Friedrich Spielhagen
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Friedrich Spielhagen

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Achtes Kapitel.

Das Mädchen hatte ihn in das Kinderzimmer geführt, in dessen Tür Julie ihm bereits entgegenkam. Sie bat mit wenigen Worten um Entschuldigung, daß nun auch sie ihn noch belästigen müsse. Aber sie habe ein so völliges Vertrauen zu seiner Güte. Ob er sich die Kleine einmal ansehen wolle? vielleicht finde er, daß sie sich unnötig ängstige.

Gerhard folgte ihr zu dem Bettchen des Kindes. Es lag mit geröteten Wänglein in unruhigem Schlafe; aber Köpfchen und Ärmchen hatten nur eine mäßig erhöhte Wärme, und das Fieber, wenn es vorhanden, war sicher sehr unbedeutend. Gerhard meinte, Julie beruhigen zu dürfen; er könne ja keine Verantwortung übernehmen, dazu reichten die geringen medizinischen Kenntnisse nicht aus, die er sich für seinen Landmannsberuf erwerben zu müssen geglaubt; er schlage vor, noch eine Stunde oder so zu warten, ob das Fieber zunehme, und in diesem Falle selbstverständlich nach dem Doktor zu schicken.

»Aber wird das bei dem schrecklichen Wetter und nach allem, was vorgefallen, keine Schwierigkeiten machen?« fragte Julie.

»Das lassen Sie meine Sorge sein, gnädige Frau«, erwiderte Gerhard, mißmutig, daß Julie von der Revolte der Leute nun doch erfahren.

Sie hatte ihm einen Stuhl herbeigerückt und dann selbst auf der anderen Seite des Bettchens Platz genommen. Er blickte, das Kind beobachtend, nicht zu ihr hinüber und sah nur manchmal ihre kleinen weißen Hände um das Kissen geschäftig. Wie hätte er gedacht, je mit dieser Frau eine Empfindung zu teilen! ein und dasselbe tiefernste Interesse zu haben! er hätte es ebensogut für möglich gehalten, Kamerad zu werden der tanzenden Mücke und gut Freund mit dem singenden Vogel in den Zweigen! Ach, der matte Schein der Lampe da auf dem Seitentische war nicht die Glückssonne, in der es den Mücken und Vögeln wohlig ist!

Eine halbe Stunde mochte vergangen sein, ohne daß zwischen ihnen ein Wort gewechselt wurde, während Gerhard auf das Atmen des Kindes lauschte und draußen Sturm und Regen brausten und rauschten. Seine Prognose schien sich zu bestätigen: die Unruhe der kleinen Patientin ließ nach, von den Bäckchen verlor sich die Röte, das Köpfchen fühlte sich kühl an.

»Ich glaube, daß wir uns völlig beruhigen dürfen«, flüsterte Gerhard.

Er hatte sich erhoben; auch Julie stand auf und kam um das Bettchen herum:

»Wie danke ich Ihnen! Wie sehr danke ich Ihnen!«

»Wofür, gnädige Frau? daß ich eine Menschenpflicht gern erfülle?«

»Auch dafür, ich weiß es ja, daß ich selbst – daß Sie für mich – und doch –« Sie brach schnell ab; das Mädchen, das schon ein paarmal ab und zu gegangen, war wieder eingetreten.

»So will ich mich Ihnen denn empfehlen, gnädige Frau«, sagte Gerhard; »sollte die Kleine, gegen unser Erwarten, wieder unruhiger werden, haben Sie die Güte, es mich sofort wissen zu lassen.«

Er verbeugte sich und ging nach der Tür. In einer gewissen Verwirrung, die sich seiner bemächtigt, und unbekannt mit der Situation des Zimmers, das er nie vorher betreten, hatte er sich in der Richtung geirrt. Die Tür führte in Juliens Schlafgemach.

»Ich bitte um Entschuldigung, gnädige Frau!«

Julie, die dem Mädchen ein paar Worte gesagt, war ihm nachgekommen.

»Genieren Sie sich nicht! Sie kommen hier sogar schneller auf den Flur. Erlauben Sie, daß ich Sie führe!«

Das von Juliens Lieblingsparfüm erfüllte Schlafgemach war matt erleuchtet; Gerhard bemerkte im Vorübergehen die geschmackvolle Dekoration des stattlichen Raumes. Unter dem großen, blauseidenen Betthimmel stand nur ein Bett; Herrn Zempins eigenes Schlafzimmer lag neben dem Bureau – er könne das Kindergeschrei nicht vertragen, hatte er gelegentlich zu Gerhard geäußert.

Aus dem Schlafgemach gelangte man in Juliens Zimmer, das wiederum an den Salon stieß, wo Gerhard heute vormittag die Unterredung mit dem Grafen gehabt hatte. Unwillkürlich warf er einen Blick nach dem Fenster, dessen Gardine sich bewegte, als er vorüberging. Er bat Julie, sich nicht weiter zu bemühen, da er nun vollkommen Bescheid wisse.

»Gönnen Sie mir ein paar Augenblicke«, flüsterte Julie.

Das Licht der Lampe, die auf dem Tische vor dem Sofa brannte, schien hell auf sie. Ihr Gesicht war noch bleicher als heute morgen; man sah den müden Augen an, daß sie geweint hatten; um den kleinen Mund zuckte es schmerzlich.

»Was ist es, gnädige Frau?«

Sie schüttelte den Kopf: »Wie Sie das sagen, so ruhig, so kühl! – haben Sie denn wirklich gar kein Mitleid mit mir? ist es denn nicht auch Menschenpflicht, einer armen Frau, die fühlt, daß sie untergeht, eine Hand zu reichen? Ja, ja, die untergeht – ohne Sie! Sie sind der einzige, der mich retten kann! und Sie stoßen mich von sich! Gehen Sie!«

Sie hatte sich in die Sofaecke fallen lassen, das Gesicht in den Händen bergend, sich bemühend, ihr Schluchzen zu ersticken. Schon einmal hatte Gerhard die reizende Frau in derselben Situation, in demselben Zustande gesehen. Damals hatte er alles nur für eine wohlberechnete, vortrefflich gespielte Komödie genommen; aber eine so kluge Frau spielt doch dieselbe Rolle nicht zweimal auf die Gefahr hin, bei der Wiederholung als Betrügerin entlarvt zu werden. So war denn dies hier echt, wie es auch immer mit jener Szene in dem Tannenwäldchen beschaffen gewesen sein mochte.

Julie mußte seine Gedanken erraten haben.

»Sie trauen mir nicht«, sagte sie, das weinende Gesicht ein wenig erhebend; »Sie haben mich zu oft auf einer Lüge ertappt. Sie haben recht: mein ganzes Leben ist eine einzige, große, fortgesetzte Lüge. Glauben Sie mir kein Wort, das ich sage: vielleicht glaube ich morgen selber nicht mehr daran. Gehen Sie!«

»Ich gehe, gnädige Frau«, sagte Gerhard; »Sie sind jetzt in übergroßer Aufregung. Sie werden morgen ruhiger denken und empfinden; vielleicht auch meine Empfindungen Ihnen gegenüber besser würdigen. Auf morgen also, gnädige Frau!«

»Nein, nein, nein!« rief sie, sich rasch erhebend und ihm in den Weg tretend: »heute, heute! wer weiß, was morgen ist, ob ich morgen noch hier bin – oder Sie noch hier sind. Wissen Sie denn das? wissen Sie denn, ob er Ihnen nicht das Haus verbietet, wie Bagdorf? warum nicht! Warum soll ich nicht Ihre Mätresse so gut sein wie Bagdorfs? Es kann mich ja haben, wer will! Wollen Sie mich?«

»Gnädige Frau –«

»Das klingt sehr frech, nicht wahr? sehr gemein? ich sage das nur ebenso, wie ich es gestern abend von ihm gehört. Die Frau soll ja wohl des Mannes Abbild sein oder werden? weshalb erscheint Ihnen das Abbild so schrecklich, der Sie das Original so lieben?«

»Ich darf dies nicht länger anhören, gnädige Frau; nicht um Ihres Gatten willen, dessen Freund ich bin; nicht um Ihretwillen, die Sie morgen bereuen werden, was Sie heute in Ihrer Aufregung gesagt; nicht um meinetwillen, der, so zwischen Gatten und Gattin gestellt, in eine Lage kommt, die zweideutig und peinlich und unerträglich ist.«

»Ich werde nichts bereuen«, rief Julie, als ob Gerhard nur von ihr gesprochen; – »ich bin auch nicht weiter aufgeregt, höchstens vor Freude, mich Ihnen endlich einmal zu zeigen, wie ich bin. Ich habe noch keinem Menschen gegenüber das Verlangen gehabt; ich schwöre es Ihnen; ich habe anfangs Sie belügen zu dürfen geglaubt, wie ich alle Welt belüge; aber ich habe schlecht und ungeschickt gelogen, und habe mich geschämt, und dann ist es über mich gekommen, wie – wie eine Gier, daß ich Ihnen sagen wollte, wie ich wirklich bin, mögen Sie mich immerhin vollends verachten. Ein bißchen mehr oder weniger, was ist daran gelegen! ich habe es doch wenigstens von der Seele!«

Ihre Augen loderten; ihr Busen, dessen reizende Formen das weiche, weite Schlafgewand zugleich verhüllte und zeigte, wogte stürmisch; sie hielt mit beiden Händen seine Hand umfaßt, er hätte sich nur gewaltsam losreißen können. So folgte er ihr zum Sofa, auf das sie ihn zu sich niederzog.

»Haben Sie wohl eine Ahnung, wie unsereins wird – eine von den – Damen, die ihr stolzen Männer nicht viel höher achtet wie die Dirne und meistens auch nicht viel besser behandelt? Wie solltet ihr? wie sollte einer von euch das ahnen, die ihr aus gutem Hause seid! Ihr habt ja sorgsame Eltern und Lehrer gehabt, und wenn ihr schließlich nicht gut tut, ist es eure Schuld. Nun denken Sie sich in dem abgelegensten Winkel des Landes auf einem großen Gute, das ein anständiger Mensch nie besucht, ein Mädchen von zehn, zwölf Jahren, das noch nicht lesen und schreiben kann, weil die Mutter seit der Geburt eben dieses Kindes in einem Hinterzimmer des verfallenden Hauses krank liegt, und der Vater, trotz seines Reichtums, viel zu geizig ist, ihm eine Gouvernante, eine Lehrerin zu halten. Dafür treibt sich denn das Mädchen mit den Hof- und Dorfjungen in den Ställen und Koppeln und auf den Feldern umher und lernt da, was – da zu lernen ist. Ich kann Ihnen sagen: es gab, als ich zwölf Jahre war, für mich keine Geheimnisse mehr; es war nicht meine Schuld: ich hätte eben blind und taub sein müssen, wenn es anders hätte sein sollen. Dann starb meine Mutter, oder vielmehr: hörte auf zu vegetieren; und mein Vater ergriff mit Freuden die Gelegenheit, mich loszuwerden unter dem Vorwande, daß er in einem Hause, in dem keine Frau mehr sei, mit einem heranwachsenden Mädchen nichts anzufangen wisse. Ich war ein nachgeborenes Kind, um viele Jahre jünger als meine drei älteren Schwestern, die alle schon seit Jahren verheiratet waren. Sie hatten keine Schwierigkeit gehabt, Männer zu finden: reiche Mädchen sind ja eine gesuchte Ware – sie hatten sämtlich Offiziere geheiratet. Die Spekulation war den Herren schlecht bekommen. Wir hatten von der Mutter Seite ein eigenes mäßiges Vermögen. Die Herren begnügten sich mit diesem Vermögen, das jede Schwester bei ihrer Heirat ausgezahlt erhielt, und welches nur gerade die Heirat ermöglichte, in der festen Erwartung, es habe der reiche Schwiegervater mit der Versicherung, seinerseits nicht einen Pfennig zu der jungen Wirtschaft beisteuern zu können, nur einen Scherz gemacht. Sie kannten den Vater nicht. Er hielt Wort; und nicht demütigste Bitten, wütendste Vorwürfe der Schwiegersöhne, nicht die Tränen, die Verzweiflung seiner Töchter – nichts konnte ihn bewegen, den Jammer und das Elend zu lindern, das über die neugegründeten Familien hereinbrach. Denn alle drei Herren waren vor ihrer Heirat tief verschuldet gewesen und hatten während der Ehe die alte Gewohnheit nicht aufgegeben. Alle drei mußten früher oder später ihren Abschied nehmen und führten dann mit ihren Frauen und Kindern in kleinen Städten das traurige Leben, welches solche Verhältnisse zur notwendigen Folge haben. Der zuletzt Verheirateten und Jüngsten der drei ging es noch am besten. Ihr Mann starb, und die kurze Ehe war kinderlos geblieben. So konnte sie als junge Witwe äußerlich mit einigem Anstande leben, und sie wußte diesen äußerlichen Anstand auch so ungefähr aufrechtzuerhalten, trotzdem sie bald von den Freiheiten ihrer Stellung den ausschweifendsten Gebrauch machte.

Und in das Haus dieser Schwester, deren Namen die Herren Offiziere und Assessoren in Grünwald nur mit Lächeln aussprechen, kam das dreizehnjährige Mädchen, das noch nicht lesen und schreiben konnte. Ich weiß nicht, ob ich es so bald bei meiner Schwester gelernt hätte, wenn mir nicht von einem schlanken Fähnrich, der im Hause viel verkehrte, ein Liebesbriefchen zugesteckt wäre, mit dem ich zu meiner Verzweiflung nichts anzufangen wußte. Ich ging zu meiner Schwester und bat sie, mich in die Schule zu schicken. Sie konnte sich völlig in meine Situation versetzen, die sie fast genau so durchgemacht hatte. Ich bekam Privatstunden und darf sagen, daß ich den kläglichen und lückenhaften Unterricht gut ausgenutzt habe, nicht aus Wißbegierde oder Ehrgeiz – einzig, weil ich bald herausgefunden, daß ein bißchen Lektüre und Französisch und Englisch zu den Toilettenrequisiten, um mich so auszudrücken, einer feinen Dame gehöre. Ich wollte eine feine Dame sein, so, was ich eben darunter verstand. Ich war auch durch das Schicksal meiner Schwestern gewitzigt: ich kannte meinen Vater besser, als sie, und wollte eine klügere Heirat machen. Dieser Entschluß, der bei mir, als ich noch nicht eingesegnet war, zu völliger Klarheit gereift und den ich mit planvoller Konsequenz auszuführen bestrebt war, rettete mich, wenn man es eine Rettung nennen kann, daß man ein wenig später elend wird. An Gelegenheit, es früher zu werden, fehlte es in dem Hause meiner Schwester nicht, obgleich ich es ihr zum Lobe nachsagen muß, daß sie mich nicht auf ihren Weg zu ziehen suchte, sondern mich einfach gewähren ließ, zufrieden, an dem jungen, munteren, hübschen Mädchen einen Anziehungspunkt mehr für den Taubenschlag zu haben, den sie ihr Haus nannte, und vermutlich denkend – wenn sie sich anders Gedanken über mich machte – daß der Weg ja deutlich genug vorgezeichnet und betreffendenfalls breit genug für uns beide sei; im stillen vielleicht verwundert, warum ich denn so gar lange zögerte, diesen Weg zu betreten. Ich war mittlerweile neunzehn Jahre alt geworden.

Endlich kam der, den ich gesucht hatte, oder vielmehr: endlich entschied ich mich. Ich hätte ihn früher haben können; er ging schon seit Jahren bei uns aus und ein und hatte mir, trotzdem er einer der enragiertesten Courmacher meiner Schwester war, vom ersten Augenblicke an heimlich den Hof gemacht. Daß er bereits Witwer, daß er sechzehn Jahre älter als ich, gereichte ihm in meinen Augen eher zum Vorzug; er würde zu leben wissen und mich leben lassen, wie mir's gefiel – dachte ich; und – er war reich! Verkaufen mußte ich mich doch, und er konnte wenigstens den Preis bezahlen. Er lächelte auch nur, als mein Vater wiederum in gewohnter Weise goldene Berge versprach; begnügte sich durchaus damit, daß mich mein Vater mündig erklären ließ und ich die Disposition über mein mütterliches Erbe bekam – alles, wie es in demselben Falle bei meinen Schwestern geschehen – er war die Uneigennützigkeit und Generosität selbst.

Ich ließ mich dadurch keinen Augenblick blenden; ebensowenig wie durch die Vorzüge, die er ja unzweifelhaft vor den Herren hatte, unter denen ich wählen konnte. Das wäre eine Art Entschuldigung für mich, und ich will mich nicht besser machen, als ich bin: ich wollte eine gute Partie – das war alles.

Und doch – ich schwöre es Ihnen: es lag nur in der Hand des Mannes, ob ich eine gute Frau werden sollte oder nicht. Ich hätte dem Manne, bei dem ich Liebe gefunden, auch meine Seele gegeben, und diese Seele war bildungsfähig, mehr noch: sie war liebefähig, sie war liebebedürftig. Liebe! Liebe von ihm! von ihm! hat er sie je, je – auch nur für den flüchtigsten Moment bei mir gesucht? hat er jemals etwas anderes gesucht, als was ihm jede andere hübsche Frau – was sage ich: jede dralle, rotbackige Hofmagd – ach! ich wollte Ihnen alles sagen, und jetzt – aber habt ihr Männer wohl eine Empfindung für den Ekel, die Scham, den Zorn einer nicht ganz verworfenen Frau, die sich als Dirne behandelt weiß, behandelt sieht? oder könnt ihr euch wundern, wenn sie nun wirklich zur Dirne wird? Ich bin es nicht geworden, mein Mann mag Ihnen nun gesagt haben oder sagen, was er will, obgleich ich es wahrhaftig leicht genug gehabt hätte. Begegnet man doch nur so selten einmal einem edeln Manne, dem an die Reinheit einer Frauenseele zu glauben Bedürfnis ist! stürzen sich doch die anderen so gierig auf die freie Beute, die sie sofort – und meistens ja auch vollkommen richtig – in einer vernachlässigten, brutalisierten Frau wittern! Ich hatte die Auswahl; ich hätte sie alle haben können; und diese demütigende Leichtigkeit der Eroberung ist vielleicht der Grund, weshalb ich mit allen spielte. Auch mit Bagdorf – ich schwöre es Ihnen! und wenn das Spiel mit ihm ein wenig ernsthafter war oder wurde, als mit den anderen, so ist es aus einem Grunde, den sie bereits ahnen sollten, und den ich Ihnen, da Sie ihn doch nicht ahnen, sagen muß. Ich wollte, ich will von meinem Manne geschieden sein! Ich habe ihn auf den Knien gebeten, mir diese Gunst zu gewähren: er hat mich höhnisch verlacht und zurückgestoßen. Er hat seine guten Gründe. Der erste: seine ungemessene Eitelkeit, die sich bei dem Gedanken windet, eine Frau könne ihn, den Eroberer aller Herzen, freiwillig verlassen; der zweite: ich bin und bleibe die Tochter und Miterbin meines Vaters, und dieser Vater ist in der Mitte der siebzig und kann nicht ewig leben. Ich bin so dumm gewesen, diesen zweiten Grund anfänglich für weniger gewichtig zu halten; jetzt glaube ich nicht mehr, jetzt weiß ich, daß er mindestens ebenso schwer wiegt, wie der andere.

Aber als Sie kamen, war ich so klug noch nicht. Ja, Sie sind es gewesen, durch den ich meinen Mann eigentlich erst wahrhaft kennen und beurteilen, das heißt: aus Herzensgrunde verachten lernte. Sind Sie doch der erste wahrhafte Gentleman, mit dem mich mein Schicksal leider so spät zusammengeführt hat! Es fiel mir wie Schuppen von den Augen: Ihre unerschöpfliche Güte, Ihre stets gleiche Freundlichkeit und Höflichkeit gegen alt und jung, reich und arm; Ihre Anspruchslosigkeit, die prunklose Stille, mit der Sie taten, was Sie für Ihre Pflicht hielten – hundertmal mehr, als irgend jemand von Ihnen erwartete oder gar forderte – mein Gott, das war mir alles so fremd, so neu und so reizend zugleich, so anziehend und bewunderungswürdig. Ich habe seitdem mehr als einmal gedacht: so wie mir muß den Menschen zumute gewesen sein, als Christus unter ihnen erschienen war: so selig-beschämt, so wollüstig-erschrocken, und doch, infolge dieser Scham, dieses Schreckens, so störrisch-widersetzlich, so unaufhaltsam getrieben, das Böse nun erst recht zu tun! Und dann erfüllte es mich mit heimlicher Wut, daß Sie sich für Maggie interessierten – für Maggie, die nicht besser, die viel, viel schlechter ist als ich. Ich triumphierte über die Enttäuschung, die Ihnen bevorstand. Hatten doch Maggie und ich uns einander längst in die Karten gesehen, in die Hände gespielt! War ihr doch Bagdorfs scheinbare Courmacherei nur ein bequemes Mittel gewesen, die Baronin endlich zu einem Entschlusse zu bringen, ebenso wie ich scheinbar Bagdorfs Bewerbung um sie begünstigte, einem Ausbruch der Eifersucht Zempins solange als möglich auszuweichen. Denn nach Frauenart wollte ich wohl den Zweck der Trennung und Scheidung von Zempin, fürchtete mich aber, das Mittel, das ich für das einzig wirksame erkannte, mit Entschiedenheit zu gebrauchen, wie sich ein Leidender vor einer Operation fürchten mag, von deren Notwendigkeit er doch überzeugt ist. Nun ließ mich Maggie fallen, weil Sie ihr mit Recht, wie der Erfolg gelehrt hat, zur Erreichung ihres Zweckes unendlich dienlicher schienen, als Bagdorf; sie hatte die Stirn, es mir zu sagen, zehn Minuten, nachdem sie Ihnen das Bekenntnis Ihrer töricht-edeln Leidenschaft durch ihre buhlerischen Künste abgeschmeichelt und den Verlobungsring vom Finger gezogen. Dieser Ring hat dann hernach in der Komödie mit der Baronin die gehoffte Wirkung gemacht: Sie hatten ihr ihn natürlich aufgenötigt! – ein junger, mit allen Vorzügen des Körpers und Geistes geschmückter, nicht gerade reicher, aber doch begüterter Mann von echtestem Adel lag ihr zu Füßen – Lafing mochte sich vorsehen! – Ich war empört; ich wollte mich an Maggie rächen, um so mehr, als ich die Folgen von Maggies Schwenkung von Bagdorf fort zu Ihnen sofort in der vermehrten Eifersucht Zempins zu leiden hatte. Sie erinnern sich der Brutalität, mit der er Bagdorf auf dem Schießstande behandelte. Ich warnte Sie vor Maggie, indem ich mich zugleich an der Qual weidete, die ich Ihnen dadurch verursachte, und wiederum mich unsäglich unglücklich fühlte, wenn ich dachte, wie unsäglich glücklich mich eine Liebe, die hier verschmäht und verraten wurde, gemacht hätte. Sie werden sich jetzt mein tolles Benehmen in dem Wäldchen erklären können.

Und nun – nun – ja, sehen Sie mich nur an: ich will mich vor Ihnen im Staube winden – nun kam der wahnsinnige Gedanke über mich, ob ich mir nicht Ihre Liebe gewinnen könnte. Ich wollte mich in Ihr Vertrauen stehlen, dadurch, daß ich mich durch Maggies Briefe als Maggies Vertraute legitimierte; ich wollte Ihnen über die Enttäuschung weghelfen, indem ich an Maggies Liebe zu glauben schien und doch die Möglichkeit, daß alles nur ein Spiel sei, beständig durchblicken ließ, um Sie allmählich an das Unvermeidliche zu gewöhnen. Ich wollte Sie quälen, martern, bis Sie mir in die Arme sänken – ach, in welchen Wahnsinn verstrickt sich nicht eine Frau, die nach Liebe schmachtet und daran verzweifelt, den süßen Trank je an die lechzenden Lippen zu bringen! Und dann – seit einigen Tagen – beschlich mich die Furcht, Sie möchten sich bereits getröstet haben. Aber das ist unmöglich: es ist wieder nur Ihre Güte, die allen zuteil wird, die Sie leiden sehen, oder die ihre Leiden geschickt zu drapieren wissen: Sie können nicht die Schwester des Mädchens lieben, das Sie so schmählich verraten hat! Ich könnte den Gedanken nicht ertragen, es würde mich wahnsinnig machen; ist doch Edith in ihrer kühlen, unnahbaren Tugend die lebendige Kritik, die Verurteilung meiner elenden Existenz! Ich weiß, Sie werden mich nie lieben, aber die Prüde, Hochmütige darf Sie auch nicht besitzen; sonst ist mein letzter Trost dahin: die, die Ihrer Liebe würdig sein soll, muß Eigenschaften haben, von denen ich mir keine Vorstellung machen kann.

Sehen Sie – das, oder ungefähr das wollte ich Ihnen sagen, und jetzt dürfen Sie sagen, daß ich Ihnen gewährt, was ich meinem Manne nie gewährt: daß Sie meine Seele nackt gesehen haben! Es ist kein schöner Anblick, nicht wahr? Aber bei Personen meiner Art braucht ja auch nur der Körper schön zu sein.«

Sie lächelte zu diesen letzten Worten; aber es war nicht das alte leichtfertige Lächeln – nur ein medusenhaftes Zucken um den kleinen Mund, durch dessen wie zu einem wollüstigen Kuß leicht geöffnete Lippen im Scheine der Lampe die weißen Zähne blitzten. Das schlichte, hellbraune Haar hatte sich zum Teil gelöst und fiel ihr, wie sie so, starren Auges vor sich niederblickend, dasaß, in langen, weichen Strähnen an den Schultern herab über den sich unruhig hebenden und senkenden Busen. Sie dachte wohl kaum daran, daß sie in diesem Moment wirklich schön war, und war es vielleicht gerade deshalb, weil sie nicht daran dachte.

So empfand Gerhard, und er sagte sich, daß, wenn er jetzt in der Tat die Seele dieser Frau ohne Hülle gesehen, es ein Jammer sei, sollte eine solche Seele verlorengehen, und ob denn keine Möglichkeit, sie zu retten. Dies Werk der Rettung durfte ja freilich nur einer in die Hand nehmen, aber leider konnte er jetzt nicht mehr, wie er es noch vor wenigen Tagen getan haben würde, aus Überzeugung Julie sagen, daß sie ihren Gatten völlig verkenne, mußte sich vielmehr gestehen, ein und der andere Zug in dem Bilde, trotzdem es von einer in Leidenschaft zuckenden Hand entworfen, möchte wohl nach dem Leben sein, wenn auch das Ganze verfehlt und falsch war Er versuchte in diesem Sinne zu sprechen, aber Julie unterbrach ihn nach den ersten Worten.

»Schweigen Sie um Gottes willen!« rief sie, »wenn Sie nicht wollen, daß ich Sie hasse, wie ich ihn hasse, den Sie nicht kennen, den Sie niemals kennen werden, denn er würde in seiner verruchten Eitelkeit versuchen, Gott zu belügen, gerade wie er sich selbst belügt – er, der brave Mann! der ehrliche Mann! der Märtyrer seiner Gemütlichkeit! das Opfer seines Temperaments! Hat er Schulden? nun – er wird sie bezahlen, sobald er bei Kasse ist! hat er ein Mädchen verführt? nun – er würde sie heiraten, wenn er nicht zufällig verheiratet wäre! Und da ist es denn doch eine wahrhaft edle Tat, wenn er dem armen Dinge einen Mann verschafft und bei Nacht und Nebel hinter dem Manne herläuft, im Fall der Mann Miene macht, das Mädchen sitzenzulassen. An dem Mädchen wäre so viel nicht gelegen – sie ist wahrhaftig die erste nicht, wie sie nicht die letzte sein wird; aber die Sache könnte sich am Ende so wenden, daß daraus ein triftiger Scheidungsgrund für die legitime Gattin erwüchse. Das muß auf jeden Fall vermieden werden!«

»Einen solchen Scheidungsgrund«, rief Gerhard, »müßte die Gattin doch längst haben, wenn der Mann wirklich das ausschweifende Leben führte, dessen sie ihn zeiht!«

»So?« erwiderte Julie höhnisch, »meinen Sie? soll ich etwa meine eigene Schwester vor Gericht fordern? Oder die Baronin Basselitz, die sich ihres alten Liebhabers schwerlich erinnern wird: sie hat vorher und nachher so viele gehabt! Oder die eine und die andere meiner lieben Nachbarinnen? mein Gott! man muß doch gute Nachbarschaft halten! und was die langmütigen Herren nicht wissen, oder wissen wollen, das braucht die gefälligen Damen ja nicht weiter heiß zu machen! Oder soll ich mir von Vadder Deep die lange Liste der Dirnen geben lassen, die er in dem stillen Retzow für seinen Herrn jahraus, jahrein gehalten, und wenn der Herr satt war, anderweitig verkuppelt oder mit einem Kinde auf dem Arme und einem Stück Geld in der Tasche in die weite Welt geschickt hat? Vadder Deep wird sich hüten, es möchten dabei böse Dinge zur Sprache kommen! Und die Dirnen selbst! lächerlich! wer sollte auf die hören! um einen solchen Alltagsfall würde kein Richter auch nur einen Termin ansetzen! Ich will ihm freilich wünschen, daß sich der Vater diesmal nicht zum Richter in Sachen seiner Tochter macht!«

»Sie sprechen von Anna Garloff!« rief Gerhard.

Juliens Augen blitzten.

»So wissen Sie es auch schon?«

»Ich vermute, daß wir aus derselben trüben Quelle geschöpft haben, und daß diese niemand anders, als der schurkische Vadder Deep ist.«

»Dann fragen Sie doch meinen Mann selbst!«

»Das werde ich.«

»Sie werden es nicht – um Gottes willen, nein!« rief Julie, ihn, der sich erheben wollte, mit beiden Händen festhaltend. »Er ermordete mich, er ermordete Sie – dich – dich! von dem jedes Haar auf deinem lieben Haupte den schlechten Menschen tausendfach aufwiegt. Du sollst nicht um der Elenden willen sterben, die nicht wert ist, daß sie dir die Schuhriemen löst, wenn es auch ihre Wonne wäre, dir als Sklavin zu dienen!«

Sie hatte sich an ihm nieder auf den Boden gleiten lassen, indem sie seine Hände festhielt, und als er sie ihr entzogen, seine Knie umklammert, gegen die sie ihren Busen, ihr Gesicht drückte. Plötzlich richtete sie sich mit einem leisen Schrei in die Höhe, lauschend:

»Barmherziger!«

Auch Gerhard hatte das dumpfe Geräusch vernommen, es mochte nur das Rauschen des Sturmes gewesen sein. Er wollte eben mit einem entscheidenden Worte der Szene ein Ende machen, als deutlich in dem nassen Sande der Rampe die Räder eines Wagens knirschten, der dann auch sofort vor der Haustür hielt.

»Es ist Ihr Gemahl, ich werde ihm entgegengehen«, sagte er und bewegte sich auf die Tür zu, die in den Salon führte.

Julie warf sich ihm in den Weg. »Um Gottes willen! durch mein Schlafzimmer! und die Kinderstube! ich halte ihn so lange auf!«

In demselben Moment kam schon Herrn Zempins schwerer Schritt durch den Salon; schnell wie der Blitz hatte sich Julie nach der Tür gestürzt und den Schlüssel umgedreht, Gerhard mit der ausgestreckten Hand nach der anderen Tür weisend.

»Dies ist Wahnsinn!« sagte Gerhard flüsternd.

Sie wiederholte ihre flehende Gebärde, und nun lag die Hand des, der durch den Salon gekommen, auf der Türklinke, die schnell und gewaltsam ein paarmal herabgedrückt wurde; aber bereits im nächsten Moment flog die Tür krachend auf, ohne daß man einen Stoß oder Schlag gehört hätte, und Herr Zempin trat herein, auf Gerhard zu.

»Ah! Sie sind es!«

Seine wütenden Blicke fuhren hin und her zwischen Gerhard und Julie, die von der Tür bis mitten in das Gemach getaumelt war.

»Ihre Frau Gemahlin«, sagte Gerhard, »hatte die Güte, meinen Rat bei Grete in Anspruch zu nehmen, die ihr nicht ganz wohl schien; ich hoffe indessen: es hat nichts zu bedeuten.«

»Ich hoffe es ebenfalls«, erwiderte Herr Zempin mit einem zweideutigen Lächeln, und dann sich zu Julie wendend: »Du mußtest sehr erschrocken gewesen sein, daß du dich dem Herrn Baron in dieser derangierten Frisur zeigen konntest.«

»Entschuldigen Sie, Herr Baron!« sagte Julie, die losgelösten Haarsträhnen über die Schultern werfend: »wer denkt in solchen Momenten daran!«

»Oder daran, daß die Tür verschlossen war«, sagte Herr Zempin, sich im Zimmer umblickend, als spähte er nach sicheren Zeichen für seinen Verdacht.

In Juliens auf Gerhard gerichteten Augen blitzte ein Schimmer von Triumph; offenbar hatte ihr Gatte nicht gehört, daß die Tür erst im Moment, als er durch den Salon kam, verschlossen wurde. Damit war der Hauptgrund der Furcht vor den Folgen des unbedachten Schrittes, wozu sie sich in ihrer Bestürzung hatte verleiten lassen, fortgefallen.

»Wir haben heute sehr Veranlassung gehabt, die Läden und die Türen zu verschließen«, sagte sie; »du weißt nicht, zu wie großem Danke wir alle dem Herrn Baron verpflichtet sind.«

Zempin wandte den grollenden Blick fragend auf Gerhard.

»Eine kleine Emeute der Leute, welche die Abwesenheit des Herrn zu unberechtigten Forderungen benutzen zu können glaubten«, erwiderte Gerhard; »ich bitte hernach um die Erlaubnis, Ihnen darüber und über meine sonstigen Maßnahmen Rapport erstatten zu dürfen. Für den Augenblick will ich mich den Herrschaften empfehlen.«

»Wollen Sie nicht noch einmal nach dem Kinde sehen?« fragte Julie, mit einer mutigen Wendung nach ihrem Schlafzimmer.

»Ich möchte Sie und Ihren Herrn Gemahl nicht länger stören; ich erfahre wohl nachher, daß es der Kleinen weiter gut geht.«

Er verbeugte sich und ging. In der Tür nach dem Salon, an der das abgebrochene Schloß hing, sah er nur eben, wie Herr Zempin die Mütze, die er bis dahin nicht abgenommen, auf das Sofa schleuderte.


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