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Martha hatte ihren Sohn bitten lassen, auf ihr Zimmer zu kommen, sie habe mit ihm zu sprechen.
Rudolf folgte dem abgesandten Diener auf dem Fuße:
»Was steht zu Befehl, Mutter?«
Baronin Tilling saß in einem an ihr Schreibzimmer anstoßenden runden Erker. Der kleine Raum enthielt nur ein Miniatursofa an der linken Wand und einen niedern Schrank an der rechten. In der Mitte, dem Eingang gegenüber, Marthas Fauteuil, davor ein drehbarer Lesetisch, und rechts daneben ein zweites Tischchen. Auf diesem die Tageszeitungen, ein Arbeitskorb, Fächer, Flacon, Blumenvase und ein Photographierahmen mit Tillings verblaßtem Bild. An den Wänden hingen noch mehrere Bilder des verlorenen Gatten in verschiedenen Aufnahmen und Größen. Darunter auch ein gemaltes lebensgroßes Kniestück, von der Hand eines berühmten französischen Künstlers. Dieses Porträt war aber unvollendet. Begonnen im Sommer 1870, einige Wochen vor Ausbruch des Krieges, konnte es nicht ausgeführt werden, weil sich der Maler zu den Fahnen stellen mußte. Dennoch, so wie es war, zeigte es schon die sprechendste Ähnlichkeit.
Der niedere Schrank, kunstvoll aus Ebenholz geschnitzt und mit Elfenbein eingelegt, war mit Andenken an Tilling bedeckt und angefüllt. Da standen zwei Kassetten aus oxydiertem Silber mit den gravierten Jahreszahlen 1864 und 1866. Es waren die Briefe, welche Tilling von den dänischen und den böhmischen Schlachtfeldern an seine Frau geschrieben, und in einem kleinen goldenen Kästchen lag der erste Brief, den sie überhaupt von ihm bekommen – geschrieben am Sterbelager seiner Mutter. In dem Schranke waren auch die blauen Hefte aufbewahrt, das sogenannte »Protokoll«, worin die Gatten im Verein die Chronik der Friedensidee eingetragen hatten.
In diesem Winkelchen hielt sich Martha täglich mehrere Stunden auf; hier las sie ihre Bücher und Zeitungen, oder zog die Fäden einer Stickerei, dabei an den Verlorenen denkend.
Mit den Worten: »Was steht zu Befehl?« küßte Rudolf seiner Mutter die Hand. Dann setzte er sich auf das kleine Sofa.
Wohlgefällig blickte Martha auf ihren Sohn – ein Bild männlicher Jugendfrische und Vornehmheit. Er trug einen lichten, sommerlichen Morgenanzug, der seine sonngebräunte Hautfarbe noch dunkler erscheinen ließ. Tiefschwarz das kurzgeschorene, in drei Zacken in die Stirn gepflanzte Haar; schwarz der schmale Schnurrbart, der den schöngezeichneten Mund frei läßt, schwarz auch und leicht gekräuselt der spanisch zugestutzte Kinnbart. Nur die dicht bewimperten Augen unter den dunklen Brauen sind blau. Edelgeformt das Profil; die Gestalt geschmeidig und schlank und beinahe sechs Fuß hoch, aristokratische Hände und Füße. – Mit Recht galt Rudolf Dotzky als einer der hübschesten Männer des an schönen Männererscheinungen nicht armen österreichischen Hochadels. So ungefähr hatte auch der junge Husar ausgesehen, der das Herz der siebzehnjährigen Martha Althaus im Fluge erobert hatte. Die Züge waren jedenfalls ähnlich, jedoch viel durchgeistigter. Und in Sprache und Tonfall hatte Rudolf vieles von seinem Stiefvater angenommen, so waren ihm manche seiner Bewegungen, seine Art zu lachen und ein paar norddeutsch anklingende Redewendungen hängen geblieben.
»Ich wollte mit Dir über zwei wichtige Dinge sprechen, Rudolf.«
»Auch ich will Dir eine Mitteilung machen. Doch nachher ... Zuerst Du...«
»Also, erstens: Delnitzky hat um Sylvias Hand angehalten.«
»Habe mir's gedacht.«
»Sie liebt ihn und ist entschlossen, ihn zu nehmen. Zwar habe ich mir meinen künftigen Schwiegersohn anders geträumt – was ist Deine Ansicht?«
»Mein Gott, ich kenne den Toni nur wenig ... Ich könnte nichts Übles von ihm sagen, habe auch nie Übles über ihn gehört ... Und wenn sie ihn gern hat –«
»Ich halte ihn für oberflächlich, für unfähig, auf die Ideen und Gesinnungen einzugehen, die meine Kinder hegen.«
»Vielleicht wird Sylvia ihn beeinflussen –«
»Das dacht' ich im ersten Augenblick auch ... Daß sie für einander schwärmten, bemerkte ich schon lang – besonders seit jenem »Jungen-Herren-Ball« ... Und Delnitzky ist ja ein lieber, guter Mensch, ein Gentleman ... ... Aber seit die Entscheidung gefallen, steigen mir die Zweifel auf... Meines unvergleichlichen Friedrich Kind ... das gönne ich keinem, der nicht so ist wie er gewesen... Aber gibt es einen solchen? ... Und verlieren werden wir sie...«
»Ich glaube nicht, daß unsere Sylvia sich uns entfremden wird. Wir drei sind mit zu vielen Herzens- und Geistesfasern miteinander verwachsen, als daß uns etwas auseinander reißen könnte. Auch die Ehe nicht ... Sieh mich, zum Beispiel...«
»Ja Du, mein Rudolf! ... Reden wir jetzt von Dir. Das ist der zweite Gegenstand, den ich auf dem Herzen hatte. Du hast gestern, beim Tauffest, Worte gesprochen, die tiefen Eindruck auf mich gemacht haben – die klangen wie eine geliebte, längstverstummte Stimme –«
»Und darum brachst Du in Tränen aus? ... Was sagte ich? Ich erinnere mich nicht –«
»Desto genauer erinnere ich mich – jedes Wort hat sich mir eingeprägt ... »So lange wir uns an die Vergangenheit klammern, werden wir Wilde bleiben« – sagtest Du – »Aber schon stehen wir an der Pforte einer neuen Zeit – die Blicke sind nach vorwärts gerichtet, alles drängt mächtig zu anderer, zu höherer Gestaltung – schon dämmert die Erkenntnis, daß die Gerechtigkeit als Grundlage alles sozialen Lebens dienen soll und aus dieser Erkenntnis wird die Menschlichkeit erblühen – die Edelmenschlichkeit ...« Aber, Rudolf, die Zukunft wird nur eine andere, wenn die Gegenwart zu vorbereitender Handlung ausgenützt wird. Willst Du nicht handeln?«
»Ja, ich will. Das war es eben, was ich Dir mitzuteilen hatte. Was ich vor mir sehe, ist dies: ein Sitz im Abgeordnetenhause. Die Schaffung – vielleicht die Führerschaft einer neuen Partei. Daneben publizistische Tätigkeit ... In Bressers Blatt wird mir allwöchentlich eine Spalte offen stehen –«
»Und da wirst Du die Friedens- und Abrüstungsidee vertreten? Wie mich das beglückt! Du weißt ja, daß sich eine interparlamentarische Union gebildet hat – da könntest Du im österreichischen Parlament auch eine Gruppe zu bilden trachten –«
»Ich habe ein umfassenderes Programm im Sinn. Damit eine große Wandlung angebahnt werden könne, müssen zehn andere große Wandlungen gleichzeitig angestrebt werden.«
Martha schüttelte den Kopf.
»Gewiß,« sagte sie, »jede Wandlung ist von anderen bedingt, und zieht andere mit sich – ob aber ein Mensch zugleich nach allen verzweigten Richtungen streben soll? Wo bleibt da die Arbeitsteilung?«
»Es gibt Dinge, die sich nicht teilen lassen, die ein großes Ganzes sind – z. B. eine Weltanschauung. Je mehr ich mich umsehe im ganzen öffentlichen Leben, je deutlicher erkenne ich, daß das, was not tut, eben dies ist: eine neue Weltanschauung – eine neue Orientierung. Nicht Schrauben und Masten sind an dem Schiffe zu ändern, auf daß es besser segele – der Kurs muß ein anderer werden. Denn in seiner jetzigen Richtung gleitet es nach einem Maelstrom, der es in die Tiefe ziehen wird –«
»Und Du allein, mein Sohn, willst der Lotse sein, der solche Kurswendung erreicht? Dein Ehrgeiz ist hoch.«
»Ehrgeiz?« – Rudolf machte eine wegwerfende Handbewegung – »Nein, den hab' ich nicht. Ich weiß ganz gut, daß das, was man unter Ehren und Würden versteht, nicht auf Pfaden zu holen ist, die man erst aushauen muß –«
»Und aus welchem Anlaß hast Du Dich gerade jetzt zum Handeln entschlossen?«
»Mein dreißigstes Jahr ist vollendet – die Lehrlingszeit ist vorüber – und dann, vielleicht auch die gestrige Feier ... Als ich es aussprach, daß wir uns der Söhne und Enkel würdig zeigen müssen, da mahnte mich das Gewissen, daß ich selber noch nichts dazu getan. Wie soll ich hoffen, daß mein Sohn einst meine Arbeit fortsetzt, wenn ich die Aufgabe nicht erfüllt hätte, die ich von meinem Vater übernommen –«
»Von Deinem Vater? –«
»Ach, verzeih – meinen wirklichen Vater habe ich ja nicht gekannt und in meinem Heizen habe ich stets diesen« – er zeigte auf das Bild an der Wand – »so genannt.«
»Das hat er auch verdient...«
»Und billigst Du meinen Entschluß?«
»Ich sagte schon: er beglückt mich. Nur das eine fürchte ich: – daß Du ein zu weites Feld bebauen willst, und dadurch vielleicht gerade die Pflanze vernachlässigen wirst, deren Pflege »er« mit einem Blick auf das Bild – »uns hinterlassen hat. Ich meine jene ganz bestimmte, umgrenzte Bewegung –«
»Ich weiß, was Du meinst: Schiedsgericht – Weltfrieden– – und das nennst Du umgrenzt? Es bedeutet nichts geringeres als die Umwälzung aller landläufigen Erziehung, Politik, Moral, Gesellschaftsordnung – kurz, eine ganze Revolution. Und bemerkst Du nicht, daß wir in einer Zeit leben, in welcher auch wirklich auf allen Gebieten revolutioniert wird? Seit zehn Jahren etwa ist in Deutschland eine »Revolution der Literatur« ausgebrochen; die bildende Kunst nennt ihren Aufstand »Sezession«; die Frauen heißen den ihrigen Emanzipation und die Proletarier – Sozialdemokratie, und so nach allen Seiten – –«
»Nicht jeder, der eine neue Zeit ersehnt, braucht aber auf allen Seiten mitzuarbeiten. Jeder hilft dem andern am besten, wenn er die eigene Aufgabe gut erfüllt.«
»Du, Mutter, interessierst Dich eben nur für die eine Frage – und nicht für den Umschwung in Literatur und Kunst – nicht für die Frauen- noch Arbeiterbewegung?«
»Interessieren? Doch? Wer am Wandel der Zeit Anteil nimmt, der horcht und blickt überall mit Spannung hin ... aber kämpfen und wirken, das möchte ich nur in einer Richtung – und wie Du weißt, so weit meine Kräfte reichen, habe ich's ja durch die Niederschrift meiner Lebensgeschichte auch versucht ... In anderer Richtung fehlt mir das Verständnis – die Auffassungskraft. So gestehe ich Dir, daß mich die neue Kunst vielfach abschreckt ... daß ich noch an allem hänge, was ich in meiner Jugend als bewunderte und als gut kennen gelernt ... Ich habe nicht versucht, aus Sylvia eine »neue Frau« zu machen; ich bin zu alt, um zu –«
»Vielleicht ist das der Unterschied zwischen uns,« unterbrach Rudolf. »Ich bin jung ... Ich bin aufgewachsen in der gärenden Atmosphäre, in dem Sturm der »Moderne« ... Freilich wehte mich dieser Sturm zumeist nur aus Büchern und Zeitungen an, – denn die Menschen, mit denen wir verkehren, die leben noch so sehr in den alten Anschauungen und Gewohnheiten, die wissen gar nicht, daß die Welt sich bewegt. Höchstens fühlen sie, daß ein miserabler Plebs an der schönen alten Ordnung zerren will – und das wehren sie verächtlich ab. Bis auf den alten Grafen Kolnos kenne ich aus unseren Kreisen gar keinen Menschen mit modernen Ideen. Es gibt deren gewiß ein paar Dutzend, aber ich kenne sie eben nicht.«
»Von Kolnos habe ich heute einen lieben Brief bekommen,« sagte Martha. »Der ist wirklich ein merkwürdiger und herrlicher Typus. Aber nicht, was ich unter modern verstehe: nichts von Dekadententum, nichts von raffiniertem Übermenschentum, nichts von tempelschänderischen Gelüsten.«
»Du mußt nicht gerade die krankhaften Erscheinungen des modernen Geistes ins Auge fassen, Mutter –«
»Freilich, Du hast recht; die meisten Mißverständnisse kommen auch daher: jedes Ding hat so verschiedene Aspekte – und zwei Menschen, die im Grunde eigentlich gleicher Meinung wären, streiten über eine Sache, für die sie nur einen Namen haben, die sie aber von zwei ganz verschiedenen Seiten betrachten ... Wovon sprachen wir eigentlich?« »Von Kolnos –«
»Ja, richtig ... Wo habe ich seinen Brief? – Ah, da... er hat mir sein neuestes Gedicht geschickt... da lies: er kennt meine schwache Seite, wie Du siehst, sein Lied ist gegen die Kanonen gerichtet.«
Rudolf nahm das Blatt und überflog es. Das dreizehn Strophen umfassende Gedicht, betitelt: »Nach X-tausend Jahren«, schildert eine Szene der fernen Zukunft, da man in dem vergletschert gewesenen Europa alte Funde ausgräbt und darüber Forschungen anstellt, um den Lauf der Kulturentwicklung zu erkunden:
Gelehrte schreiben dicke Bücher
Und streiten sich wie heute auch,
Um Wert und Schönheit der Antike
Und ihrer Werke Nutzgebrauch.
Nun findet man ein rätselhaftes Instrument, über dessen Bestimmung man sich die weisen Köpfe zerbricht. Es ist ein dickes Metallrohr. Sollte es eine Riesenorgelpfeife, ein prähistorisches Flötenstück oder ein Trinkhorn für Giganten gewesen sein? Oder ein mystisches Symbol – sogar in finsteren Zeiten der Gläubigen Götze? Endlich ward ein Stein entziffert, worin die Erklärung eingegraben war. Darauf wäre man freilich von selber nie gekommen: man brauchte das Rohr zum Massenmorde, euphemistisch Krieg genannt:
Und weil der Totschlag gut kanonisch,
(Das Mittel heiligte den Zweck)
So nannte man das Ding Kanone
Und blies damit den Gegner weg.
Robert gab das Blatt zurück.
»Nun, ich sag's ja: ein moderner Mensch, dieser hohe Sechziger. Denn sein Blick ist nach der Zukunft gerichtet. Er weiß, daß wir in Wandlung begriffen sind. Er schaut erkennend und sehnend nach vorwärts, während meine verehrten Genossen, wenn sie schon Ideale haben, sie immer nur in der Vergangenheit sehen. Die meisten sehen überhaupt nicht weiter als ihre Nase.«
»Dabei sind aber diese Menschen ihrer Anlage nach vielleicht gerade so gescheit wie Du, mein Lieber. Es kommt nur darauf an, auf welche Gedankenpfade, auf welche Kenntnisfelder man zufällig geraten ist. Erziehung ist alles. Und nicht nur Kindererziehung – auch die der Erwachsenen. Tilling hat erst mit vierzig Jahren über gewisse Dinge nachzudenken begonnen – über die ihm dann so weite Horizonte aufgegangen sind.«
»Du denkst doch immer und immer wieder an ihn,« sagte Rudolf in leisem, ehrerbietigem Ton.
Martha hob den Blick zum Himmel:
»Immer. Ich bin stolz darauf, an mir erfahren zu haben, daß es eine Liebe gibt, die stärker ist als der Tod.«