholikentages ein antisemitischer Volksmann eine mit ordinären Witzen gewürzte Haßrede gegen »Judenliberale und Freimaurer«, gegen »Aufkläricht und Wissenschaftsdünkel« losgelassen. Und es war ein gar vornehmes Publikum gewesen: Bischöfe und Minister, Generäle und Aristokraten, Damen aus hohen und höchsten Kreisen, und daneben, in vielen Exemplaren, auch »der kleine Mann«, dem stets geholfen werden soll. Noch größeren Jubel aber hatte er diesen Saal durchbrausen gehört, wenn auf dem Podium ein geschickter Geiger stand oder eine hübsche Diva schalkhafte Lieder zum besten gab: nein, um Applaus buhlte Rudolf wahrlich nicht. Weder als Volksgunstsänger noch als Redekünstler trat er auf, kein rhetorisches Virtuosenstücklein hatte er zu bieten – nur etwas zu sagen hatte er.

Alle Plätze waren besetzt, die anberaumte Stunde war überschritten – es war Zeit zum Anfangen.

Rudolf stieg auf das Podium; das Summen der im Saal geführten Gespräche verstummte, erwartungsvolles Schweigen stellte sich ein.

»Ich habe Herzklopfen,« flüsterte Martha dem nebensitzenden Kolnos zu.

Sie war nicht die einzige. In einer der letzten Reihen – sie war von Hause entschlüpft und mit einer Freundin hierher gekommen – saß Cajetane Ranegg und ihr Herz und alle ihre Pulse pochten so heftig, daß ihr beinahe die Besinnung verging.

Dotzky selber zitterte nicht. Es war ja nicht das erstemal, daß er zu einer versammelten Menge sprechen sollte. Während seiner gescheiterten Wahlkampagne hatte er es häufig getan und dabei seine Fähigkeit erprobt, Stimme und Rede zu beherrschen. Hier war es freilich etwas anderes, aber etwas, das ihm ein erhöhtes Gefühl überlegener Sicherheit gab; nicht um etwas von den Versammelten zu erreichen, stand er da, sondern um ihnen etwas zu geben.

Er trat an das Pult, das vorn am Podium stand, und stellte sich seitwärts dazu, mit dem Ellenbogen sich daran legend. Es lag keinerlei Manuskript auf dem Pult und er hielt auch keines in der Hand – er wollte frei sprechen.

Mit lauter, fester Stimme hub er an:

»Ihr Unzufriedenen! Vorerst nur an diese, an die Unzufriedenen hier im Saale wende ich mich – Ihnen hab' ich eine Botschaft zu verkünden: es wird besser werden ... Vielleicht bald, vielleicht noch lange nicht – das hängt von der Zahl und der Arbeit der Unzufriedenen ab. Aber unter denjenigen hier, die diese Ansprache auf sich beziehen können, muß ich – sollen meine Worte nicht an eine falsche Adresse gehen – genauer sichten, welche Gattung Unzufriedener ich meine. Jene sicher nicht, die damit unzufrieden sind, daß man allenthalben beginnt, an alten Zuständen zu rütteln; auch jene nicht, die ihrer Unzufriedenheit durch Schimpf und Gehässigkeit Luft machen wollen – eine Methode, die von der Hetzrede bis zur geschleuderten Bombe reicht – und ebensowenig jene, die mit ihrer eigenen zufälligen Privatlage unzufrieden sind und nun wünschen, daß bloß diese – im Rahmen der bestehenden Verhältnisse, so viel auch andere davon bedrückt werden – sich zum Besseren gestalte. Nein, weder zu den Quietisten – im Sinne von quieta non movere –, noch zu den Anarchisten der Tat, noch zu den einfachen Egoisten rede ich, sondern zu denen, die ein heiliger Unmut erfüllt gegen das Unglück aller Bedrängten und Bedrückten – und ein heiliger Wagemut dazu, das Unglück wegschaffen zu wollen – für sich und für andere.

Doch einzig mit Mitteln, die eben so rein seien, wie der Zweck.

Nun will ich die Dinge herzählen, mit denen wir unzufrieden sind und sein müssen, wenn anders es wirklich »besser werden soll.«

Er machte eine kleine Pause und veränderte seine Stellung. Dann begann er mit gleichfalls verändertem Ton die angesagte Herzählung.

Eins nach dem andern ließ er die Zustände und Einrichtungen Revue passieren, die das Ungemach und die Qualen des gegenwärtigen Gesellschaftslebens verschulden. An jede einzelne seiner Anklagen – denn indem er die Zustände nannte, klagte er sie an – knüpfte er eine Schilderung, beinahe eine Erzählung. Es war wie eine Reihe vorgeführter Bilder, fertig und lebensvoll: Arbeiterelend, Frauenerniedrigung, Soldatenmißhandlung, Konfessions- und Rassenhader, das Schicksal der Arbeitslosen, und was sonst der beklagenswerten Erscheinungen in der herrschenden Gesellschaftsordnung mehr sind.

»Eine Gesellschaftsordnung, die auf Privilegien aufgebaut, auf Gewalt gestützt und von Ungerechtigkeit und Unwissenheit durchseucht ist. Eine Gesellschaftsordnung, die zwar alle Tugenden und Gebote kennt und verkündet, deren Herrschaft und Befolgung allgemeines Glück verbreiten würden – nämlich die Tugenden: Milde, Großmut, Nächstenliebe – Feindesliebe, sogar die Gebote: töte nicht, lüge nicht, neide nicht; die aber alle diese schönen Dinge in die Moralhandbücher, in die Religionsstunden, eigentlich ins Jenseits verbannt, im öffentlichen Leben aber ohne Geltung läßt und in ihren staatlichen Institutionen geradezu ins Gegenteil verkehrt.«

Etwas wie ein eisiger Hauch wehte den Redner an. Hatte er leises Murren oder das Räuspern des Polizeiorgans gehört, oder war es nur jener geheimnisvolle Rapport, der zwischen einem Vortragenden und der ihm lauschenden Menge sich einstellt? – Kurz, er wurde plötzlich gewahr, daß ein Teil der Zuhörerschaft tadelnden Widerspruch, wenn auch nicht äußerte, so doch empfand.

Wenn er jetzt zurückwich, war er verloren. Ein feindseliges Publikum, das kann nicht gesänftigt, das muß gebändigt werden. Er trat einen Schritt vor, mit verschränkten Armen, mit zurückgeworfenem Kopf.

»Und jetzt ein Wort an die Zufriedenen hier im Saale. Ihnen habe ich nicht zu Dank gesprochen. Die Anklage gegen Bestehendes klingen in Ihren Ohren wie Aufreizung zum Umsturz, – und dabei könnte stürzen, was Ihre Zufriedenheit bedingt: Stellung, Reichtum, Karriere ... darum Handschellen und Knebel her für den aufwiegelnden Störenfried!

Zufriedene, meine Brüder – wir sind ja alle Brüder – Sie vergessen, daß Sie den Störenfrieden vergangener Tage alles danken, worauf Ihr heutiges Behagen, Ihre gegenwärtige Sicherheit und Freiheit – so viel, oder, meines Erachtens, so wenig Sie davon haben – mit einem Wort, Ihre ganze Kultur ruht. Hätten alte Zustände niemals ihre Ankläger, neue niemals ihre Verteidiger gefunden, so wäre dieses ganze Publikum heute vielleicht bei einem auto da fé versammelt, oder, wenn man noch weiter zurückgreift, hauste es knochennagend in dunklen Höhlen ... Nur scheinbar ist der Verlust, wenn eine gewohnte, liebgewordene alte Ordnung einer moderneren Platz macht; so haben die Ritter ihre Burgen aufgeben müssen, auf Knappen und Wassergräben verzichten – doch welcher von ihren Nachkommen lebt jetzt nicht sicherer und besser in den unverteidigten Landhäusern? Welcher kann nicht bequemer die gebrauchten Waren sich verschaffen, wenn er sie in den Stadtläden einkauft, als wenn er sie durch Überfall fahrender Kaufleute sich erbeuten müßte? Es kann kein Übel oder Leiden geben – wenn solches Übel und Leiden der einen den anderen auch Vorteil und Gewinn bringt –, dessen Fortschaffung nicht den anderen noch größeren Gewinn zuführte, als sein Bestehen ihnen gewährte.

Darum: nur niemals erlahmen in der Bekämpfung einer als Übel erkannten Einrichtung! Niemals zurückweichen aus Rücksicht für ihre Träger und Diener; nicht die Sklaverei bestehen lassen wegen des Profits der Sklavenhändler, oder die Folter beibehalten wegen des Erwerbs der Folterknechte. Rücksichtslosigkeit? Die gehört zu jeder Rettungsarbeit. Ertrinkende darf man bei den Haaren aus dem Wasser ziehen, aus brennenden Häusern mag man die Leute unsanft in die Rettungsschläuche stoßen, und aus sozialen Übelständen soll man die verblendet Zufriedenen durch rauhe Wahrworte zu befreien trachten. Befreien, erlösen: das sind nicht Aufgaben, die man erfüllt, indem man aus Füllhörnern Blumen schüttet, sondern« – der Sprecher trat noch einen Schritt vor und sprach mit lauterer Stimme – »sondern, indem man mit wuchtigen Hieben Ketten sprengt, mit kühn geschwungenem Speer Drachen fällt, oder mit zornig geschwungener Peitsche einen Tempel reinfegt!«

Lautes Händeklatschen. Da erschrak Rudolf und er fühlte sich erröten. Dieser Beifall erschien als Quittung für einen plumpen Theatereffekt. Von Hieben, Drachen und Peitschen hatte er gesprochen, dabei hatte seine Stimme gedröhnt, und das Publikum dankte ihm dafür, wie einem debütierenden Tenoristen für ein gut geschmettertes hohes C.

Es hätte nur noch gefehlt, daß er sich höflichst verbeugte. Das tat er nicht. Er blieb mit verfinsterter Miene eine Weile regungslos; dann hub er wieder an, indem er wie ruheheischend die Hand vorstreckte:

»Es scheint mir, daß ich mißverstanden wurde. Axt und Speer und Peitsche, die mir einen Applaus eingetragen, als hätte ich diese Kraftwerkzeuge virtuosenhaft durch die Luft sausen lassen, die waren nur bildlich gemeint. Ich stehe hier, um gegen die rohe Gewalt zu sprechen; aber für das Wort selber, diese Waffe des Gefühls und der Idee, wollte ich das Recht vindizieren, scharf und wuchtig zu sein – und kräftig und unerschrocken gebraucht zu werden, wie einst Axt und Speer und Peitsche gebraucht worden sind. Die Dinge, die ich bewältigt sehen wollte, waren da auch nur in bildlichem Sinne gedacht. Die Ketten sind nicht aus Eisen, die Drachen haben keine Schuppen und nicht auf steinernen Säulen ruhen die Tempel, die ich meine. Ich muß deutlicher werden –«

Und nun ging er daran, in ruhigem Tone zu erläutern, was in seinen Augen die Ketten und Fesseln seien, mit welchen wir alle gebunden sind, und wie sie abzuschütteln wären; was er sich unter dem hehren Tempel denkt, den die Händler entweihen, und wie man diese zu verjagen hätte; und schließlich wie der Drache heißt, der in der Mitwelt so verheerend haust, und woraus die Sankt-Georgs-Tat bestehen soll, durch die das Ungetüm zu erlegen sei. »Jeder Mann wird als Sklave geboren. Er muß dienen, ob er will oder nicht, er muß ein vorgeschriebenes Lernpensum durchmachen, soll er nicht drei, sondern nur ein Jahr dem Militärzwang unterliegen – und während er dieses Mußjahr dient, heißt er euphemistisch »Freiwilliger«. Von Freiwilligkeit und Selbstbestimmung sieht man im ganzen Gesellschaftsgetriebe nur wenig. Die Leibeigenschaft ist zwar aufgehoben – aber ist man nicht an die Scholle gefesselt, wenn man nicht nach beliebigem Ziel und auf beliebige Zeit verreisen kann, ohne Deserteur zu heißen, und ist man etwa bewegungsfrei, wenn man die Galeerenkugel der Armut schleppt? Wie all diese Ketten zu sprengen seien? Durch die Lösung der sozialen Frage. Daß er diese Lösung hierher mitgebracht habe, in eine fertige Formel gedrängt: so viel törichte Vermessenheit würde man ihm hoffentlich nicht zumuten; er habe nur diese Mahnung zu geben: die soziale Frage muß unablässig, ehrlich, wissenschaftlich studiert, Experimente müssen gewagt werden, so lange bis man die Lösung gefunden hat – der hehre Tempel, das ist die Natur, das ist das Leben selber. Beide so voll der Pracht und der Wunder, der Mysterien und der Schätze. Das Leben mit seiner angeborenen Lust – die Lebensfreude – und das Allerheiligste dazu – die Liebe. Die Natur in ihrer Ewigkeit und Unendlichkeit, in ihrer Allmachtskraft, ihren immerwirkenden Gesetzen und stetem Entfaltungswandel ... Und wie wird dieser Tempel – Natur und Leben, uns als Stätte der Andacht und der Seligkeit gegeben – wie wird der geschändet durch den darin betriebenen Täuschungsschwindel und Lügenschacher! Heraus damit! Zu dieser Reinigung braucht man nur das eine: Wahrheit und Wahrhaftigkeit. Mit anderen Worten: die Offenbarungen der Wissenschaft zum Dogma, – das stete Forschen nach Erkenntnis und deren mutige Verkündigung zum Kultus – und die unschuldigen Genüsse des Lebens zum Ritus erhoben. Genüsse, auf die alle den gleichen Anspruch haben sollen. Das haben die Kirchen gar wohl verstanden, daß auf ihre Feste und Feiern, auf Gnaden und Verheißungen alle gleich berechtigt sind – auch die Ärmsten und Niedrigsten – ebenso muß in dem Tempel, den ich meine, jeder gleichen Anspruch und Anteil an Lebensfreude haben – auch die Ärmsten und Niedrigsten. Oder vielmehr: Ärmste brauchte es nicht mehr zu geben, die Erde ist fruchtbar genug, damit keiner darbe – und niedrig darf niemand heißen, der nicht niedrig denkt ...

»Und nun der Drache –«

Rudolf machte eine kurze Pause um sich zu sammeln. Jetzt wollte er das vorbringen, was ihm am tiefsten im Herzen brannte, und von dem er wußte, daß es einer Auffassung entstammt, die für neun Zehntel aller Gegenwartsmenschen ganz ferne lag. Ihm erschien als der feindliche Drache was jene als Götzen verehrten.

Martha befiel eine leise Angst. Sie sah kommen, was ihr Sohn sagen wollte und sie zitterte, daß dies für manchen Anwesenden verletzend ausfallen könnte. In den Parkettreihen sah man zahlreiche Uniformen – und doch war das Ungeheuer, gegen das der Vortragende jetzt den Georgs-Speer zücken wollte, der Krieg – –

»Ach Kolnos«, flüsterte sie ihrem Nachbar zu, »mir ist bange.«

»Ich verstehe Sie,« gab er zurück. »Aber nur unverzagt, Martha Tilling – dort oben steht ein Kämpfer ... Er tut und sagt, was er muß.«

»Freunde, Gegner und Gleichgültige hier im Saale, Glückliche und Bedrängte, Männer und Frauen, Reiche und Arme, Soldaten und Bürger, Aristokraten und Arbeiter – der Drache, den ich meine, das ist nicht nur mein, das ist auch Ihr, ist unser aller heimtückischer Feind. Und sein Name ist – Gewalt. Aber nicht als ein zu Bekämpfendes, Verheerendes, Ungeheuerliches – mit einem Worte nicht als Drache wird von unserer Gesellschaft die Gewalt anerkannt, sondern sie gilt und schaltet als deren legitime hochangesehene Herrscherin. Sie betrachtet man als Grundlage der Ordnung, als Schutz vor Gefahren; sie ist die Spenderin der höchsten Ehren, die Vollzieherin des Rechts. Der Glanz und Stolz der Nationen beruht auf der gewaltgesicherten Macht; Gewalttaten werden Großtaten genannt; zur Erlangung von Orden und Würden, zur Betätigung von Pflichttreue und Mut, zur Verteidigung und Eroberung der »höchsten Güter« dient als Mittel der Totschlag.

Und dieses System ist so tief gewurzelt in allen unseren Einrichtungen, in der Erziehung, im Unbewußten – daß die meisten unter uns im Dienste des Drachen Gewalt leben und sterben, ohne ihn nur einmal in die bluttriefenden Augen geschaut zu haben.

Die wenigen, die das Ungetüm in seiner Entsetzlichkeit erkennen, die werden von tiefem Schauer durchbebt – Schauer und Schmerz. Töten, töten, töten ... wenn man sich in den Sinn dieses Wortes versenkt, und dabei die Einbildungskraft (die ja bei abstrahierten Begriffen so selten mittut) spielen läßt, und sich vorstellt, wie man das Eisen in die Brust des Bruders bohren, oder unter seinem Hieb verbluten soll, und wenn man als letzten Schluß der Zivilisation das Schlachtmesser – ob man es auch hochtrabend Schwert nennt – walten sieht, da wird man von dem St. Georgsfeuer erfaßt: das Scheusal muß überwunden werden.«

Wieder eine Applaussalve.

Kopfschüttelnd fuhr Rudolf fort: »Wenn ich im Eifer meines Gefühls mich zu etwas heftiger Sprache mit gewalttätigen Bildern hinreißen lasse, so lohnt mich Ihr Beifall. Aber, daß ich's nur gleich sage: Zur Überwindung der Gewalt denke ich mir keinerlei Gewalttaten. So lange man glaubt, das Böse mit Bösem vertreiben zu können, wird der Gewaltring nicht gebrochen, der uns umklammert hält.

Der Gang der Kultur ist das Zurückweichen der Gewalt vor dem Recht. Noch sind wir auf diesem Wege nicht weit vorgeschritten; aber jedenfalls wird die menschliche Gemeinschaft in derselben Richtung weiter sich bewegen, bis zum Eintritt in die gewaltlose Ära, in die »Kriegslose Zeit« – wie dies vom Versöhnungsapostel Egidy – der selber ein tapferer Soldat war – geprägte Wort lautet. Was wir tun können, ist die Beschleunigung dieser Entwicklung; – aber jedes brutale Mittel: Aufruhr, Attentat, Verfolgung – verfehlt den Zweck, und verzögert den Gang der Kultur.

Revolution predige ich nicht. Ich rufe auch nicht dem Publikum zu: »Gehet hin und schaffet dieses oder jenes ab,« denn ich weiß, daß wir nicht direkt aus diesem Musiksaal herausgehen können, ein kleines Häuflein Leute, selbst wenn wir eines Sinnes wären, was wir gewiß nicht sind – um heute abend noch, oder morgen früh, die gleichgültige Masse draußen mitzureißen, die Gegner zu bekehren und jahrtausend alte Institutionen umzustoßen. Ich sage nur dieses, den Unzufriedenen zum Trost, den Zufriedenen zur Warnung: die Wandlung vollzieht sich schon.«

Und so wie er vorhin die Zustände aufgezählt, die mit ihren Qualen und Lasten die Gegenwart bedrücken, so nannte er jetzt, eine nach der anderen, die verschiedenen Bewegungen und Organisationen, welche eine glücklichere und gerechtere Zukunft vorbereiten; und neben den sichtbaren Organisationen auch die unsichtbaren Stimmungen im Zeitgeist, durch die ein höheres Menschentum und damit auch eine höhere soziale Ordnung sich ankündigt.

»Noch etwas zum Schluß. Ich habe von Eintracht, Wohlstand, Friede, Freiheit gesprochen und gezeigt, wie viele Keime schon sprießen, aus denen der Garten des kommenden Paradieses hervorblühen wird. Und da bin ich mir des Spottes wohl bewußt, der aus gar weisen Hirnen auf mich niederträufeln wird. – – O, der naive Tor, wird es heißen – er sieht nicht, wie die praktische Welt auf das Gegeneinander und nicht auf sein empfohlenes Neben- und Füreinander eingerichtet ist; er sieht nicht, wie die Interessen überall im Kampfe liegen, er hört nichts vom Lärm der Parteizwiste, des Klassenloses, der Rassenverfolgungen, er weiß nicht, wie die Geister von altem und neuem Aberglauben befanden sind – o der blinde, taube Träumer!«

»Darauf will ich antworten: Alles das sehen und hören wir nur zu deutlich, wir, die wir eine schönere Zukunft vorhersagen; wir sehen und hören sogar schärfer als die anderen, denn unter der wuchernden alten Riesenvegetation sehen wir auch die blaßgrünen Hälmchen der künftigen Flora; durch den wüsten Lärm des Heute vernehmen wir doch schon den noch fernen Heroldsruf des Morgen ...

Als letztes Wort wiederhole ich also mit tiefster Zuversicht mein erstes: es wird besser.

Aber mithelfen müssen wir dabei!«

Der Vortrag war zu Ende. Im Saale wurde geklatscht – nicht übermäßig, und das Publikum strömte den Ausgängen zu.

Rudolf stand im Künstlerzimmer, wo ihn einige Freunde beglückwünschten. Mit Kopfschütteln wehrte er die Komplimente ab. Er fühlte sich unbefriedigt und abgespannt.


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