Bertha von Suttner
Martha's Kinder
Bertha von Suttner

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XVII.

Drei Monate später kehrte Rudolf von seiner Reise heim.

Diese drei Monate hatte er in einem einsamen Häuschen zugebracht, das, von grünen Weidetriften umgeben, mitten in den Bergen verborgen lag. Dorthin war er dem Anblick von Menschen und dem Umgang mit ihnen entflohen. Und dort hatte er jene Schrift beendet, die sein Glaubensbekenntnis und sein Tatenprogramm enthielt. Das wollte er in die Welt vorausschicken und dann mit dem gesprochenen Worte weiter ausführen und verbreiten.

Er fühlte sich im Besitze einer Heilslehre und daher als verpflichtet, sie zu verkünden. Die ganze Lehre faßte er in ein Motto: »Miteinander, statt gegeneinander.« Die Geschichte der Zivilisation, wie er sie auffaßte, war ja nur die Geschichte der wachsenden Gemeinsamkeit – zugleich die Geschichte der überwundenen Brutalität.

Wieviel unüberwundene Brutalität heute noch vorherrscht, das gab den Stoff zum längsten Kapitel des Schriftchens ab. Und in welcher Weise sie überwunden werden kann, das suchte ein anderes Kapitel zu verkünden: durch den Tatenmut der Guten, den Wahrheitsmut der Wissenden. Ganz gut ist zwar noch keiner – alles weiß noch keiner; aber das, was die Vorgeschrittenen an Edelsinn und Vernunft besitzen, das müssen sie hervorkehren – im Kampf gegen alles Unedle, das ihnen begegnet – und sei es in den mächtigsten Sphären vertreten; – gegen alles Dumme – und sei es hinter den gelehrtesten und heiligsten Masken verborgen.

Daß der Gang der Zivilisation nur von elementaren, nur von wirtschaftlichen und technischen Faktoren bestimmt werde; unabhängig von dem Wollen und Wirken einzelner Menschen – das bestritt er. Ideen und Taten sind eben mit Elemente der Kultur, sind – nicht die einzigen, sind aber auch die treibenden Kräfte. Gewiß, Entdeckungen und Erfindungen verwandeln das Getriebe der Welt; aber das Auftreten mächtiger Charaktere – im Guten und im Bösen – bestimmt es nicht minder. Und vor allem: die Summe der Einsicht, die aus der Summe der Kenntnisse resultiert, regelt die Einrichtungen und Sitten der menschlichen Gesellschaft; wer also irgend eine klare Einsicht gewonnen – über manche kommt es ja wie eine Erleuchtung – der soll es hinaustragen, damit jene Summe sich mehre. Rudolfs klare Einsicht war die: Das Elend – in seinen verschiedenen Formen – kann aus der Welt geschafft werden und muß daher aus der Welt geschafft werden. Die Erlangung der Seligkeit für jeden (das haben auch die Religionen so hingestellt) ist eines jeden Pflicht. Aber wie? Kraft welcher Gebote und auf Grund welcher Glaubenssätze? Das hat – wenn es um das irdische Heil sich handelt – die Gesellschaftswissenschaft zu erforschen und zu lehren. Einige der Gebote sind längst – auch von den alten Religionsstiftern – schon gefunden. Die goldene Regel zum Beispiel: Was Du nicht willst, daß Dir geschehe, das tue auch einem anderen nicht; Du sollst nicht töten, nicht stehlen, nicht falsches Zeugnis geben. Was aber die neue Einsicht und die neue Pflicht ist, das ist, daß diese Regeln ebenso für das politische und internationale Leben zu gelten haben, wie für die Lebensführung des einzelnen.

Und welche Dogmen? Das wichtigste Dogma des sozialen Glaubens ist die Evolution. Wenn man glaubt, – nein, wenn man weiß (die kontrollierbaren Offenbarungen der Wissenschaft erzeugen »wissen«, nicht »glauben«), daß die Welt und alles, was in ihr sich entwickelt – trotz Entartung und Vernichtung der Einzelorganismen – zu immer höheren, feineren und vielfältigeren Formen sich entfaltet, so wird man diese ewigen Hemmungen und Bekämpfungen aufgeben, mit denen man jetzt jedes sich entfalten wollende Neue, statt zur Quelle der Freude und des Gewinns, zur Quelle des Leidens, der Unterdrückung und der Verfolgung macht. Die Entwicklungsgesetze erkennen und danach die Gesellschaftsordnung und das sittliche Verhalten regeln: – das ist der Weg zum Heil.


Rudolf hatte während seiner Abwesenheit fast täglich an seine Mutter geschrieben und ihr von allen seinen Arbeiten und Plänen Mitteilung gemacht. Die Nachricht, daß er auf das Majorat verzichten wollte, versetzte ihr einen gelinden Schlag. Welche Mutter wird leichten Herzens erfahren, daß ihr einziger Sohn sich des Glanzes und des Reichtums begeben will, der sein Besitz ist? Martha hatte der stillen Hoffnung Raum gegeben, daß Rudolf nach Verlauf einiger Zeit den Verlust verwinden werde, den er durch den Tod der Seinen erlitten hatte, und sich wieder verheiraten würde – und vielleicht mit einer Frau, die ihm geistig ebenbürtiger wäre, als es die arme Beatrix gewesen ... Sein Entschluß aber deutete darauf hin, daß er nicht daran dachte, sich jemals wieder einen Herd zu gründen, sondern daß er sich von allen Fesseln – also auch von Familienfesseln – freimachen wollte, um sich ganz seinem Apostolate hinzugeben.

Die Größe dieser Opfertat erfüllte sie nun auch mit stolzer Bewunderung: Ihr Rudolf war es, der so hingebungs- und entsagungsvoll handeln wollte, im Dienste dessen, was ihr Friedrich erstrebt und was sein Beispiel und sein Andenken in des Knaben Seele gepflanzt hatte ...

Noch vor Rudolfs Rückkunft verließ sie Brunnhof, um ihren ständigen Wohnsitz auf ihrer ererbten Besitzung, Grumitz in Mähren, zu nehmen. Dorthin überführte sie alle die teuern Andenken an ihren Toten – Bilder, Bücher, Möbel – mit denen sie sich stets umgab.

In einer Richtung war es ihr sogar lieb, von Brunnhof wegzugehen. Der Ort erinnerte zu sehr an den zuletzt durchlebten Kummer, an das Sterben der armen jungen Frau und ihres lieben kleinen Enkelsohnes. Sie hatte den Knaben so zärtlich in ihr Herz geschlossen, so schöne Zukunftshoffnungen auf sein Haupt gesetzt. Er, der im zwanzigsten Jahrhundert jung sein und in voller Kraft in neueren besseren Zeiten leben würde – der Erbe von Friedrichs und Rudolfs Ideen – er würde deren Sieg wohl sehen, er würde vollenden, was sein Vater begonnen. Diese Träume waren verweht, zerstoben ... Jeder Platz im Garten, wo der Kleine gespielt hatte, jedes Zimmer im Hause, wo sein helles Stimmchen schallte, das ganze Brunnhof, dessen einstiger Herr er geworden wäre, war ihr der schmerzlichen Erinnerungen voll und sie verließ es nicht ungern.

Graf Max Dotzky, Rudolfs Vetter und nächster Anwärter auf das Fideikommiß, diente beim Handelsministerium. Ganz vermögenslos, war er darauf angewiesen, von seinem Gehalt zu leben, und nur durch peinlichste Sparsamkeit gelang es ihm, sich von Schulden frei zu halten. Seinen Amtspflichten kam er mit größtem Eifer nach, denn es war sein Ehrgeiz, in der Laufbahn rasch vorzurücken, um nach einigen Jahren einen Rang zu erreichen, dessen Bezüge es ihm ermöglichen würden, das Mädchen heimzuführen, das er schon seit Jahren liebte. Ihrerseits war Elsbeth von Reis, Tochter des verwitweten Feldzeugmeisters Baron Reis, fest entschlossen, und wenn es auch zehn Jahre dauern sollte, darauf zu warten, daß Max zum Sektionschef oder doch zum Hofrat avanciere, um dann seine Frau zu werden. Unter den jetzigen Umständen war auf die väterliche Einwilligung nicht zu hoffen, und die jungen Leute sahen selber ein, daß es unmöglich war, sich einen Herd zu gründen. Diesem Vetter galt Rudolfs erster Besuch nach seiner Rückkehr in die Heimat. Er suchte ihn in seinem Bureau im Handelsministerium auf. Die beiden jungen Männer kannten sich nur wenig, sie waren höchstens ein halb dutzendmal flüchtig zusammengekommen, daher war Max sehr erstaunt, als ihm der Amtsdiener den Besuch des Majoratsherrn meldete. Max war allein im Bureau. Er hatte sich eben müde gearbeitet an der Durchsicht eines besonders langweiligen Aktenstoßes. Aus besonderem Pflichteifer hatte er dies Jahr auf seinen Sommerurlaub verzichtet und die Hitze der Stadtluft drückte ihn nieder. Die Arbeit ging nur mühselig vom Fleck. Er war in trüber, physisch und moralisch unbehaglicher Stimmung.

Beim Eintritt seines Vetters ging er diesem einige Schritte entgegen. »Was verschafft mir die Ehre Deines Besuchs?« fragte er, Rudolf die Hand reichend.

Im selben Alter wie Rudolf, sah er jedoch viel älter aus; einige weiße Haare zeigten sich schon im blonden Spitzbart und an den Schläfen. Die Gesichtszüge, trotz der augenblicklichen Mißlaune, spiegelten große Gutmütigkeit – im ganzen eine sympathische Erscheinung. »Eine wichtige Angelegenheit, mein Lieber«, antwortete Rudolf.

»Bitte, bitte – steh' zu Diensten ... willst Du Dich setzen?«

Er selber ließ sich wieder vor seinem Schreibtisch nieder und schob den Aktenstoß beiseite.

»Ich bin ganz Ohr.«

Dadurch, daß Rudolf seinen Sohn verloren hatte, war nun wieder Max der nächste Anwärter auf das Majorat ... doch diese Tatsache hatte keinen besonderen Wert; denn einmal war ja Rudolf nicht älter, zweitens war es nur allzuwahrscheinlich, daß er wieder heiraten und noch Söhne bekommen würde. Immerhin eine mißliche Einrichtung, diese Majorate, denn nicht immer kann ein Anwärter beim Anblick des Besitzers den Gedanken abwehren: Wenn Du plötzlich stürbest, so wäre ich ein reicher Mann ... Nein, an das hatte Max nicht gedacht! aber doch – nicht ohne leises Neidgefühl – an Brunnhof und die sonstigen Reichtümer, die der andere sein eigen nannte, während er – –

Rudolf hatte sich in einen seitlich vom Schreibtisch stehenden Lehnstuhl bequem zurückgelehnt und ein eigentümliches Lächeln zitterte um seinen Mund. »Ich will vom Majorat mit Dir reden«, begann er, als hätte er des Vetters Gedanken erraten.

»So? Und Was denn?« Max dachte, es handle sich um irgend eine Geschäftstransaktion, bei der die Einwilligung des Anwärters erforderlich wäre.

»Du weißt doch, woraus es besteht? Die Herrschaft Brunnhof in Niederösterreich; die Herrschaft Nagykyral in Ungarn; das Palais in der Wallnerstraße, die Sammlungen, der Familienschmuck; – kurz, das Ganze hat einen Wert von ... nun, Du wirst es wohl wissen ...«

»Ja, und daneben besitzest Du bedeutendes Privatvermögen und wirst noch ein reichliches Erbe von Deiner Mutter erhalten ... Du stehst, pekuniär nicht schlecht.«

»Nein. Und Du?«

»Ich? Ich besitze meinen Gehalt und – als Erbschaft von meinem Vater – ein paar tausend Gulden Schulden, die ich mich verpflichtet habe, nach und nach abzuzahlen.«

»Das ist schön von Dir. Wie steht es mit Deiner Heiratsabsicht?«

»Die kann noch zehn Jahre auf Erfüllung warten.«

»Das ist lang ... Fräulein v. Rels, die jetzt schon achtundzwanzig Jahre alt sein mag, wird dann etwas verblüht sein ...«

»Mein lieber Rudolf, Du hast mich noch niemals aufgesucht ... und wenn Du es nur tust, um mir so unangenehme Dinge zusagen ... um zu protzen, wie reich Du bist, und mich zu verhöhnen, wie arm ich bin, so ist das doch –«

»Verzeih: Protzerei und Hohn sind nicht meine Motive ... aber den Kontrast rücke ich absichtlich ins Licht – es macht mir Freude ...«

»Danke schönstens« murmelte Max.

»Und wird Dir noch eine größere machen. Hör' mich an – ich werde Dir etwas Merkwürdiges sagen ... Ich will –«

Er hielt inne. Auf den Augenblick, der jetzt kommen sollte, hatte er sich schon lange gefreut.

»Also? Was willst Du?«

»Ich will auf das Majorat verzichten und Du trittst an meine Stelle.«

Max Dotzky sprang auf und griff mit beiden Händen, an seinen Kopf.

»Bin ich verrückt – oder bist Du's?«

»Bitt' Dich, setz' Dich nur wieder nieder. Ich bin bei Vernunft und spreche im Ernst. Und ich genieße die Situation ... Ich weiß, daß ich Dich unbändig glücklich mache. Das ist zwar auch nicht das Motiv meiner Tat ... das liegt tiefer: ich tu's nicht Dir, sondern mir selber – meinem Lebenszweck zuliebe; aber an Deinem Glück werde ich mich doch ergötzen. Es ist ein gar seltenes und ja großartiges Schauspiel, ein Mensch in wahnsinniger Freude – Deine erste Idee war ja, daß Du verrückt geworden – und doppelt angenehm ist dieses Schauspiel, wenn man dessen Urheber ist ... Zu Deiner Hochzeit lade ich mich als Trauzeuge ein – natürlich heiratest Du noch in diesem Jahr und ziehst, gleich in Brunnhof ein ... Du bist ja ganz starr und sprichst nichts?«

Max, der sich wieder auf seinen Sessel geworfen hatte, saß bewegungslos da.

»Und was mich auch befriedigt«, fuhr Rudolf fort, »ist das Bewußtsein, daß Du ein braver, ehrenwerter Mensch bist und daß Du dem Hause Dotzky als dessen Oberhaupt Ehre machen wirst. Wenn Du und Elsbeth Rels in Brunnhof regieret, so werde ich wissen, daß mein einstiger Besitz in gute Hände gelangt ist.«

Max war es zumute, als hätte er einen Schlag vor die Stirn bekommen. Die Gedanken wirbelten ihm im Kopf herum, und so sehr er sich mühte, fassen konnte er das Gehörte – Unerhörte – nicht. Es mußte ja, wenn es wahr war, und wenn er es erst ganz gefaßt hatte, ihn ganz unsäglich glücklich machen, das wußte er, – aber das Glücksgefühl selber konnte nicht das Gefühl des unbändigen, mit Zweifeln gemischten Staunens verdrängen, das ihn erfüllte. Endlich fand er Worte:

»Rudi ... Wundermensch ... reiß' mich aus diesem Traum – schwöre, daß es Wirklichkeit ist – oder gestehe, daß es ein Spaß war, ein verzweifelt schlechter Spaß ...«

»Du hast recht, der Witz wäre matt. Es ist keiner – es ist die volle Wahrheit – hier mein Handschlag darauf. Noch einige Formalitäten und der Herr des Dotzkyschen Fideikommiß' bist Du.«

»Mein Gott, mein Gott, mein Gott!« rief der andere. Dann vergrub er sein Gesicht in beide Hände und atmete heftig. Rudolf betrachtete ihn schweigend und weidete sich an der Tiefe seiner Ergriffenheit. Das war also ein von Freude überwältigter Mensch! ... Dem Spender dieser Freude war's ein genußreicher Augenblick; es gewährte ihm – wie ja alles Große, Volle, Übergewöhnliche zu erwecken pflegt – ein ästhetisches Entzücken.


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