Bertha von Suttner
Martha's Kinder
Bertha von Suttner

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XXXII.

In der Wohnung seines Vaters lag Hugo Bresser. Die Kugel, die ihn verwundet hatte, war zwar glücklich gefunden, und entfernt worden, aber noch schwebte der Patient zwischen Leben und Tod.

Im Krankenzimmer herrschte Halbdunkel; die Fenstervorhänge waren zugezogen, denn Hugo vertrug kein Licht, es tat ihm weh. Am Kopfende des Bettes stand der alte Vater, und an der Seite saßen zwei Frauen, Sylvia und Martha.

Nach dem Duell hatte Anton Delnitzky Wien verlassen. Seiner Frau ließ er ein Schreiben zurück, worin er ihr die von ihr verlangte Freiheit gab. Die »Scheidung soll vollzogen werden« – schrieb er – »den Grund hast Du dazu gegeben. Deinen Geliebten habe ich natürlich niederschießen müssen; nach dem was vorgefallen, hatte weder er noch ich eine andere Wahl, als auf den Kampfplatz zu gehen. Und Du und ich können miteinander nichts mehr zu tun haben; wir können uns gegenseitig auch nicht verzeihen, was wir einander angetan. Du hast unsere Ehre tötlich verletzt – und ebenso verletzte ich Deinen Liebhaber. Da gibt es keine Verzeihung – weder für Dich noch für mich. Wir sind miteinander fertig.«

Als Sylvia von der Ohnmacht erwachte, in die sie bei jenem Auftritt gefallen war, befand sie sich auf ihrem Bette, auf das man sie gebracht hatte. Sie mußte nicht, wie lange sie bewußtlos gewesen, noch was weiter geschehen war.

Daß ein Zweikampf folgen würde, wußte sie, und ein fürchterlicher Zorn stieg in ihr auf über die elenden Einrichtungen der menschlichen Gesellschaft, die als Klärungsmittel für schwierige Lagen den Mord eingesetzt haben. Als ob das Töten irgend etwas gut machen könnte! Die beiden Männer würden sich schlagen – das war klar. Ein wildes Verlangen, dieses Duell zu verhindern, erfüllte sie – doch wußte sie zugleich, daß jeder Versuch scheitern würde. Was konnte sie tun? Sich dem Gatten zu Füßen werfen? Umsonst! Abzubitten hatte sie ihm nichts – und um das Leben des andern flehen: was half's? Der andere würde ja selber – sie erinnerte sich des Schlages, den er ins Gesicht bekommen – nicht ruhen, ehe er diese Schmach mit Blut gewaschen. Als ob vergossenes Blut überhaupt etwas reinigen, etwas Geschehenes ungeschehen machen könnte – o über den geheiligten Widersinn, unter dessen Herrschaft die blöde Welt sich gestellt hat! Oder zu Hugo eilen und ihm sagen: Du gehörst mir, Du hast kein Recht mehr, Dich mir zu entreißen – fliehen wir ...

Aber kaum zum Bewußtsein zurückgekehrt, und diese und ähnliche Gedanken in ihrem gequälten Hirne wälzend, verfiel sie in heftiges Fieber mit Delirium. Und was die nächsten Tage brachten, das wußte sie nicht. Sie nahm nur dunkel wahr, daß um sie Frauen bemüht waren, daß ein Mann ihren Puls fühlte, und daß die Gestalt ihrer Mutter über sie gebeugt war ...

Erst als das Duell schon vorbei war, hatte sie sich wieder erholt. Jetzt mußte sie alles erfahren. Sie forderte es. Sie schrie nach Auskunft – es war ihr Recht ... Martha willfahrte ihr:

»Das Duell hat stattgefunden – auf Pistolen – Anton blieb unverletzt und ist abgereist, und Hugo –«

»Ist er tot?«

»Nein, Kind, nicht tot – aber schwer verwundet.«

Jetzt fand sie keine Ruhe mehr, sie mußte zu ihm. »Aber Sylvia – Du, zu dem Mann, mit dem sich Dein Gatte geschlagen, was würde die Welt –«

»Darnach frage ich nicht – Hugo stirbt vielleicht. Die Welt? – Ihre Satzungen sind es, die Dir Mutter, Deinen Abgott getötet haben, und die den Mann, der mich betrogen, zum Mörder meines Geliebten machten.«

»Dein Geliebter? ... so war er –«

»Wie soll ich ihn anders nennen? – Ich lieb' ihn ja. Die Welt verachte ich und verächtlich wäre ich, tät' ich's nicht ... Gehen wir – komm mit, Mutter, und gehen wir gleich.«

Drei Tage waren seit dem ersten Krankenbesuch der beiden Frauen vergangen.

Hugo lag mit geschlossenen Augen da und atmete schwer.

»Schläft er?« fragte Martha im Flüsterton.

Doktor Bresser schüttelte den Kopf: »Ich glaube nicht.«

Sylvia war blaß und verweint. Noch hoffte sie auf Rettung, aber schon die Möglichkeit – die sogar eine Wahrscheinlichkeit war – daß er verloren sei, und dazu der Anblick seiner Leiden, verursachten ihr so tiefen Schmerz, daß seit drei Tagen und Nächten ihre Tränen fast nie versiegten.

Gestern und vorgestern waren Mutter und Tochter je zwei Vormittags- und zwei Nachmittagsstunden bei dem Kranken geblieben und am Abend wurde noch um Nachricht geschickt. Augenblickliche Gefahr war noch nicht eingetreten gewesen.

Martha blickte auf die Uhr und stand auf.

»Komm, Sylvia, jetzt wollen wir gehen.«

Die junge Frau erhob sich auch.

»Sollte es schlechter gehen, so lassen Sie uns rufen,« sagte sie zum Doktor.

Aber als die Beiden schon nahe der Tür waren, kam ihnen Bresser nach und sagte bedeutungsvoll: »Gehen Sie nicht –«

Sylvia erbebte. Sie schaute zu Bresser auf, eine entsetzte Frage im Blick.

Er verstand diese Frage und antwortete: »Ich fürchte –«

Sylvia flog wieder an die Seite des Bettes zurück und kniete da nieder. Jetzt weinte sie nicht – der Schreck war zu heftig gewesen.

Hugo lag regungslos; der Atem, der durch seine halboffenen Lippen drang, hatte einen leise wimmernden Laut.

Baronin Tilling ergriff die Hand ihres alten Freundes?

»Was fürchten Sie? – Steht es so schlecht?«

»Es steht schlecht.« Es gab Martha einen Stich. Dabei dachte sie weniger an Hugo, als an den Freund. Der einzige Sohn! – Freude und Stolz seines Vaters ... eine so glanzvolle Zukunft vernichtet ...

»Ich habe nicht genügend Vertrauen in meine Kunst, – auch nicht in die des Arztes, der ihn jetzt neben mir behandelt – ich habe noch Professor Linden gerufen.« Er wandte sich an die knieende Sylvia: »Gräfin Sylvia, Doktor Linden kann jeden Augenblick kommen. Wollen Sie vielleicht unterdessen ins Nebenzimmer? –«

Sie hob den Kopf.

»Das hat ja Zeit, bis er da ist – und wenn er mich fortschickt.«

»Dann hat er Sie aber schon gesehen.« – Sylvia blickte verständnislos – »Ich meine, es könnte dann bekannt werden ... Doktor Linden kommt überall herum ... und nach allem, was man in der Stadt erzählt –«

»Ist mein Platz nicht hier, meinen Sie?«

»Mein Gott, die böse Welt –«

Ein Ausdruck tiefster Geringschätzung flog über Sylvias Züge:

»Ich bleibe.« Und wieder vergrub sie den Kopf in die Decke am Bettrand. Bresser hatte sie verstanden: angesichts von Liebe und Tod – diesen beiden erhabenen Gewalten – war dem jungen Weibe das, was er vorhin die Welt genannt, zu einem Nichts geschrumpft.

Der erwartete berühmte Professor kam. Er konnte nur bestätigen, was Doktor Bresser selber gefunden: die Gefahr war groß. Natürlich hatte er die beiden Damen erkannt und wohl darüber gestaunt, daß diejenige, deren Gatte – ihretwegen – den Rivalen verwundet hatte, an diesem Krankenbette weilte, aber er ließ davon nichts merken.

Er verordnete weiter nichts als eine hohe Dosis Chinin zur Niederschlagung des Fiebers. Gelänge es nicht, die 40 Grad-Temperatur herabzudrücken, stiege sie noch über 41, so wäre das das Ende ... aber es war ja möglich, daß ... nun, er wollte am selben Abend noch einmal nachsehen.

Im Vorzimmer ging es lebhaft her. Ein Zeitungsreporter reichte dem andern die Türklinke. Auch andere Leute in Menge kamen Nachricht zu holen über den Zustand des Dichters. Bressers Diener gab Auskunft über das Befinden und den Zeitungsmenschen teilte er die Bulletins mit, welche dann regelmäßig in allen Morgen- und Abendblättern erschienen. Die ganze Stadt war voll Teilnahme und etwas Skandalsucht mischte sich wohl auch dazu, man erzählte sich in allerlei Versionen, was die Ursache des Duells gewesen und der abgedroschene Satz »cherchez la femme« wiederholte sich in all' den geistreich sein wollenden Kommentaren. Es wurde Abend. Eine schirmüberschattete Lampe in einer vom Bett entfernten Ecke verbreitete nur sehr gedämpftes Licht in dem durch dunkle Tapeten und Holzverkleidungen ohnehin dunkel erscheinenden Raume. Es war sein Studierzimmer, in das der Doktor den verwundeten Sohn hatte betten lassen – das geräumigste Gemach der Wohnung.

Hugo war eingeschlummert. Sylvia saß neben ihm und hielt seine Hand in der ihren. Auf einem Diwan am anderen Ende des Zimmers saßen Doktor Bresser und Martha nebeneinander, in mehr oder minder langen Zwischenräumen leise Worte tauschend.

»Erinnern Sie sich,« sagte Martha nach einer Pause, »unserer Fahrt auf dem Karren von Königinhof nach Horowetz am Tage nach der Schlacht?«

»Ich erinnere mich ... An dem Leichenhaufen vorbei, von dem die Raben aufflogen. Das war doch noch trauriger.«

»Nur schauriger – und ebenso überflüssig.«

»Ja, es ist dieselbe große Sünde: Zweikampf oder Hunderttausendkampf – derselbe Wahn, daß man mit Töten etwas erreichen, etwas beweisen, etwas gutmachen kann. Es ist alles so traurig, so traurig –«

»Mein armer Freund ...« Martha seufzte schmerzlich. Es war ihr unendlich weh zu Mute. Dieser sterbende junge Mann, das verdorbene Schicksal ihrer Sylvia ... Von Rudolf – der hatte auch gar harte Kämpfe aufgenommen – war sie schon länger ohne Nachricht. Die ganze Zukunft ihrer Kinder (an sich dachte sie ja nicht) schien ihr mit einem Male so verrammelt, die ganze Welt so verdüstert. Bilder aus der Vergangenheit stiegen vor ihrer Erinnerung auf, alle so grausig wie das, welches sie vorhin wachgerufen: der vom Leichenhaufen an der zerschossenen Kirchhofsmauer zu dem von fahlem Mondlicht erhellten Nacht« Himmel auffliegende Rabenschwarm ... Sie sah den Novembertag auf dem Gräberfeld von Sadowa, da der junge Kaiser in Tränen ausbrach – die schmucklosen Särge sah sie, in denen man im Laufe einer einzigen Woche – der Grumitzer Cholerawoche – ihre drei blühenden Geschwister hinausgetragen – und, das fürchterlichste Bild von allen: zusammenstürzend unter dem Feuer des Exekutionspelotons, die geliebte Gestalt ihres Friedrich – –

Der Kranke erwachte. »Wasser!« bat er leise.

Der alte Doktor stürzte hinzu, aber Sylvia hatte schon ein Glas gefüllt und mit erregungszitternder Hand an Hugos Lippen gesetzt. Er trank mühsam, aber gierig. Dann sank sein Kopf auf das Kissen zurück; er hatte sie wieder nicht erkannt.

Seit Sylvia hierhergekommen – jetzt war es schon am dritten Tage – hatte er noch mit keinem Wort und keinem Blick gezeigt, daß er wußte, wer da neben ihm war. Sie lechzte danach, von ihm erkannt zu werden. Sie wußte, daß ihre Nähe ihn beglückt hätte; es war ihr schrecklich, daß er nicht imstande war, dieses Glück – vielleicht das letzte – noch zu fühlen. Vergebens hatte sie ihm zugeflüstert: »Hugo, Hugo, ich bin's – sieh mich an – Deine, Deine Sylvia!« Vergebens ihm ins Auge geschaut, die verzehrendste Leidenschaft, die innigste Zärtlichkeit im eigenen Blick – seine armen, fieberbrennenden Augen irrten wie hilfesuchend umher und nicht ein Schein von Verständnis und Bewußtsein. Das war ja gar nicht Hugo, der da lag, nicht ihr Dichter, von dem sie angebetet wurde, das war nur ein zuckender, leidender Körper mit zwar noch nicht entflohener, aber abwesender Seele.

Gegen Zehn Uhr kam der Professor wieder. Er fand – was auch Doktor Bresser schon konstatiert hatte – daß das Fieber bedeutend nachgelassen. »Das ist günstig«, setzte er hinzu.

Sylvia erbebte. Wie ein seliger Hoffnungsblitz hatte sie dieses Wort durchfahren.

Beim Fortgehen gab der berühmte Arzt die Möglichkeit zu, daß der junge Mann davonkomme. Die folgende Nacht würde er wahrscheinlich ruhig schlafen. Da wäre viel gewonnen. Und beim nächsten Erwachen – Hugo war wieder eingeschlummert – würde er wohl bei Bewußtsein sein.

»Bei Bewußtsein« – auch dieses Wort durchfuhr Sylvia mit sehnsuchtsheißer Freude – ein Wiedersehen würde das ja sein!

Martha schlug vor, daß man nach Hause fahre. Sylvia aber weigerte sich.

»Ich weiche nicht mehr von hinnen, bis er gerettet ist, oder –«

»Tot« brachte sie nicht über die Lippen. Um keinen Preis hätte sie den Augenblick versäumen wollen, den der Professor vorher gesagt – den Augenblick des zurückkehrenden Bewußtseins. Wenn er erwachte, mußte sein erster Blick auf sie fallen – dann würde es ein glückliches Erwachen sein, das wußte sie.

Als Martha sah, daß ihre Tochter so fest entschlossen war, zu bleiben, verzichtete auch sie auf das Nachhausegehen. Doktor Bresser stellte ihr sein Schlafzimmer zur Verfügung – er selber wollte bei seinem Sohne wachen. Auch Sylvia bot er an, ihr in einem Nebenraum ein Bett aufschlagen zu lassen, sie aber erklärte, daß sie sich von dem Lehnstuhl an Hugos Seite nicht rühren werde – sie könne auch da ruhen. Martha nahm des Doktors Anerbieten an und zog sich zurück.

Zwei Stunden später. Hugos Atemzüge gingen regelmäßig und ruhig. Bresser lag angekleidet auf dem Diwan und war eingeschlummert, ebenso die Wärterin, die in einem Lehnstuhl neben dem Ofen ruhte. Die einzige Wache im Zimmer war Sylvia, die beim Kopfende des Krankenbettes saß und unverwandten Blickes auf den Daliegenden schaute, obwohl die geliebten Züge kaum zu erkennen waren, denn die Lampe am anderen Ende des Zimmers war noch mehr herabgedreht worden und nur ein ganz schwacher Schein ging davon aus. Die Wanduhr tickte hörbar – vor kurzem hatte sie ein Uhr geschlagen. Im Ofen knisterten die brennenden Scheite. Von der Straße her, trotz der geschlossenen Läden, dringt von Zeit zu Zeit das dumpfe Rollen eines vorüberfahrenden Wagens – Leute, die von lustigen Festen heimfuhren, vermutlich, und die keine Ahnung hatten von dem Bangen hier oben – ein Bangen, das sich vielleicht bald in wilden Schmerz verwandeln konnte. Der Gedanke, daß der Geliebte sterben würde, drängte sich ihr immer wieder auf. Manchmal quälte sie sich absichtlich damit, sich vorzustellen, daß er schon tot sei – ein Faltenwurf der Decke auf seiner Brust warf einen Schatten, der bei einiger Einbildung wie ein Kruzifix aussah ...

So verging noch eine Stunde. Die Uhr holte schnarrend aus, um Zwei zu schlagen. Zugleich regte sich der Kranke.

Sylvia sprang auf und neigte sich über ihn. Seine Augen waren offen. Es durchfuhr sie der gleiche selige Hoffnungsstrahl wie bei Professor Lindens Wort: »bei Bewußtsein«. Vielleicht jetzt ... vielleicht war er – er selber wieder da – –

»Hugo, Hugo, kennst Du mich?« rief sie leise, aber inbrünstig.

Er war in der Tat zum Bewußtsein erwacht. In raschen Erinnerungsblitzen spielte sich in seinem Geiste das Vorgefallene ab: das Duell, die Verwundung, der Transport hierher, die Operation und dann ein leeres Nichts. Und jetzt: ihr Gesicht lag im Schatten, aber die Stimme hatte er erkannt – jetzt, über ihn gebeugt, das Weib seiner Liebe ...

»Sylvia Sylvia, Du! – So hab' ich Dich wieder?«

»Und auf immer ... bist gerettet – bist genesen ... ein langes Leben liegt vor Dir, vor uns ... Nichts soll uns trennen. – Wie ist Dir?« ... Wie fühlst Du Dich?«

»Ich bin glücklich, Sylvia, o so glückl – –«

Er erhob sich ein wenig, fiel aber mit einem' durchdringenden Schmerzensschrei wieder in die Kissen zurück.

Da war auch schon Doktor Bresser an der Seite seines Sohnes und beugte sich über ihn.

»Er ist zu sich gekommen«, sagte Sylvia, »er hat mich erkannt, Nicht wahr, Hugo – was ist Dir? ... Hugo, so sprich doch! ...«

Der alte Mann wehrte ihr ab:

»Still, er stirbt – –«


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