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Der Wagen hielt, und Gerhard erwachte.
Er hatte in der dumpfen Schwüle des engen Gefährtes so fest geschlafen, und jetzt war die sonnige Stille um ihn nur wie ein hellerer Traum. Erst ein langer Blick durch das offene Fenster zur Rechten auf den Roggen, dessen hohe Halme sich nicht fortbewegten, und zur Linken auf die verkrüppelte Weide, die ebensowenig von der Stelle rückte, brachte ihn vollends zum Bewußtsein. Eilfertig griff er nach Hut und Stock und Tasche, die vor ihm auf dem Rücksitz lagen, öffnete den Schlag und sprang hinaus, nicht wenig verwundert, als er sich nach einer flüchtigen Umschau mitten zwischen den Feldern fand.
»Ich dachte, wir wären in Kantzow?«
»Sind wir auch«, erwiderte der Postillion.
Der Mann hatte es auf hochdeutsch gesagt, so daß ihn Gerhard nicht mißverstanden haben konnte; und da, neben der Weide, war ja auch ein schmalerer Weg, der von der Landstraße in ziemlich gerader Richtung durch eine mächtige Weizenbreite auf ein paar kleinere Gehöfte zuführte, welche in ziemlich bedeutender Entfernung zerstreut am Rande des Waldes lagen.
»Das ist also Kantzow?« fragte er.
»I bewahre«, sagte der Postillion, »das sind man die Büdners«.
»Was sind Büdners?«
»Büdners sind – Büdners«, sagte der Postillion.
»Freilich! aber ich soll diesen Weg gehen?«
»I bewahre!«
Der Postillion war unterdessen mit der Schweppe seiner Peitsche fertig geworden, die ihm, während er auf dem Bocke nicht minder fest schlief wie sein einziger Passagier im Wagen, unter das Rad gekommen war. Nun wies er mit dem Stiele über die Decke nach rückwärts; und Gerhard, sich um den Wagen herumbewegend, sah weit abseits von der Straße, in grüner Umgebung von Baum und Busch, die Gebäude und Dächer eines großen Hofes.
»Da werde ich wieder zurück müssen«, sagte er.
»Man ein lüttes Ending«, erwiderte der Postillion; »man bis zu der zweiten Weide, da geht der Weg ab; Sie können gar nicht fehlen«.
»Warum haben Sie aber nicht dort gehalten?" rief Gerhard.
»Ja, das sagen Sie wohl!« erwiderte der Postillion.
Gerhard mußte über die unverwüstliche Ruhe des Burschen lachen und gab mit gutem Herzen sein reichliches Trinkgeld, das jener so gelassen in die Tasche steckte, als habe er's vollauf verdient.
Man muß sich eben an die Art dieser Menschen gewöhnen, sprach Gerhard bei sich, dem Wagen nachblickend, der sich bereits wieder in schläfriger Langsamkeit die Straße hinaufbewegte; – Büdners sind Büdners – sehr instruktiv! sagen wir: Außenbauern! – Nun, ich bin ja gekommen, um andere Menschen, eine andere Natur, eine andere Wirtschaftsweise kennenzulernen; ich denke, es soll mich nicht gereuen. Wie eigen dies ist! eigen und in seiner Weise auch schön! Hier in der Heimat der Platt redenden Menschen ist man wirklich auf dem platten Lande!
Durch die Seele des jungen Mannes zog das Bild seiner bergigen, wälderreichen thüringischen Heimat; aber nur in dämmernden Umrissen und weichen Farben, die zu verzittern schienen vor dem machtvollen Licht, welches die tiefstehende Sonne, der er jetzt den Rücken wandte, über die Kornfelder strahlte. Unermeßlich, wie das Meer, breiteten sie sich vor ihm nach Osten, in der Richtung der Straße, die er gekommen war; wie Inseln erschienen die weit verstreuten Höfe, die hier und dort aus der gelben Fläche auftauchten; und die dunkleren Linien bedeutender Forste, die von Norden und Süden bald näher herantraten, bald in die Ferne zurückwichen, wirkten nur wie Streifen in gleichmäßiger Höhe an der See hinstreichender Ufer. In der ungeheuren Runde war, außer ein paar Kälbern und Füllen, die Gerhards scharfes Auge in einer entfernten Koppel entdeckte, kein lebendes Geschöpf zu erblicken , unsichtbar trillerten, hoch oben in dem strahlenden Äther verloren, die Lerchen; unsichtbar zirpten die Grillen an den beiden Wegseiten in dem mannshohen Korn. Von Zeit zu Zeit nickten ein paar Halme hinüber und herüber in einem Lufthauch, den die heiße Wange des Wanderers nicht spürte; dann wieder stand alles unbeweglich, wie im Zauberschlaf, eingesponnen von der roten Abendglut, die mit jedem Moment ihr zitterndes Netz dichter über die Landschaft wob.
Gerhard war stehengeblieben und hatte eine und die andere Ähre gepflückt, die Körner prüfend. Der Weizen war prachtvoll; aber der Roggen ließ zu wünschen, wenigstens entsprach die Frucht weder in Gewicht noch Größe den mächtigen Halmen; Gerhard meinte, daß auf solchem Boden bei sorgfältigerer Kultur eine reichere Ernte erzielt werden müßte. Der Weizen mochte noch ein paar Wochen stehen, aber der Roggen war reif, zum Teil überreif; Gerhard wunderte sich, daß man ihn noch nicht geschnitten, und wie man es anfangen werde, in der nur noch gegebenen kurzen Frist diese ungeheuren Massen zu bewältigen. Auch hatte er unterwegs, obwohl es Sonntag war, an mehreren Stellen lange Reihen von Mähern und Binderinnen bemerkt; er hätte im Interesse seines künftigen Prinzipals gewünscht, auch in diesem Eden eine solche hochnötige Tätigkeit entfaltet zu sehen auf Kosten selbst der Sabbatruhe, die freilich wunderbar zu diesem Landschaftsbilde stimmte.
Über seinen Untersuchungen hatte er ein Gefährt nicht beachtet, das auf der Landstraße ihm entgegengekommen war und jetzt, wenige hundert Schritte von ihm, an der von dem Postillion bezeichneten Weide in den zum Gutshofe fahrenden Weg einlenkte. Soweit er über den Roggen, der sich dazwischenschob, sehen konnte, war es derselbe offene zweisitzige Jagdwagen mit denselben großen Braunen, der vor dem Gasthofe der letzten Station dicht neben der Post gehalten hatte. Es fiel ihm etwas schwer auf die Seele, ob dies vielleicht ein Wagen sei, den Herr Zempin ihm entgegengeschickt; aber er hatte durchaus nicht auf eine derartige Aufmerksamkeit gerechnet, und jedenfalls fühlte er sich außer Schuld, wenn er von ihr keinen Gebrauch gemacht. War er doch, bevor er in den Postwagen stieg, sogar an das Gefährt herangetreten und hatte dem blauberockten Kutscher ein Kompliment über die Schönheit der prächtigen Tiere gemacht. Der Mann hatte ihn mit offenem Munde, ohne ein Wort zu erwidern, angestarrt, wie Gerhard vermutete, weil er sein thüringisches Hochdeutsch nicht verstand; aber je offenkundiger er dem Manne ein Fremder erschien, um so sicherer würde er sich doch seines Auftrages entledigt haben, hätte er einen solchen gehabt.
Der Wagen fuhr immer in derselben Entfernung vor ihm her auf den Hof zu und verschwand jetzt hinter ein paar Gebäuden an einer Stelle, wo auch Gerhard einige Minuten später anlangte, um zwischen zwei, die niedrige, mit Schlingkraut und Disteln überwucherte Umfassungsmauer kaum überragenden Steinpfeilern den Hof zu betreten.
Während der junge Mann auf dem schlecht gehaltenen, mit zertretenem Stroh und vertrocknetem Dünger stellenweis reichlich bestreuten Damm langsam dahinschritt, schweiften seine verständnisvollen, wißbegierigen Blicke überall umher. Zu den Kornbreiten, die er eben erst durchwandert, gehörte solch breiter und weiter Hof. Der Hof von Vacha dort oben in den lieben Heimatbergen hätte hier zehnmal reichlichen Platz gefunden, und die sämtlichen Wirtschaftsgebäude desselben waren zusammen kaum so groß, wie die eine Scheune da zur Linken unter ihrem ungeheueren, gleich einer braunen, moosübersponnenen Bergeshalde anfragenden Strohdach. Nur daß bei ihm zu Hause die Regierung längst keine Strohdächer mehr duldete, die freilich hier bei den großen Entfernungen der einzelnen Gebäude voneinander weniger gefährlich sein mochten. Gerhard wunderte sich auch nicht länger, daß die Einfahrt in den Hof durch kein Tor verschlossen gewesen war: Tor und Umfassungsmauern wären bei diesen Dimensionen unzweckmäßig gewesen und hätten den Charakter der alten Behaglichkeit und des ungetrübten Friedens, den alles atmete, unschön gestört.
Behaglichkeit und Frieden! Wie behaglich standen und lagen und putzten sich die stattlichen Enten, die sich hier in dem Schatten eines hohen Reisighaufens zusammendrängten, an dem Rande eines kleinen grünen Tümpels, der irgendwie mit dem Düngerhofe in Verbindung zu stehen und in einem ausgemauerten, halb verschütteten, überwachsenen Graben irgendwo seinen Ausfluß zu haben schien! Wie behaglich kratzten und scharrten die zahllosen Hühner auf den trockenen Höhen und nassen Tiefen des eingekoppelten großen Düngerhofes vor dem mächtigen Viehhause, durch dessen weit geöffnete Türen eben nur noch die Ansätze der Futtergänge sichtbar wurden, während das Innere im Dunkel verdämmerte! Wie friedlich klang das Zirpen der Schwalben, die einzeln und in Scharen durch die blaue Luft hinüber und herüber schossen! das Girren und Gurten der Tauben, die überall die Strohdächer bevölkerten und sich jetzt in ein paar gewaltigen Schwärmen erhoben, aufgescheucht vielleicht durch einen nur ihren scharfen Augen sichtbaren Punkt hoch oben in dem glanzerfüllten Äther!
Enten, Hühner und Tauben und ein prächtiger Pfau, der nickend vor ihm hertrabte, und ein Storch, welcher sich eben auf den First einer Scheune niederließ und, den langen Schnabel in die Höhe reckend, zu klappern begann, waren denn auch die einzigen lebenden Wesen, die sich blicken ließen. Sonst lag der gewaltige Hof in seiner sonnigen Stille da, als wäre er unbewohnt. Selbst der Jagdwagen war verschwunden, den Gerhard, als er den Hof betrat, noch in einer entfernten Ecke hatte anhalten sehen; kein Mensch ließ sich blicken, den er hätte ansprechen können.
Freilich, den Weg zum Herrenhause zu finden, bedurfte er keines Führers. Es ragte mit seinem steilen, hier und da etwas schadhaften, von Giebelfenstern durchbrochenen Ziegeldache und mit einem Teile seines oberen Stockwerkes stattlich genug über einem Boskett von Bäumen und Büschen, wodurch es in seiner ganzen Länge von dem Wirtschaftshofe geschieden wurde. Rechts und links um das Boskett schwangen sich breitere, kiesbestreute, von frischen Räderspuren durchfurchte Wege, ein wenig aufsteigend zu einer Art von Rampe vor der Front des Hauses, das jetzt sichtbar wurde. In demselben Augenblicke aber erhob sich ein zottiger Neufundländer in der Nähe der Haustür von einer zerrissenen Bastmatte und schlug mit dumpfem, warnendem Bellen an, worauf denn sofort, wie aus der Erde gewachsen, eine ganze Meute von Hühnerhunden, Teckeln, Bracken und Windspielen laut wurde und sich dem Fremdling entgegenstürzte, der ruhig stehenblieb, wartend, bis die erste Aufregung der Tiere sich gelegt haben würde. Das dauerte denn auch nicht lange. Die lärmende Gesellschaft mochte finden, daß dieser hier nicht als Feind sich nahte; und als der Neufundländer, der es gar nicht so bös gemeint hatte, um Entschuldigung bittend seine Schnauze in die Hand des Fremden schob und sich schier behaglich den krausen Pelz streicheln ließ, war das gute Einvernehmen allerseits hergestellt: Gerhard sah zu seiner Genugtuung nur noch beschämt gesenkte Ohren, treuherzig blickende Augen und gastfreundlich wedelnde Schweife, während er, inmitten seiner neuen Freunde, nach der weit offenen Haustür schritt, auf dessen Schwelle der Neufundländer, der vorangetrabt war, sich wieder umwendend den Fremden aufzufordern schien, ohne Bedenken einzutreten.
Aber Gerhard zögerte. Er hatte sich keineswegs eingebildet, daß die Ankunft eines einfachen Volontärs in Herrn Zempins Hause und Familie als ein Ereignis angesehen würde; aber hier auf der Schwelle wäre er doch gern von einer freundlichen Menschenstimme begrüßt worden; und die sonderbare Stille, die sich von dem sonnigen Hofe in das schattige Haus fortpflanzte, fiel ihm schier beängstigend auf das Herz. Von dem nicht eben hohen, aber weiten, an den Wänden hier und da mit vergilbten, braun eingerahmten Jagdbildern dekorierten und mit wenigen eisernen Gartenmöbeln ausgestatteten Flur führte ein halbes Dutzend Türen nach rechts und links und nach hinten in das Innere des Hauses. Eine und die andere war nur angelehnt, ein paar standen offen; Gerhard mußte fürchten, einen indiskreten Blick in eines der Gemächer zu werfen, die allerdings wohl in diesem Moment von ihren Bewohnern verlassen waren. Das Bellen der Hunde war sicherlich laut genug gewesen, die Aufmerksamkeit jemandes zu erregen, der sich in der Nähe befand.
So stand er denn nach ein paar zögernden Schritten ratlos und erschrak fast, als er, sich auf ein unbestimmtes Geräusch, das er hinter sich vernommen, umwendend, anstatt des Neufundländers einen Menschen erblickte.
Es war ein alter Mann, dessen wohlgenährter Leib in einen langen blauen, fadenscheinigen Überrock mit altertümlich hohem Kragen geknöpft war, aus dem der große, platte, mit schlichtem, bereits ergrautem Haar spärlich bedeckte Kopf nur zur Hälfte hervorragte. Das dicke Gesicht mit den verschwommenen Zügen war vor acht oder vierzehn Tagen vielleicht rasiert gewesen, jetzt hatte es einen Überzug wie von Mehl, und aus dem dicken, verschwommenen, mehligen Gesicht blinzelten unter dicken Lidern ein Paar verschwommener grauer Augen.
Gerhard hatte in seiner ersten Überraschung vollauf Zeit, diese Beobachtungen zu machen, denn der alte Mann, den er kaum hatte eintreten hören, blieb unbeweglich, als hätte er bereits minutenlang dagestanden und ebensolange den Fremden, der ihn, der Himmel weiß warum, nicht gesehen, mit dem unbestimmten Lächeln auf dem unbestimmten Gesicht bewillkommnet.
»Ich habe die Ehre?« sagte Gerhard, sich höflich verbeugend.
»Vadder Deep«, sagte der alte Mann.
Die Stimme war dick und mehlig und unbestimmt, gerade wie das unaufhörlich lächelnde Gesicht; Gerhard nahm an, daß der alte Mann seinen Namen genannt, obgleich er in die größte Verlegenheit gekommen wäre, wenn er ihn hätte wiederholen sollen.
»Mein Name ist Gerhard von Vacha«, sagte er, »ich habe wohl das Vergnügen, ein Mitglied der Familie –«
Er machte eine kleine Pause, der Bestätigung oder Ablehnung seiner Vermutung harrend, sah sich aber in dieser Hoffnung getäuscht: das Lächeln auf dem mehligen Gesicht war so unbestimmt wie vorher.
,»Oder doch Genossen dieses Hauses vor mir zu sehen«, fuhr er auf gut Glück fort; »– und so sind Sie wohl von meiner Persönlichkeit hinreichend unterrichtet, und daß mein Kommen auf heute festgesetzt. Wenigstens war es so zwischen mir und meinem Freund Stude verabredet, der im Namen des Herrn Zempin die Korrespondenz mit mir geführt hat.«
Wieder machte Gerhard eine erwartungsvolle Pause – der alte Mann lächelte. Gerhard wurde die Situation ein wenig unheimlich. Hatte er es mit einem Blödsinnigen zu tun? wer war dieser sonderbare alte Herr? oder gehörte er gar nicht zur Herrschaft? war es ein alter, stumpf gewordener Diener, den man das Gnadenbrot im Hause gab? Die Kleidung war freilich so wenig herrschaftlich als dienerlich; aber Gerhard neigte doch mehr zu der letzteren Vermutung, als der Mann ihm jetzt, trotz seines Sträubens, die kleine Reisetasche abnahm, welche er noch immer in der Hand hielt, und, ohne ein Wort zu sprechen, sich nach dem Hintergrunde des Hausflurs bewegte, dort den Flügel einer großen Tür öffnete und ihn mit einem kaum veränderten Lächeln aufforderte, die Treppe, die jetzt sichtbar wurde, hinaufzusteigen.
Gerhard folgte, heimlich seinen Jugendfreund verwünschend, der in seinen Schilderungen der Situation auf Kantzow und der Aufzählung und Beschreibung der Glieder der Familie Zempin augenscheinlich wieder mit gewohnter Flüchtigkeit zu Werke gegangen war, und der vor allem die kleine Aufmerksamkeit hätte haben können, den Freund, wenn nicht bereits auf der letzten Station, so doch wenigstens bei dem Eintritt in das Haus zu bewillkommnen und ihm so die Verlegenheit zu ersparen, in der er sich jetzt befand.
»Ich nehme an, Freund Stude hat mit der Familie einen Ausflug gemacht«, sagte er, als er mit dem schweigsamen Alten über den oberen Flur schritt, welcher, ebenso weit, aber höher, luftiger als der untere und ähnlich wie er mit Jagdbildern ausstaffiert, seine Fenster nach dem Gutshof hatte.
Der Alte wandte das mehlige Gesicht halb um und lächelte.
Der Mensch ist positiv blödsinnig, dachte Gerhard,
Immer voranschreitend mit einem schlurfenden, unsicheren Gang, der genau mit seiner ganzen übrigen Erscheinung harmonierte, führte ihn der alte Mann nun in ein Zimmer, nach dessen Bestimmung Gerhard nicht zu fragen brauchte. Seine vorausgesandten Koffer und sonstigen Sachen standen sorgfältig neben- und aufeinander gestellt an der einen Wand; an der anderen, der Tür gegenüber, das mit einer weißen, von der Decke herabhängenden Gardine verkleidete Bett – reinlich und schicklich, wenn auch nicht eben glänzend, geradeso wie die übrige Ausstattung an Schränken, Stühlen und Tischen – alles in allem ein Zimmer, von dem Gerhard wohnlich angemutet wurde, und das jetzt, als der alte Mann die grauen Rouleau in die Höhe zog und der Abendschein durch die vergilbten, mit wildem Wein fast übersponnenen Scheiben der beiden Fenster rötlich hereinfiel, noch ein ganz besonderes, trauliches, ja poetisches Ansehen bekam. Gerhard mochte sich nicht enthalten, dieser seiner Empfindung Ausdruck zu geben und dem Alten, der eine stumme, aber genaue Inspektion des Bettes, des Nachttisches und der übrigen Einrichtung beendet hatte, in freundlichen Worten für seine Sorgsamkeit zu danken. Er wollte eben noch einen letzten Versuch machen, herauszubringen, wann er sich Hoffnung machen dürfe, Herrn Zempin und seine Familie begrüßen zu können, als der Alte, seiner Frage, wie es schien, zuvorkommend, etwas Unbestimmtes murmelte, wovon Gerhard nur die Worte: nachsehen – Damen – Garten – wenigstens mit einiger Deutlichkeit verstand, und dann mit genau demselben unbestimmten Lächeln in den unbestimmten Zügen zum Zimmer hinausschlurfte.
Das ist ein wunderlicher alter Kauz, dachte Gerhard; – nicht sehr einnehmend und ein wenig stark vermausert, aber doch nach dem Rechten sehend mit seinen blinzelnden Augen, und was seine Schweigsamkeit betrifft, das ist hier wohl des Landes so der Brauch: mich soll nur wundern, ob mein redseliger Freund auch verstummt ist unter diesen Stummen – was ist denn das?
Aus dem Garten, in dessen grüne Räume er beim Eintreten in das Zimmer einen flüchtigen Blick geworfen, klang es herauf wie Mädchenlachen und eilfertige Rufe junger männlicher Kehlen – erst aus der Ferne und jetzt näher und vielfältiger und so deutlich, daß es keine Täuschung gewesen sein konnte; ja, der Lauscher oben glaubte einzelne Worte zu unterscheiden: »hier! – nein! – ja! – wo ist nun wieder Fräulein Maggie? – Maggie! Maggie!«
»Gott sei Dank!« murmelte Gerhard.
Der Zauber war gebrochen und in der erfreulichsten Weise. Es gab in dieser stillen, sonnigen Öde wirklich Menschen, die lachen und schwatzen konnten, unter anderen ein Fräulein, das Maggie hieß, und das man sehr oft rufen mußte, bevor es kam. Gehörte sie zur Familie? gehörte sie zur Gesellschaft? denn eine Gesellschaft war es doch wohl, die da unten ihr lustiges Wesen trieb!
Gerhard konnte sich nicht sogleich von dem Stande der Dinge überzeugen: als die ersten Töne an sein Ohr schlugen, hatte er mit dem Kopf in der Waschschüssel gesteckt. Endlich war er so weit, daß er in die Nähe des Fensters treten und seine Neugier befriedigen durfte, ohne daß er hätte fürchten müssen, selbst gesehen zu werden. Wenn er auch vorhin das Fenster geöffnet, so gewährte das darüberweg hangende Ranken- und Blättergewirr hinreichenden Schutz, machte es aber freilich dem Beobachter unmöglich, mehr als flüchtige Einzelheiten wahrzunehmen: helle Damenkleider, die sich hin und her bewegten auf einem großen Rasenplatze, welcher bis an das Haus reichen mochte und hinten durch Buschwerk begrenzt wurde – zwischendurch eine und die andere eilfertige männliche Gestalt, ebenfalls in lichten Zeugen – ein bunter Reif, der emporgeschleudert wurde – wohl nur versuchsweise, denn die ganze Schar lief gleichzeitig nach dem herabfallenden, und eine männliche Stimme erklärte wiederholt, daß »man ohne Fräulein Maggie nicht anfangen dürfe«.
Dann links, seitwärts von dem Rasenplatze, auf einem kiesüberstreuten Wege, durch eine Lücke in den Blättern, wie in einem festen Rahmen sah Gerhard einen Kinderwagen, den eine Magd schob und an den jetzt eine Dame herantrat, um sich mit dem Kinde, während der Wagen stand, zu schaffen zu machen. Gerhard blickte nach dieser Gruppe mit besonderer Aufmerksamkeit. Er wußte, daß Herr Zempin seit nicht allzulanger Zeit zum zweitenmal verheiratet war; die Sorgfalt, mit der die Dame die Kissen ordnete und sich dann, den unsichtbaren Schatz, der sehr vernehmlich schrie, beruhigend und liebkosend, noch tiefer beugte, ließ unschwer die junge Mutter und die Dame vom Hause erkennen.
Leider wandte sie dem Beobachter den Rücken, und so konnte er nur mit Sicherheit feststellen, daß Frau Zempin groß und schlank war, ihr in dem Abendschein glänzendes dunkles Haar in Flechten zusammengesteckt trug, und ihr Kopf auf einem Halse ruhte, welcher, vielleicht nur infolge der Beleuchtung und des Gegensatzes zu der dunkeln Kleidung und dem dunkelglänzenden Haar, seltsam weiß und zart erschien, als sie jetzt neben dem Wägelchen, das sich wieder in Bewegung gesetzt hatte, langsam dahinschreitend zwischen den Büschen verschwand.
Gerhard hatte bereits vorhin auf alle Fälle einen Anzug, wie er für eine ländliche Gesellschaft passen mochte, aus dem Koffer genommen. Er beeilte sich jetzt, mit seiner Toilette fertig zu werden und knüpfte eben noch vor dem kleinen Spiegel – in Hemdsärmeln – an seiner Krawatte, als ein zugleich rascher und schwerer Schritt über den Vorflur kam. Es blieb ihm noch gerade Zeit, in seinen Rock zu schlüpfen, da wurde auch schon mit einem kurzen Klopfen, das wie Hammerschlag dröhnte, an die Türe gepocht.
So konnte nur der Herr des Hauses pochen.