Friedrich Spielhagen
Platt Land
Friedrich Spielhagen

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Sechstes Kapitel.

Es war derselbe Teil des Hofes zwischen dem Boskett und dem Herrenhause auf der einen und einer großen Scheune und kleineren Wirtschaftsgebäuden auf der anderen Seite, wo Gerhard vor ein paar Stunden mit Herrn Zempin gestanden, als der Falke die weiße Taube fing.

Auf diesem Platz, der jetzt im Abenddunkel viel kleiner als vorhin erschien, war eine Menge Menschen – Gerhard meinte, es müßten fünfzig bis sechzig sein – in wildestem Kampf begriffen; und daß es Männer und Frauen waren, die diesen Kampf kämpften, erhöhte ihm das Abenteuerliche, freilich auch, für den ersten Anblick wenigstens, bis er sich klarmachte, daß es trotz alledem sich doch nur um einen Scherz handeln könne, das Widerwärtige des Anblicks.

In seiner unmittelbaren Nähe schleppte ein baumlanger Bursche eine Dirne mit sich fort, die aus Leibeskräften kreischte. Er hatte ihren Kopf unter seinen Arm gepreßt und rieb ihr das Gesicht mit einem Strohwisch oder dergleichen, bis ein paar andere Dirnen der Bedrängten zu Hilfe kamen und der Knecht die Flucht ergriff, verfolgt von den drei Dirnen, die ihn vergebens einzuholen suchten und das Wasser aus dem Eimer, womit die eine bewaffnet war, hinter ihm herschütteten. Dicht daneben ging es einem Knecht desto schlimmer. Er hatte, ebenfalls mit einem Eimer in der Hand, dagestanden und vermutlich nach einer Gegnerin ausgeschaut, als ihm eine Dirne, die, von ihm unbemerkt, herangeschlichen war, von hinten den ganzen Inhalt einer großen Gießkanne über den Kopf schüttete und kreischend entfloh, während er, hinter ihr herrennend, Gleiches mit Gleichem zu vergelten suchte.

Hinter diesen und ähnlichen Einzelkämpfen, die Gerhard genauer beobachten konnte, wirrte und tobte die eigentliche Schlacht um einen Brunnen, welcher der Mittelpunkt und auch wohl das Ziel des Kampfes war, und bald von den Knechten, bald von den Mägden, doch immer nur auf kurze Zeit, behauptet wurde. Jetzt eben hatten die Knechte die Position im Sturm genommen und schienen sich zu halten. Ein paar bearbeiteten ununterbrochen den kreischenden Schwengel, während andere die leeren Eimer unter den Ausguß hielten und die vollen wieder anderen reichten, die Guß auf Guß den andrängenden Mägden entgegenschleuderten. Diese wehrten sich, so gut es ging, aus Eimern und Gießkannen, die in einem benachbarten Wirtschaftsgebäude gefüllt werden mochten; wenigstens war zwischen diesem und dem Kampfplatz eine Art von Kette gebildet, wie es bei Feuersbrünsten zu geschehen pflegt. Nun aber mußte ein Trupp der Knechte, vermutlich auf Schleichwegen von der Feldseite her, sich dieses Kastells bemächtigt haben. Sie stürzten plötzlich aus der Tür hervor, ihrer sechs oder acht, mit vollen Eimern; die erschrockenen Mägde, die von ihrer Festung abgeschnitten und zugleich auf ihrer Rückzugslinie bedroht waren, erhoben ein durchdringendes Gekreisch und flüchteten nach allen Seiten. Die Schlacht schien für sie verloren, als ihnen eine unerwartete Hilfe wurde.

Ein Wasserstrahl ergoß sich über die dichte Schar der Knechte, die den Brunnen besetzt hatten, und der Strahl war so mächtig, so gut gezielt und so andauernd, daß jene, nachdem sie eine kurze Weile standgehalten, Brunnen und Eimer im Stich ließen und, die Jacken über die Ohren ziehend, schreiend und scheltend davonliefen. Gerhard konnte sich des Lachens nicht erwehren und lachte noch herzlicher, als er, sich um das Boskett wendend, von dem der Strahl kam, die Batterie, die den Knechten so gefährlich geworden, in voller Tätigkeit erblickte.

Es war aber eine ziemlich große Feuerspritze, an deren Hebern sämtliche übrigen jungen Herren sich abmühten, während Herr Spatzing das Mundstück dirigierte. Die ungebetenen Helfershelfer schienen den Scherz kaum weniger ernsthaft zu nehmen, als die Kämpfenden selbst; Herr Spatzing schrie und schalt, und die an den Hebern schrien und zählten im Takt: eins – zwei! eins – zwei! als gelte es, einen brennenden Hof zu retten; und Herr Zempin, der dabeistand, schlug im Takt die mächtigen Hände und schrie ebenfalls: eins – zwei! eins – zwei! mit seiner gewaltigen Stimme, die, wie der Donner eines Vierundzwanzigpfünders das Kleingewehrfeuer, so die Stimmen der anderen übertönte. Und jetzt, da die jungen Herren bei der ungewohnten Arbeit erlahmten, und die Knechte, den geringeren Strahl nicht weiter scheuend, zurück an den Brunnen eilten, stürzte der Riese auf die Spritze los, die Herren wie Kinder auf die Seite schiebend und alle an den einen Schwengel kommandierend, indem er allein den anderen hob und niederdrückte und wieder hob, mit einer solchen Gewalt, daß jene fünf oder sechs mit ihrem Schwengel mehr auf und ab geschleudert wurden, als selbst hantierten.

Unterdessen hatten die Mägde, hoffend, daß man ihnen nichts tun werde, sich in großen Haufen am Brunnen gesammelt, die mitgebrachten und von den Knechten im Stich gelassenen Eimer zu neuem Kampfe füllend. Herr Spatzing, der nur darauf gewartet und zu diesem Zweck für ein paar Minuten dem Strahl eine andere Richtung gegeben, lenkte ihn nun auf die eifrige Schar, die in ein Zetergeschrei ausbrach und nach allen Seiten auseinanderstob, verfolgt von Herrn Spatzing, für dessen Geschoß die durch das Dunkel schimmernden Mieder und Hemdärmel der Fliehenden allzeit sichere Zielpunkte boten.

Das aber wollten die jungen Damen nicht leiden, die selbstverständlich für die Mägde Partei genommen, den Herren an der Spritze durch ihre Zurufe die schwere Arbeit erleichtert und zuletzt, dem unermüdlichen Riesen gegenüber, allein möglich gemacht hatten. Sie erhoben lebhafte Einsprache, sekundiert von den älteren Damen, die das Benehmen der Männer abscheulich nannten, während diese, die Damen zu necken, nur um so eifriger arbeiteten. Die muntere Luise Sallentin rief: wenn sie nicht hören wollten, so sollten sie es zu fühlen bekommen! Tining Pahnk erklärte, daß man sich rächen müsse! Sie hatten sich unzweifelhaft schon vorher mit den Mägden der Küche im Herrenhause verständigt, denn schon im nächsten Moment war ein großer Kessel mit Wasser da, das dann alsbald aus irdenen Töpfen und Krügen auf die ungehorsamen Herren herabregnete und goß. Diese protestierten, lachten, drohten, ließen – wohl nicht ungern – von der Spritze ab und versuchten, den gefährlichen Kessel umzustürzen, was auch nach einigen mißglückten Versuchen dem Studenten Benz mit einer plötzlichen geschickten Fußbewegung gelang. Leider aber ergoß sich der volle Strom unmittelbar nach der Gruppe der älteren Damen. Einige, die nicht mit dem bloßen Schrecken davongekommen waren, eilten, die Säume der Kleider aufhebend, in das Haus; die zurückbleibenden schalten auf die unbändigen Herren. Diese aber hatten keine Zeit, die Strafpredigt zu Ende zu hören, da sie sich entweder vor den jungen Damen, denen noch einige volle Krüge geblieben waren, retten mußten, oder auch ihrerseits die mit leeren Händen Fliehenden um die Büsche herum, durch die Büsche durch verfolgten. Das Schauspiel des Kampfes zwischen den Knechten und Mägden auf dem Hofe fand sein, allerdings gemildertes, Abbild in dem Streit der jungen Herren und Damen vor dem Herrenhause: Lärm, Jauchzen, Schreien, Lachen, Hilferufe von allen Seiten – fliehende, verfolgende Gestalten hier und dort und überall, während der beinahe volle Mond über das Scheunendach heraufstieg und mit seinem trügerischen Lichte die dunkel-wilde Szene noch phantastischer machte.

Gerhard hatte, ein aufmerksamer Beobachter, abseits gestanden an einer Stelle zwischen den Büschen, von der er so ziemlich alles sehen konnte, ohne selbst gesehen oder doch erkannt zu werden, es hätte denn jemand bis zu ihm herantreten müssen. Und wer sollte sich, wenn es nicht zufällig geschah, die Mühe geben? war doch jeder, so oder so, von dem Spiel in Anspruch genommen, das allen ein altgewohntes war, dem sie sich mit voller Lust hingaben, während dieser tolle, mondüberglänzte Wirrwarr im besten Falle für ihn nur den Reiz der Neuheit und des Seltsamen hatte und sein Gemüt unbeteiligt ließ.

Oder war es so unbeteiligt nicht? war es vielleicht nur schon zu sehr beteiligt? Weshalb, wenn es das nicht war, spähte sein Blick so gespannt, so ängstlich in das Dunkel dort, in das Mondlicht hier, bemüht, die vorüberhuschenden Gestalten zu erkennen? weshalb schlug sein Herz, als er in dem weißen Kleide, das von der dunkeln Männergestalt verfolgt wurde – um dann in einem benachbarten Winkel des Gebüsches sich einholen zu lassen und mit der dunkeln Gestalt zu einer unbeweglichen Gruppe fest zusammenzuschmiegen – Maggie und Herrn Bagdorf zu erkennen glaubte? weshalb dies spöttische Lachen, als das Pärchen nun, ohne ihn, der sich in die Büsche drückte, gewahr zu werden, sich eng umschlungen haltend, in leises Zwiegespräch verloren, dicht an ihm vorüberkam, und er – in dem Strahl des Mondes, der die Wandelnden streifte – den schönen Schweden und die muntere Luise Sallentin erkannte? Was war daran lächerlich, daß die beiden einander gern hatten? was daran, daß sich die beiden anderen liebten, ärgerlich? »Und doch: Ich kann's, ich will's nicht glauben!« stieß Gerhard heraus, den Buschzweig, den er in der Hand hielt, zornig knickend.

»Was wollen Sie nicht glauben?« sagte ihre Stimme neben ihm.

Gerhard zuckte zusammen – aber nur in freudigem Schreck.

»Was bekomme ich, wenn ich aufrichtig bin, Fräulein Maggie?«

»Nicht viel!« erwiderte sie; »denn ich bin überzeugt, daß Sie es nicht sein werden; wann wäret ihr Männer jemals aufrichtig gegen uns arme Mädchen! Und nun gar Sie! Sie, der Sie sich vor meiner Freundschaft fürchten wie vor einem kalten Wasserstrahl!«

»Doch nur aus einem Grunde, Fräulein Maggie!«

»Den ich nicht wissen will! aber etwas anderes: was hat Ihnen meine Schwester von mir gesagt?«

»Daß Sie einander nicht ähnlich sind.«

»Weiter nichts?«

»Daß Sie das Ebenbild Ihrer verstorbenen Mutter sein sollen.«

»Weiter nichts? besinnen Sie sich!«

»Ich finde wirklich weiter nichts!«

»Es ist auch gerade genug – in Ediths Munde! Und Tante Julie? die hat doch mehr gesagt! nun? so sprechen Sie! oder soll ich es Ihnen sagen?«

»Es wäre mir in der Tat lieber!« erwiderte Gerhard mit einem Lachen, das ihm nicht aus dem Herzen kam.

»Ich werde mich hüten. Aber Ihnen will ich einen Rat geben: hüten Sie sich, zu glauben, was Edith oder Tante Julie, oder wer es auch sei, über mich spricht. Es ist kein Wort davon wahr, hören Sie, kein Wort! Ich könnte warten, bis Sie selbst dahinterkommen – denken Sie in diesem Augenblicke; und daß es hübscher von mir wäre, wenn ich so lange wartete? Ich will aber nicht darauf warten – Tante Julie zu Gefallen – ich will es nicht, und ich will es nicht!«

Sie hatte das alles mit leiser Stimme gesagt – hastig, aber durchaus nicht leidenschaftlich – selbst nicht die letzten Worte, obgleich sie dabei mit der Spitze des zierlichen Fußes auf den Boden klappte. Dazu hatte das reizende Gesichtchen, in das der Mond hell schien, keinen zornigen Ausdruck, höchstens von Trotz, wie eines eigensinnigen Kindes; und Gerhard hätte durchaus die Empfindung gehabt, daß ein schönes, verwöhntes Kind vor ihm stehe und über irgendein eingebildetes Leid in seiner unbedachten Weise sich beklage, wenn ihre Augen nicht gewesen wären: die großen, dunkeln, im Mondschein feucht schimmernden – das waren keines Kindes Augen!

Mehrere Stimmen riefen durcheinander.

Der Platz vor ihnen war fast leer; nur in der Nähe des Leutehauses, aus dem Lärm und Musik erschallte, ging es noch lebhaft zu; auch um das Boskett herum war es still geworden; die Stimmen der Rufenden schienen schon von der Haustür herzukommen.

»Man ruft zu Tisch,« sagte Maggie schnell. – »Antworten Sie nicht! Ich wollte Sie noch eines fragen: Wo haben Sie den Reifen gelassen? habe ich Ihnen nicht gesagt: Sie sollten ihn tragen, bis ich ihn Ihnen abnehme?«

»Ich bin der Ketten so wenig gewohnt, Fräulein Maggie!«

»Man soll sie Ihnen wohl noch mit Blumen schmücken? Hier ist eine! Die werden Sie doch wohl tragen dürfen!«

Sie hatte die dunkelrote Rose, die er vorher bereits an ihr bemerkt, vom Busen genommen und reichte sie ihm. Er hätte die kleine kühle Hand, die er berührte, so gern an die Lippen gedrückt; aber er wagte es nicht, befestigte die Rose mit zitternden Fingern in seinem Knopfloch und wollte dem holden Kinde seinen Arm bieten.

»Nein, nein!« sagte sie hastig; »so nicht! Sie gehen hier am Hause hin; ich komme um das Boskett von der anderen Seite. Bei Tisch treffen wir uns. Ich will es schon so einrichten; ich bin noch vor Ihnen da, wenn Sie es nicht sehr eilig haben! Sie brauchen deshalb nicht übel von mir zu denken. Sie tun mir einen Gefallen; ich sage Ihnen später einmal, warum.«

Sie legte den Finger auf den kleinen Mund und huschte davon. Gerhard hatte es nicht eilig. Er mußte erst die Rose aus dem Knopfloch nehmen und wieder und wieder an seine Lippen drücken.

»Wenn dies alles nur ein Traum ist«, murmelte er, »ich habe einen köstlicheren nie geträumt!«


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