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Von Rudolfs Standesgenossen war Graf Kolnos der einzige, bei dem er Verständnis und aufmunternde Sympathie fand. Der alte Herr hatte eine Dichternatur und Dichter sind immer einigermaßen Seher. Ihr Blick holt aus der entrücktesten Vergangenheit romantische Züge hervor oder reicht furchtlos bis in jene Zukunftsfernen, die ihr Schönheitsideal erfüllen werden; zur opportunistischen Anpassung an den Gegenwarts-Alltag haben Dichter kein Geschick. An dem Tage, nachdem jener Artikel erschienen war, suchte Rudolf seinen Freund Kolnos auf.
Die Räume, die der kunstsinnige Edelmann in einem Hause am Kolowratring bewohnte, waren selber ein Poem. Eine Flucht von mehreren Zimmern, hoch und geräumig wie Säle, waren mit gesammelten Kunstschätzen angefüllt. Meistergemälde, Statuetten, antike Möbel, kostbare Stoffe, Teppiche und Felle, Prunkgefäße und Waffen, hunderterlei Dinge aus Porzellan und Edelmetall, aus Elfenbein und Bronze; Preziosen und Juwelen in Email und funkelnden Steinen; mittelalterliche Manuskripte mit gemalten Initialen – daneben die noch unaufgeschnittenen Bücherneuheiten von heute. Das alles aber nicht etwa museummäßig in Vitrinen oder in Reih und Glied aufgestellt, sondern in zwangloser Verteilung; zum Zier und Nutzgebrauch in wohnlichem Heime.
Graf Kolnos kam seinem Besucher mit ausgestreckter Hand entgegen.
»Grüß Gott, Rudolf... Schön, daß Du wieder einmal zu mir kommst!«
Trotz des großen Altersunterschiedes sagten sich die beiden Männer »Du«.
In seiner äußeren Erscheinung gehörte Kolnos demselben Typus an wie Dotzky. Die gleiche hohe schmiegsame Gestalt, das gleiche edelgeschnittene Profil und sogar der gleiche, spanisch gestutzte Bart, mit dem Unterschiede, daß der eine schwarz, der andere schneeweiß war. »Gut, daß ich Dich allein finde«, sagte Rudolf, »ich will Dir wieder einmal mein Herz ausschütten und Dich um Rat fragen.
»Ganz zu Diensten, mein Junge. Komm, setzen mir uns ... Hier in meinem kleinen Arbeitserker – da ist's am gemütlichsten ... Also meinen Rat willst Du, um ihn wieder nicht zu befolgen?... O, protestiere nicht, Du wirst Dich doch erinnern, daß ich Dir das Kandidieren um das Reichsratsmandat abgeredet hatte – und wer ging dennoch hin, um das zweifelhafte Privilegium zu werben, im Chor ja oder nein sagen zu dürfen, so wie man eben vom Parteischlüssel aufgezogen worden ... Dein guter Genius hat Dich davor gerettet –«
»Verzeih – ich hätte mich nicht als Spieldose aufziehen lassen – mein eigenes Lied hätte ich vorgebracht. Daraus ist vorläufig nichts geworden. Und so habe ich ein anderes Mittel versucht, gehört zu werden –«
»Ja, durch die Zeitung – ich habe Deinen Artikel vom vorigen Sonntag gelesen. Was Du sagst, ist ja alles wahr, aber –«
»Wenn etwas wahr ist, dann soll's gesagt werden – dann gilt kein ›aber‹ –«
»Das gebe ich zu. Mein ›aber‹ war nicht gegen Dich gerichtet, sondern gegen die Mitwelt: die will keine Wahrheit hören, die sie aus ihrer Bequemlichkeit reißt.«
»Die immer schwerer werdenden Rüstungslasten, die ewige Unsicherheit, der allgemeine Dienstzwang, der als Damoklesschwert drohende Weltkrieg das nennst Du bequem?«
»Bequem ist alles Altgewohnte – denn man ist danach eingerichtet, man hat seine Interessen daran geknüpft ... In unserer auf die Kriegsidee aufgebauten Ordnung ist der Friedensprediger der schlimmste Störenfried. Aber – schon wieder sag' ich aber – Du hast rechtgetan, Dein Artikel freute mich. Und je mehr die anderen darüber räsonnierten, desto mehr freute er mich. Wenn Du meinen Rat hören willst: verharre, verharre auf diesem Pfad. Das Verharren ist wohl immer das schwierigste ... doch ich mute Dir diese Kraft zu.«
»Danke. Die Standhaftigkeit wird mir allerdings nicht leicht gemacht. Darüber wollte ich Dir klagen.«
»Wer oder was entmutigt Dich ... die Zweifler?«
»Die fremden Zweifel nicht – ein eigener.«
»Wie – Du glaubst nicht fest an das, was Du sagst?«
»Doch. Meine Überzeugung ist eben so tief wie klar. Ich zweifle nur an der Möglichkeit, die Massen aus ihrer Apathie zu wecken. Diese Massen sehe ich vor mir liegen, wie ein Felsgebirge. In der Hand halte ich eine Lanzette – und damit sollten nun die Felsen von der Stelle gerückt werden? Und selbst, wenn ich statt einer Lanzette die Lunte zu einer Mine in Händen hätte – an welcher Stelle des Felsens sollte man ihn sprengen? Ohne Bild: wo soll man anfangen, um Vorurteile wegzuwälzen – sie sind ja alle so eng miteinander verwachsen. Und wo soll man anfangen, um das Unglück der Welt zu verscheuchen? Dieses Unglück heißt ja nicht nur Krieg – es heißt das Elend, es heißt Geistesnacht, Herzensroheit, Lasterhaftigkeit – diese drei verteilt in allen Klassen – daher auch vom Klassenkampf keine Erlösung zu hoffen ist. Ich meine, daß –«
Rudolf wurde unterbrochen. Der Diener meldete neuen Besuch.
»Herr Hofrat Doktor Bland.«
»Ich lasse bitten.«
Kolnos stand auf, um den Eintretenden – ein behäbiger, sehr ernst blickender Fünfziger – mit freundlichem Händedruck zu empfangen. Dann stellte er vor: »Reichsratsabgeordneter Doktor Bland – Graf Dotzky. Die Herren sind ja Kollegen ... das heißt, nicht Kollegen, sondern etwas mehr noch: Gesinnungsgenossen.« Kolnos erläuterte diese Bezeichnung, indem er darauf hinwies, daß Doktor Bland – eine der »Säulen« der liberalen Partei – sich der im österreichischen Parlament neugebildeten »Gruppe für Frieden und Schiedsgericht« angeschlossen habe und als einer ihrer Delegierten zur bevorstehenden Konferenz nach Rom reisen werde, »und in Graf Dotzky«, fügte er hinzu, »sehen Sie den Verfasser des antimilitaristischen Artikels, der –«
»Ah«, unterbrach der Hofrat, »sind Sie derselbe Graf Dotzky, der bei den Wahlen –«
»Durchgefallen ist? Ja, der bin ich, Herr Doktor; habe daher leider keinen Anspruch auf den Titel Kollege; desto mehr interessiert mich die Gesinnungsgenossenschaft ... Sie beabsichtigen also, bei der Konferenz den Militarismus zu bekämpfen?«
Die drei saßen nun wieder im Erker und Kolnos deutete einladend auf ein nebenstehendes Rauchtischchen. Bland nahm mit dankender Verbeugung eine Zigarette und steckte sie an. Dabei schaute er durch die Gläser seiner goldumrandeten Brille mit intensiver Aufmerksamkeit auf Rudolf und seine ohnehin ernste Miene nahm einen noch strengeren und wichtigeren Ausdruck an.
»Hm ... also jenen Artikel haben Sie geschrieben? ... ich habe ihn nicht mehr recht im Gedächtnis ... doch Ihre Fragestellung von vorhin zeigt mir, daß Sie meine bevorstehende Reise nach Rom etwas irrig auffassen. Gegen den Militarismus, sagten Sie? ... Nein, das nicht –«
»Warum in aller Welt wollen Sie dann an der Konferenz teilnehmen?«
»Mein Gott – wenn ich ganz aufrichtig sein soll, ich hatte schon lange den Wunsch, Rom zu sehen – meine Frau auch ... die Konferenz wird ja auch ganz interessant sein ... Und für den Frieden kann man immer eintreten – freilich unter dem Vorbehalt, daß man an der Wehrhaftigkeit des Vaterlandes festhält ... Natürlich ist ja von ewigem Frieden und derlei Unsinn für einen ernsten Politiker nicht die Rede –«
»Was in aller Welt, möchte nun auch ich fragen«, fiel Kolnos ein, »tun Sie dann auf einer Friedenskonferenz?«
»O, man kann da sehr nützlich sein – – besonders muß man darauf achten, daß, wenn etwa gefährliche Fragen, wie die elsaß-lothringische oder irredentistische, aufgeworfen werden, man den etwaigen Ausfällen der politischen Heißsporne rechtzeitig einen Dämpfer aufsetzt. An dem status quo des Territotal-Besitzes der Staaten darf nichts geändert werden. Wer für die Erhaltung des Friedens ist – und das ist ja schließlich fast jeder vernünftige Mensch im allgemeinen und unsere Partei im besonderen – der muß wachen, daß an dem Besitzstand der Staaten nicht gerüttelt werde, der muß darauf hinwirken, daß sich die Nationen jeder Eroberungspolitik enthalten und nur darauf sich beschränken, so stark zu sein, um die Agression der anderen siegreich abwehren zu können. Wäre der Dreibund –«
»Welche anderen?« unterbrach Kolnos. »Wenn sich die Nationen der Eroberungspolitik enthalten, welcher Angriff ist dann abzuwehren?«
Aber Bland beachtete den Einwand nicht und beschloß den angefangenen Satz:
»Wäre der Dreibund nicht so stark, so würden die Franzosen gleich Krieg anfangen, und gegen kosakische Einfallsgelüste muß man auch sein Pulver trocken halten.«
»Und mit diesen Ansichten« – rief Rudolf – »sind Sie Mitglied der interparlamentarischen Union für Frieden und Abrüstung?«
»Für Frieden und Schiedsgericht – nicht Abrüstung. Das Wort Abrüstung dürfen wir gar nicht in den Mund nehmen. Es ist unpatriotisch, unloyal und unvernünftig.«
»Erlauben Sie«, mischte sich Kolnos eln, »wenn Schiedsgerichtsverträge abgeschlossen werden, wozu braucht man dann die übertriebenen Rüstungen? Sind diese nicht eher unvernünftig und vertragen die sich mit den sogenannten liberalen Ideen?«
Bland war um Antwort nicht verlegen.
»Einmal liegen die Schiedsgerichte noch in weiter Ferne – würden doch auch nur für Fälle in Anwendung kommen, bei welchen die Ehre und die Lebensinteressen der Staaten nicht tangiert werden – und was die übertriebenen Rüstungen betrifft, ja da haben Sie vollkommen recht, meine Herren, die ruinieren die Nationen – gegen die muß man sich verwahren. Da sind mir Liberalen immer auf dem Posten, die bekämpfen wir standhaft. Wir verlangen Rechenschaft für jede Verwendung und streichen ab so viel als tunlich, um die Finanzkräfte zu schonen. Und alljährlich bei der Budgetdebatte erhebt einer von uns die Stimme, um das ungesunde Wachstum des Militarismus zu verdammen. Das Wort Militarismus ist ja eben – im Gegensatz zu Militär – die Bezeichnung eines Auswuchses, eines ungebührlichen Übergewichts ... gerade so wie Klerikalismus im Verhältnis zu Kirche oder Religion. So bekämpft unsere Partei auch den Klerikalismus – nicht aber die Kirche und die Religion. Diese muß dem Volke erhalten werden, ebenso wie das Militär dem Staat erhalten bleiben muß.«
Kolnos unterdrückte die Bemerkung »besonders wenn man einen Sohn in der Wiener-Neustädter und den anderen in der Weißkirchener Militärschule hat.« Diese Ideenverbindung äußerte sich nur in der Frage:
»Wie geht's Ihren beiden Buben, Herr Hofrat?«
»Ich danke – es geht ihnen gut. Die Bengel freuen sich allerdings schon riesig auf ihr Portepee ... die wollten von Antimilitarismus nichts hören! Der älteste wird schon künftigen Sommer ausgemustert – das wird ein Stolz sein, namentlich für seine Mama.«
Rudolf stand auf.
»Lieber Freund«, sagte er zum Hausherrn, »ich muß jetzt leider mich empfehlen.«
Aber Kolnos ließ den jungen Mann nicht fort. Und nachdem man noch eine weitere Viertelstunde über verschiedene Dinge gesprochen, wobei Rudolf äußerst zurückhaltend und wortkarg blieb, war es der Hofrat, der sich zum Gehen erhob und Kolnos versuchte nicht, ihn zurückzuhalten.
Und nachdem er draußen war:
»Ich habe Dir angesehen, mein lieber Rudolf, daß Du Dich geärgert hast. Warum widersprachst Du nicht?«
»Eben deshalb. Nichts schnürt mir so die Kehle zu, wie Ärger. Außerdem hätte ich etwas sagen können, was den Mann von seinen eingefleischten Ansichten abgebracht hätte? Vor einem großen Auditorium, oder im Abgeordnetenhaus würde ich ihm vielleicht entgegnet haben, dem Auditorium zulieb ober zum Fenster hinaus... aber hier – wozu? Er würde es mir dennoch nicht glauben, daß er ein ganz gewöhnliches Muster der fortschrittslähmenden Sorte des Fortschritts-Philisters darstellt – den Typus des freiheitsverleugnenden Liberal-Kompromißlers. Mir graut davor... da lobe ich mir die konsequent Konservativen, die resolut Retrograden – die marschieren doch wenigstens in der Richtung, wo ihr verkündetes Ziel liegt. Aber diese Sorte, die trompetet hinaus, daß sie links stürmen, dabei schielen sie nach rechts und rühren sich nicht vom Fleck, halten noch die wirklich Linkswollenden am Rockschößel zurück ... und wie weise sie sich dabei vorkommen, diese Freiheitshelden die sich so schön unter alle vorhandenen Fesseln und Joche zu ducken wissen... Sie nehmen die Feile wohl zur Hand, sie gebrauchen sie aber nicht: der sägende Lärm könnte allerhöchste Gehörnerven verletzen, und einstweilen – unter den gegebenen Umständen – sind die Fesseln und Joche ganz nützliche Instrumente... vielleicht ein ganz klein wenig lockerer – aber vorläufig müssen sie dem Volk noch erhalten bleiben.«
Kolnüs lachte. »Wie Du Dich ereiferst! ... Ich will ja die Bland und Konsorten nicht in Schutz nehmen, aber gibst Du nicht zu, daß man, auch wenn man aufrichtig vorwärts will, doch etwas langsam gehen soll? Evolution – das lehrt uns die Natur – ist ein gar langsamer Prozeß – –«
»Als ob wir das nicht wüßten! Wir wissen aber auch, daß das winzige Von-der-Stelle-rücken des Ganzen das Resultat der größten Eile und größten Kraftanspannung der einzelnen Teilchen ist. – Übrigens, ich kann mich all den Anpassern nicht anpassen – ich werde mit den Leuten brechen, offen brechen müssen!«