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Aufzeichnungen des Herrn Pfarrer Brey
Nach Hause zurückgekehrt, war Theobald munter und guter Dinge. Doch von allem, was seither geschehen war, hatte er keine blasse Ahnung. Er kannte nicht einmal Herrn Pfarrer Brey mehr und erinnerte sich nicht, das neue Rathaus jemals gesehen zu haben. Für seinen jungen Bruder Joseph hatte er von Straßburg etliche Medaillen mitgebracht, die er ihm anbot. Dieser aber warf sie zu Boden und sprach: »Behalte das für dich, ich will nichts davon.« Da fragte Theobald verwundert seine Mutter: »Mutter, ist Joseph närrisch geworden?« Man hütete sich wohlweislich, die wahre Ursache von Josephs Handlungsweise anzugeben.
Am Mittwoch abend rief der Besessene auf einmal: »Meine zwei Kameraden (die Teufel von Theobald) sind Angstmeier; jetzt bin ich der Meister und der Stärkste; ich gehe vor sechs Jahren von da nicht weg, ich habe keine Angst vor den Pfaffen.« Da fragte ihn Herr Tresch: »Bist du denn so mächtig?« – »Jawohl,« erwiderte er, »hier gefällt es mir, wo ich mich eingerichtet habe; ich ziehe in ein Nest und verlasse es, wenn es mir beliebt.«
Mittlerweile hatte Herr Pfarrer Brey vom Bischof die Vollmacht begehrt, den Exorzismus vorzunehmen, denn der Zustand des bedauernswerten Knaben verschlimmerte sich jeden Tag, während Theobald täglich Schule und Kirche besuchte und seither auch schon zur Beicht gegangen war. Er war wieder der frühere Knabe; nur von den letzten vier Jahren wußte er nichts; es war, als hätte er die ganze Zeit geschlafen.
Da endlich kam die bischöfliche Ermächtigung in Illfurt an, und der Herr Pfarrer beschloß, die Zeremonie der Beschwörung am 27. Oktober vorzunehmen.
Am besagten Tage in aller Frühe brachte man den Knaben nach der Kirchhofkapelle Burnenkirch, die eine kleine Viertelstunde vom Dorfe entfernt liegt. Um einen Volksauflauf zu vermeiden, hatte man die Sache verheimlicht. Nur wenige Zeugen waren geladen worden: Professor Lachemann von St. Pilt, Herr Ignace Spies von Schlettstadt, Herr Martinot, sowie Herr Tresch, der Bürgermeister von Illfurt, und die Eltern von Joseph. Auch der Lehrer war erschienen und der Stationsvorsteher Herr Frindel; ebenso Schwester Hilaria, die Vorsteherin der Mädchenschule.
Als um 6 Uhr die heilige Messe begann, fing der Besessene an, mit den Füssen zu lärmen und sich nach allen Seiten zu drehen, sodaß man ihm Hände und Füsse fesseln musste. Doch beim Staffelgebet strampelte er sich die Füße frei und schleuderte den Riemen mit einem Tritte bis zu den Füßen des Celebranten. Herr Martinot band ihn auf seinen Schoß. Darauf bellte er wie ein junger Hund und grunzte wie ein Schwein und stieß mit heiserer Stimme unartikulierte Laute aus. Nur vom Sanctus an bis zum Ende der heiligen Messe war er still, was alle Anwesenden in Verwunderung setzte.
Als der Priester die heiligen Gewänder abgelegt hatte, kniete er, nur mit Chorhemd und violetter Stola bekleidet, am Fuße des Altars nieder und begann die Gebete, die zum Exorzismus vorgeschrieben sind; zuerst die Allerheiligen-Litanei und etliche Beschwörungsformeln. Darauf trat er zum Besessenen und befahl ihm, zu sagen, wieviele der Teufel da seien: »Du brauchst das nicht zu wissen.« Auf den erneuten Befehl antwortete der Kleine trocken: »Ypès.« Das war der Name des Teufels, der in seinem Bruder gehaust hatte.
Während der Lesung des Johannesevangeliums fing der Besessene an den Herrn Pfarrer mit Schimpfworten zu traktieren und rief: »Ich gehe nicht fort.« Drei Stunden nacheinander bemühte sich der Exorzist um den Knaben. Bald legte er ihm Reliquien auf das Haupt, bald hielt er ihm die geweihte Osterkerze zwischen die Arme; dann besprengte er ihn wieder mit Weihwasser und wandte die kräftigsten Beschwörungsformeln an. Immer wieder schrie der Teufel: »Ich gehe nicht fort! Ich will nicht!«
Die Anwesenden fingen an, sich zu entmutigen. Doch der bereits todmüde Seelsorger ermunterte sie immer wieder, auszuhalten und den Rosenkranz zu beten. Herr Tresch, der den Knaben schon die ganze Zeit hindurch gehalten hatte, übergab ihn Herrn Lachemann, worauf der Besessene rief: »Bist du auch da, du Plattnase?« – Jetzt kam der Herr Pfarrer vom Altar zurück, an dessen Stufen er eine Weile innig gebetet und eine Novene versprochen hatte, und sprach, zum Knaben gewandt: »Ich beschwöre dich im Namen der Unbefleckten Jungfrau Maria, dieses Kind zu verlassen.« – Wütend antwortete der Satan: »Warum muß dieser jetzt auch mit der ›großen‹ Dame kommen! Jetzt muß ich fort.« Auf diese Worte hin erfaßte eine unbeschreibliche Erregung alle Anwesenden, die nun überzeugt waren, daß die Stunde der Befreiung gekommen sei.
Nochmals wiederholte Herr Pfarrer Brey dieselbe Beschwörung. »Ich muß fort,« schrie wieder der Teufel, »ich will in eine Schweineherde fahren!« – »In die Hölle!« rief der Pfarrer. Ein drittes Mal ertönte die Beschwörungsformel und wiederum bat der böse Geist: »Ich will in eine Gänseherde fahren.« – »In die Hölle!« lautete die Antwort. »Ich kenne den Weg nicht dahin, ich will in eine Schafherde fahren.« Und ein letztes Mal erscholl der kategorische Befehl: »In die Hölle!« – Mit dem Rufe: »Jetzt bin ich gezwungen, fortzuziehen,« streckte sich der Knabe, wand sich hin und her, blähte die Backen auf und machte eine letzte krampfhafte Bewegung. Darauf ward er still und unbeweglich, und als man ihn der Fesseln entledigte, sanken die Arme herab, und der Kopf fiel nach rückwärts. Nach einer Weile hob er die Arme und streckte sie wie einer, der vom Schlafe erwacht; darauf öffnete er die während der ganzen Zeremonie geschlossenen Augen und war ganz verwundert, sich in einer Kirche zu sehen, in solcher ihm ganz fremden Umgebung. Zu Beginn der Zeremonie hatte der Teufel erklärt: »Wenn man mich zwingt, fortzuziehen, werde ich zum Zeichen meines Wegganges einige Gegenstände zerreißen.« Er hielt Wort. Nach der Befreiung fand man den Rosenkranz, den man Joseph umgehängt hatte, in Stücke zerrissen; ebenso die Schnur des Kreuzchens an seinem Halse. Da der Knabe gefesselt war, wäre es ihm unmöglich gewesen, diese Gegenstände selbst zu zerreißen.
Alle Anwesenden waren erschüttert. Dankbaren Herzens beteten sie das Te Deum, die Muttergotteslitanei, das Salve Regina und andere Gebete, die vielfach vom Schluchzen unterbrochen wurden. Herr Pfarrer Brey selbst mußte mehrmals innehalten. Tränen des Dankes und der Rührung erstickten seine Stimme. Wie freudig war die Rückkehr ins väterliche Haus! Wie bewunderten alle in nah und fern die Macht der Himmelskönigin, die auch hier wieder einmal den höllischen Drachen überwunden hatte!