Bertha von Suttner
Martha's Kinder
Bertha von Suttner

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IX.

Kurz nach der Abfahrt der Neuvermählten hatte sich Baronin Tilling in ihre Zimmer zurückgezogen. Sie war nicht in der Laune, mit fremden Leuten liebenswürdig zu sein. Diese Aufgabe mußten Rudolf und Beatrix absolvieren, sie sehnte sich nach Ruhe und Einsamkeit.

Gegen Abend aber sehnte sie sich nach Mitteilung, und da ließ sie ihren Sohn bitten, er möge zu ihr kommen. Bereitwillig willfahrte Rudolf diesem Wunsch. Hätte er nicht gefürchtet, seine Mutter zu stören, so wäre er von selber zu ihr gekommen, denn auch er hatte Unausgesprochenes auf dem Herzen, Dinge, über die er sich, mit niemand anderem als mit ihr aussprechen konnte.

Martha, die ihre prunkvolle Brautmutter-Toilette gegen einen bequemen Schlafrock aus schwarzem Samt vertauscht hatte, lag auf einem in die Nähe des knisternden Ofenfeuers gerückten Ruhebett; eine unter großem Spitzenschirm brennende Lampe verbreitete ein gedämpftes Licht in dem wohligen, mit Blumenduft erfüllten Raum. Der Duft kam von den Orangeblüten des Brautbuketts, das Sylvia hier hatte liegen lassen, als sie von der Mutter Abschied nahm.

»Hier bin ich«, sagte Rudolf eintretend. »Wünschest Du etwas von mir, Mutter?«

»Nur Deine Gesellschaft, liebes Kind ... Mir war so bang ... Komm, setz' Dich daher ... Hab' ich Dich durch mein Rufenlassen gestört – Du spieltest vielleicht Karten unten mit den Gästen? Ich will Dich ja nicht lang aufhalten...«

»O, ich habe keinerlei Sehnsucht, wieder hinunter zu gehen. Der Pfarrei hat meinen Platz am Taroktisch übernommen und Du hast mir den größten Gefallen erwiesen, indem Du mich rufen ließest ... Sind das alle Depeschen?« Rudolf zeigte auf einen Haufen Telegramme, der auf dem Tischchen lag. »Ja, ich habe vorhin alle die Glückwünsche durchgelesen – über zweihundert ... fast überall dieselben Worte. Von hoch und nieder – von ihren einstigen Bonnen und von Erzherzögen: demütig die einen, herablassend die anderen – alle wünschen Sylvia Glück ... Und weißt Du, Rudolf, was ich fürchte? ... Sie wird nicht glücklich werden. Das habe ich heute wieder mit erschreckender Deutlichkeit empfunden. Und ich fühle mich so schuldig dabei, so schuldig! ...«

Ihre Stimme zitterte. Rudolf legte beschwichtigend die Hand auf ihren Arm.

»Mache Dir keine Vorwürfe, Mutter. – Die Zeiten sind nicht mehr, da Eltern über das Schicksal der Kinder verfügten. Sylvia hat frei gewählt ... und schließlich, der Toni ist nicht schlimmer als ein Dutzend andere –«

»Unsere Sylvia – meines Friedrichs Sylvia – durfte aber keinem Dutzendmenschen gegeben werden ... Überhaupt, seit einiger Zeit ist mir, als täte ich dem Andenken meines Toten gegenüber nicht mehr meine ganze Schuldigkeit. Als ich an meiner Lebensgeschichte schrieb, da hatte ich das Bewußtsein, eine Aufgabe zu erfüllen; – jetzt, seitdem diese Arbeit vollendet ist, ist mir, als müßt' ich anderes wirken, tun, vollbringen, und ich tue ja nichts ...«

Rudolf sprang erregt auf und ging einige Schritte auf und nieder. Dann blieb er vor seiner Mutter stehen:

»Ich tue nichts. Und das lastet auf Deinem Gewissen wie auf dem meinen. Du hast mich ja dazu aufgezogen, den Kampf fortzusetzen, den Tilling begonnen hatte, und was habe ich bis jetzt geleistet? Immer nur verschoben und verschoben ... immer nur geplant und geplant ... Aber getan? Nichts.«

»Nun, wenn Du im Parlament –«

»Ja, das ist auch so einer meiner Pläne, meiner hinausgeschobenen Arbeitsvorsätze. Aber ich fange an zu fürchten, das es damit auch nichts werden wird... Es fällt ja immer alles ins Wasser – wie zum Beispiel auch die Bressersche Zeitung ... Das sollte mein Organ werden; darin hätte ich ausgeführt und beleuchtet, was im Parlament nur angedeutet werden konnte. Wer weiß aber, ob ich überhaupt ins Parlament komme? Ich werde hin- und hergezerrt, ich möge mich dieser oder jener Partei anschließen, und wenn ich dann sage, was ich eigentlich will – Dinge, die außerhalb der bestehenden Programme liegen, – so finde ich kein Verständnis, so glauben die Leute – ich sehe es ihnen an – ich hätte einen Sparren. Am allerwenigsten verstehen mich die Wähler. Du wirst sehen: ich werde gar nicht gewählt. Mein Gegenkandidat, der tritt so schön vertrauenerregend in die gewohnten Phrasengeleise; der verspricht so bieder, alle kleinen Lokalinteressen zu vertreten, während ich von Allgemeinheitsinteressen fasele ... Gibt's denn eine Allgemeinheit in der Politik? Glauben denn die Leute nicht immer, daß eine Partei die andere niederringen muß, daß es dem A nur gut gehen kann, wenn der B überlistet und der C zermalmt wird? Du wirft sehen, mein Gegenkandidat wird zehnmal mehr Stimmen erlangen als ich. Und das wird mich nicht einmal kränken können, denn in jeder Ansammlung von Köpfen gibt es doch zehnmal mehr dumme als kluge ... Hat man als Grundlage von Gesetzgebung und Regierung etwas blöderes, geradezu schädlicheres finden können, als das Entscheidungsrecht der Mehrheit?«

»Das Instrument mag schlecht sein, Rudolf. Aber wenn kein anderes da ist, worauf willst Du Deine Melodie spielen?«

» Meine Melodie! Wenn nur die auch schon klar und voll und alles andere übertönend mir in der Seele klingen wollte ...«

»Das tut sie ja. Wenn ich an die begeisterten Worte denke, die Du bei Fritzis Taufe sprachst... das war echter Klang –«

»O ja, einzelne große Glockentöne, die ich selber höre, wie sie mir aus Herzensgrund und Seelentiefe schallen ... dann aber kommt wieder der Lärm der Welt hinzu, der sie verschlingt – das Gegacker der Alltäglichkeit, das Gekläffe der Gemeinheit...«

»In solchem Zorne liebe ich Dich... solche Selbstanklage bürgt mir für Dein echtes Wollen.«

»Du bist zu nachsichtig mit mir, Mutter. Ich würde Deinen Tadel, Deine Vorwürfe verdienen. Was habe ich bis jetzt erreicht? Was habe ich nur versucht in jener großen Sache, die Friedrich Tillings Vermächtnis war? Heute hat es mich wie Reue erfaßt...«

»Wir begegnen uns, mein Kind; auch ich habe die Empfindung, mich an Friedrich versündigt zu haben.«

»Du, wieso? Was kannst Du in der Sache noch tun?«

»Nicht in der Friedenssache meine ich. Ich meine... es ist mir schwer zu erklären... Du hast doch meine Lebensgeschichte gelesen? Du mußt darin den Abglanz eines Dings gefunden haben, das in der Welt gar so selten anzutreffen ist: das vollständige eheliche Liebesglück–«

»Ja, das habe ich in Deinem Buch gefunden. Auch habe ich's ja selber – als Kind – gesehen, wie ihr beiden glücklich wart – und wie lieb ihr euch hattet. Ich bin aber auch Zeuge, wie Deine Liebe und Treue übers Grab hinaus bis heute jenem Andenken geweiht geblieben – ... was kannst Du da für Reue fühlen?«

»Daß ich – die ich doch durch ihn die ganze Fülle, die ganze, Heiligkeit ehelicher Liebe kennen gelernt, einer Liebe, die auf voller Seelenübereinstimmung gegründet war, daß ich seine Sylvia nicht auch einem solchen Glücke zugeführt habe – daß ich sie nicht dazu erzogen habe, nur dann ihre Hand zu vergeben, wenn sie zugleich auch unumschränktes Vertrauen, tiefbegründete Achtung schenken konnte... ich habe nicht meine Schuldigkeit getan, Rudolf... Ja, die Pläne, die mein Friedrich für das Wohl der Welt gehegt, seine Gedanken und Spekulationen die habe ich gehütet und der Öffentlichkeit übermittelt; – aber sein persönliches Werk, das er durch sein Herz geleistet hat, das tatsächliche häusliche Glück, das er geschaffen: auch das hätte ich als ein Vermächtnis hüten müssen und auf sein Kind übertragen. Die Lehren, die er gepredigt, die habe ich weiter gegeben, aber die Lehren, die er gelebt, die sind verschollen, durch meine Schuld – meine Schuld – meine Schuld ...«

Martha wiederholte dieses Wort, indem sie die Hände vors Gesicht schlug und in Weinen ausbrach.

Rudolf beugte sich liebevoll über sie:

»Nicht – nicht, Mutter! Du bist nur so angegriffen... das sind die Nerven. Es ist ja natürlich: die Trennung von unserer Sylvia – der entscheidende Schritt ... Aber der Toni ist ja kein böser Mensch – wer sagt Dir, daß sie nicht glücklich wird –?«

Martha trocknete sich die Tränen ab. »Ihre eigene Ahnung sagt es ihr. Wenn Du sie heute gesehen hättest, wie sie – knapp vor dem Kirchgang – mir weinend in die Arme fiel – –«

»Nun ja – das Abschiedsweh.«

»Nein – nicht Schmerz um das, was sie verließ – es war Furcht vor dem, dem sie entgegenging. Nein Rudolf, sprich mich nicht frei. Wenn man gefehlt hat, so ist noch das beste was man haben kann – die Reue.«

»Das finde ich nicht; besonders wenn sich nichts mehr ändern läßt. Nur die Reue ist fruchtbar, die neue Vorsätze, neue Taten nach sich zieht. Drum laß uns auf meine Selbstanklage zurückkommen. Ich kann ja gut machen, was ich gefehlt habe ... Und ich will es. Ich werde – die sind lustig da unten« – unterbrach er sich. Das Zimmer war über dem Salon gelegen und die Weisen eines Straußschen Walzers tönten jetzt herauf. Martha zuckte die Achseln: »Laß sie – warum sollten sie nicht? Hochzeitsstimmung ... die jungen Leute tanzen. Unter anderem, sag' mir, warum ist denn der junge Bresser nicht gekommen?«

»Ich weiß es zufällig: Weil er Sylvia liebte –«

»Was sagst Du da?!« rief Martha auffahrend.

»Du brauchst nicht zu erschrecken. Meine hübsche Schwester hat gar vielen Leuten den Kopf verdreht ... Hugo ist ein vernünftiger Bursch – er hat sich nie Hoffnungen gemacht ... Jetzt ist er abgereist ...«

»Ob der sie nicht vielleicht glücklicher gemacht hätte?« sagte Martha nachdenklich. »Als Mensch steht er jedenfalls höher als Delnitzky ... Aber diese blöden Standesvorurteile ... ich nenne sie blöde und habe sie doch selber ... ich glaube nämlich, daß das Verpflanzen aus einem gewohnten Kreis in einen anderen – niedrigeren – großes Mißbehagen verursacht ... Wenn man heiratet, heiratet man ja sozusagen die Familie, die Freunde des Gatten mit und muß den eigenen entsagen – das ist hart.«

»Der Vereinigung mit der geliebten Person zu entsagen, mag noch härter sein«, bemerkte Rudolf.

»Gewiß ... hätte Sylvia eine tiefe Neigung zu Bresser gehabt – so hätte ich mich nicht widersetzt. Auch zur Heirat mit Delnitzky habe ich nur ja gesagt, weil sie erklärte, so rasend in ihn verliebt zu sein.«

»Hoffen wir, daß sie es bleibt.«

»Ach ich glaube, sie ist's schon heute nicht ...«

Rudolf ergriff Marthas Hand:

»Hör' mich an, Mutter, wenn Dir Deine Tochter Sorge macht, so sollst Du wenigstens durch Deinen Sohn Genugtuung erleben. Ich will nun unsere Sache energisch anpacken. Nicht von Wahlergebnissen und sonstigen Zufällen soll das abhängen ... Ich muß mich auf mich selber stellen. Ich muß mich offen auflehnen – auch gegen meine nächste Umgebung – das ganze Milieu, in dem ich lebe, die ganze Gesellschaft, in der wir verkehren, ist auf dem Dinge ausgebaut, das ich bekämpfen soll – auf dem Gewaltsystem. Damit meine ich nicht nur den Militarismus, gegen den Tillings Bestrebungen besonders gerichtet waren – damit meine ich die Gewalt in allen ihren Formen. Das Recht wird vergewaltigt, die Vernunft wird vergewaltigt –«

Martha schaute überrascht auf: »So leidenschaftlich kannte ich Dich garnicht.«

»Wenn Du an mir Leidenschaft auflodern siehst, Mutter, so versuche nicht, sie zu dämpfen. Ich war eben bis jetzt viel zu kalt und ruhig. Man muß heftig fühlen und heftig wollen – dann erst tut man etwas. Vielleicht scheitert man – das hängt von äußern Umständen ab – vielleicht erstürmt man keinen der festen Plätze, gegen die man anrennt –, aber wenigstens ist man Sturm gelaufen, und weist für Nachstürmende den Weg.«

»Was willst Du also tun?«

»Vor allem werde ich mich mit jenen Männern in Verbindung setzen, die an der Spitze der Schiedsgerichtsbewegung stehen, mit dem Engländer, dessen Brief Du in Dein Buch eingetragen –«

»Hodgson Pratt?«

»Ja. Dann in Paris mit Fréderic Passy, Jules Simon... In Rußland ... da werde ich an Tolstoi schreiben... Wer »Krieg und Frieden« verfaßt hat, der ist mit ganzer Seele ein Feind der Gewalt.«

»Und mit wem wirst Du bei uns ...?«

»Da will ich selber die Fahne aufpflanzen – die weiße Fahne. Hole wieder Deine roten Hefte hervor – ich will Dir, so gut ich kann, neues einzutragen geben.«


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