Friedrich Spielhagen
Platt Land
Friedrich Spielhagen

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Sechstes Buch

Erstes Kapitel.

Nach Teschen zum Grafen mußte Gerhard über Herrn Sallentins Gut Zarnewitz; er brauchte also keinen Umweg zu machen, um Pastor Pahnk aufzusuchen, bei dem er den Wunsch des Försters, der Tochter auf seinem eigenen Grunde die Ruhestätte zu bereiten, befürworten wollte.

In der Nähe des großen Kirchdorfes lenkte von einem Feldwege auf die Hauptstraße ein Reiter, in dem er, erst als er bereits ganz nahe war, den geistlichen Herrn erkannte, der heute in Stulpenstiefeln und Regenrock, eine breitschirmige Mütze tief ins Gesicht gedrückt, sich von einem Pächter oder Gutsbesitzer in nichts unterschied. Auch kam er eben von dem ›Priesteracker‹, den er selbst bewirtschaftete. Das Unwetter habe ihm keinen großen Schaden getan, da er den Weizen beinahe ganz herein gehabt und sein Hafer den Regen sehr gut habe brauchen können. Überdies sei das Barometer seit heute morgen fortwährend im Steigen; er prophezeie noch für den Abend gutes Wetter.

Gerhard mußte endlich das wirtschaftliche Gespräch, das sich in unendliche Länge zu ziehen drohte, geradezu abbrechen, um sein trauriges Anliegen vorzubringen. Der Pastor hatte von dem bösen Fall noch nichts gehört. Das arme, arme Mädchen! er habe sie getauft und eingesegnet; sie sei immer sehr gut und fleißig gewesen; gerade von ihr würde er am wenigsten vermutet haben, daß sie ein solches Ende nehmen sollte! Ob er die von dem Förster gewünschte Erlaubnis gebe? Herzlich gern! Ob geweiht oder ungeweiht – Gottes Erde sei es schließlich überall, und ob er für die arme Seele über dem Grabe bete, oder in seinem stillen Kämmerlein – der gnädige Gott werden ihn da und hier hören. Also, er für seinen Teil: in Gottes Namen! aber der Herr Baron kenne den Herrn Grafen; der Herr Graf sei ein sehr strenger Herr; dem Herrn Baron freilich werde er es gewiß nicht abschlagen. Es sei auch nach allen Seiten das beste und klügste, wenn von der unglücklichen Geschichte so wenig Wesens als möglich gemacht würde. Von dem vielen Gerede würden die Toten nicht wieder lebendig, und zwischen den Lebenden setze es nur böses Blut. Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet! – das sei immer sein Wahlspruch gewesen, und das biblische Wort habe er vorgestern dem Herrn Grafen in das Gedächtnis zu rufen sich erlaubt, als der Herr Graf ihm – allerdings unter dem Siegel der tiefsten Verschwiegenheit, die gegen den Herrn Baron, der vollständig eingeweiht sei, nicht nottue – den Verdacht mitgeteilt, der gegen den verstorbenen Herrn Zempin und gegen einige gewisse andere Personen rege geworden. Er habe den alten Zempin gut gekannt; der sei geradeso gewesen wie der Kantzower: übermütig im Glück und ohne Kraft, das Unglück zu ertragen. Solche Menschen seien unberechenbar; aber bis zum Verbrechen – das sei denn doch eine große Kluft, und da bleibe er – der Pastor – lieber diesseits stehen mit seinem Urteil und überlasse die Entscheidung Gott, der allein Herz und Nieren prüfen könne und sich deshalb auch die Rache vorbehalten habe. Der Herr Graf sei mit diesem seinem Glaubensbekenntnis nicht recht zufrieden gewesen; aber es werde nichts so heiß gegessen, wie es gekocht werde. Der Herr Graf werde mit der Zeit auch wohl noch dahinterkommen, und für seinen Übereifer sei der Umstand, daß Zempin seit gestern wieder ein reicher Mann, ja reicher sei, als er je gewesen, der allerbeste Dämpfer. Einen so einflußreichen Mann, der bei den Kreis- und Provinzialtagen die größte Rolle spiele, auf ein so durchaus windig leeres Gerücht, auf eine bloße Vermutung hin in den schlimmsten Leumund zu bringen und gleichsam einen Kampf auf Leben und Tod mit ihm zu beginnen, werde sich der Herr Graf wohl dreimal überlegen und sich mit dem Retzower Forst begnügen, der ja nun dem Fiskus definitiv zugesprochen sei. Und das von Zempin, das gelte mutatis mutandis von Vadder Deep. Das sei jetzt eine gewichtige Person – Gott seis geklagt! – Und was den Förster betreffe, – du lieber Gott, wer möchte es wohl übers Herz bringen, dem armen geschlagenen Manne das schwere Kreuz, an dem er zu tragen habe, noch schwerer zu machen?

So redete der gutmütige Herr in seiner behaglich lässigen Weise, indem er dabei fortwährend mit den kurzen Beinchen seinem kleinen, runden Pferde die Weichen berührte und einmal über das andere stillhielt, um mit aller Umständlichkeit aus einer großen runden Dose eine gewaltige Prise in das stumpfe Näschen zu stopfen, das nur eben zwischen den dicken, wettergebräunten Backen rötlich hervorblickte. Gerhard ließ sich die innere Ungeduld nicht merken, und dann: aus den langatmigen Reden des geschwätzigen alten Herren durfte er annehmen, daß der Graf die Angelegenheit entschieden nicht mehr so hoffnungsvoll ansah, wie anfangs; und vor allem, daß jener sein Versprechen gehalten und ihn selbst in keiner Weise ins Spiel gebracht hatte. In dem Maße aber, als der Eifer des Grafen erlahmte, wuchs seine eigene Zuversicht, daß der letzte bitterste Tropfen in dem Leidenskelch dieser Tage bleiben, daß Edith nicht jetzt und nie das Geheimnis erfahren werde! Dieser Gedanke beherrschte seine Seele völlig; alles andere erschien dagegen geringfügig.

Die Reiter waren an das erste Haus des Dorfes, den großen Krug, gelangt, welcher, an dem Kreuzungspunkte zweier Landstraßen gelegen, für die ganze Nachbarschaft eine hervorragende Wichtigkeit hatte. So war denn auch heute wieder eine kleine Wagenburg vor demselben aufgefahren: ein paar Chaisen, ein halbes Dutzend vierspänniger Leiterwagen von einem benachbarten Gute, welche Korn nach Grünwald gebracht hatten, und deren Knechte sich jetzt drinnen gütlich taten, während die abgesträngten schweißtriefenden Gäule deckenlos in dem rauhen Winde froren und die Köpfe zusammensteckten; ein Zigeunerkarren, in dessen Stroh ein junges braunes Weib und ein paar zerlumpte, schwarzäugige Kinder kauerten, während der Vater dem struppigen mageren Pferdchen Brot in die fliegende Krippe schnitt, und – zu Gerhards nicht geringer Verwunderung der Kantzower Wagen mit Spatzings Sachen, ohne Pferde, zum Beweis, daß es auf einen längeren Aufenthalt abgesehen war.

So sagte auch der Wirt, der, durch das Klappern der Hufe angelockt, mit einem großen Präsentierteller, auf dem unterschiedliche Gläser Grog dampften, in die Haustür trat. Er rief ein Mädchen herbei, die das Getränk hineintragen sollte, während er den Herren die gewünschte Auskunft gab. Herr Stude und Herr Spatzing seien beinahe schon vier Stunden hier – seit neun Uhr. Sie hätten erst nur ein Glas Grog gegen die rauhe Luft trinken wollen, aber ein paar Gutsbesitzer aus Mecklenburg vorgefunden, und dann seien die Herren Lindblad und Benz dazugekommen – sie kämen immer um diese Zeit in den Krug – und da hätten sich die Herren natürlich nicht so bald wieder trennen mögen und säßen noch, trotzdem Frau Sallentin bereits ein paarmal geschickt und sie zu Tische hätte bitten lassen. Nun sei Herr Sallentin selber gekommen, sie zu holen, und zu Herrn Hinrichs nach Radebas sei ebenfalls geschickt, der müsse gleich eintreffen. Dann würden sie wohl zusammen auf den Hof gehen. Daß die beiden Herren heute noch weiter kämen, glaube er nicht; sie würden wohl sicher in Zarnewitz bleiben. Vor einer Stunde sei auch noch ein Herr von Ramberg dagewesen, einer von den vier Schwiegersöhnen des Herrn Semlow, der nach Swinhöft gewollt habe; der werde dort in einem schönen Zustande ankommen, denn er hätte gleich eine Champagnerbowle spendieren müssen von wegen der Erbschaft; jetzt eben seien die Herren zur Abwechslung wieder beim Grog. Ob der Herr Pastor und der Herr Baron nicht absitzen und ein wenig näher treten wollten? es gehe drinnen gar lustig zu; besonders stelle Herr Stude so tolles Zeug an, daß man sich darüber totlachen könne.

Aus dem Zimmer rechterhand erschallte lautes Hallo und, den Lärm übertönend, eine Gerhard sehr bekannte Stimme, welche: Der Papst lebt herrlich in der Welt – aus voller Brust intonierte.

Es fängt doch wieder an zu regnen, sagte der Pastor mit einem verschämten Blick nach den angelaufenen Fenstern des Honoratiorenzimmers; sollten wir nicht einen Augenblick eintreten?

Gerhard entschuldigte sich: seine Zeit sei so kurz gemessen; er habe dem Förster seinen Besuch fest zugesagt und möchte nicht kommen, ohne den gewünschten Konsens mitzubringen; zu dem Zwecke müsse er doch aber auch beim Grafen in Teschen vorsprechen.

»So nehmen Sie wenigstens mit unserem frugalen Mittagbrot vorlieb«, sagte der Pastor, »meine Frauenzimmer werden sich sehr freuen, und – nehmen Sie's mir nicht übel – Sie sehen schlimm aus; eine Stunde Erholung wird Ihnen guttun.«

Sie waren mittlerweile bis zu dem Pfarrhause gelangt, das, am Ende des Dorfes, unmittelbar neben der uralten Kirche, von vielhundertjährigen Linden umdüstert, lag. Eine junge Magd berichtete: die Frau Pastor und Fräulein Tining und Lining seien bereits vor einer Stunde zu Sallentins gebeten und hätten hinterlassen, der Herr Pastor möge doch ja gleich nachkommen: Herr Stude und Herr Spatzing würden da sein, auch Herr Hinrichs würde erwartet und noch ein paar andere.

Gerhard, der dem Pastor die Verlegenheit, in die ihn dieser unerwartete Zwischenfall versetzte, nur zu deutlich ansah, begehrte sogleich weiter; das aber wollte jener durchaus nicht zugeben. Mit dem Mittagessen auf dem Hofe habe es gute Wege; die Herren aus dem Kruge würden sobald nicht aufbrechen, davon habe sich der Herr Baron doch wohl selbst überzeugt, und wenn er nun auch dem Herrn Baron kein Mittagessen anzubieten habe, ohne daß er eine Erfrischung zu sich genommen, lasse er ihn nicht fort.

Gerhard mußte absteigen und die Magd einen Imbiß und eine Flasche Wein in das Studierzimmer schaffen, wohin Gerhard seinem gutmütigen Wirt mit Widerstreben folgte. Der Boden brannte ihm unter den Füßen, jede Minute schien ihm ein unersetzlicher Verlust, und trotzdem er noch völlig nüchtern war und sich, bei aller innerer Erregung, körperlich tief ermattet fühlte, flößte ihm Trank und Speise Widerwillen ein. Aus Höflichkeit nahm er ein wenig Weißbrot und trank ein paar Gläser von dem vortrefflichen Weine, während der Pastor den guten Dingen so eifrig zusprach, als erwarte ihn nicht das Mittagessen auf dem Hofe.

»Ein Sperling in der Hand ist besser, als eine Taube auf dem Dache«, sagte er; »und was der Magen hat, das hat er. Und ganz unter uns: bei Sallentins ist oft Schmalhans Küchenmeister; ich sage immer: damit sie bei anderen Leuten für drei essen können. Sonst hätten sie's wahrhaftig dazu; aber je mehr er hat, je mehr er will! Na, ich darf keinen Stein auf die Leute werfen; andere machen's nicht viel besser: jeder für sich und Gott noch ganz besonders für mich – das ist der Wohlspruch so ziemlich all der Herren Domänenpächter und Gutsbesitzer, wie viele ich ihrer auch kenne – und ich kenne ein gut Teil. Den Kantzower nehme ich aus. Bei dem habe ich noch nie vergebens angeklopft, wenn's ein Scherflein für die Armen zu bitten galt; im Gegenteil: er gab immer doppelt und dreifach, so daß ich ihn zuletzt gar nicht mehr angehen mochte, um so weniger, als ich manchmal wohl merkte, wie er auch nichts übrig hatte. Daß es freilich so schlecht mit ihm stehen könne, hätte ich mir nicht träumen lassen. Den ganzen Anteil an Retzow abgetreten! und an Vadder Deep! ich wollt's erst gar nicht glauben! Niemand wollte es glauben; es klingt wie ein Märchen. Es sagen auch alle, das könne nicht mit rechten Dingen zugegangen sein, und ist's gewiß nicht, und unrecht Gut gedeiht nicht, und wie gewonnen, so zerronnen. Schon deshalb möchte ich an die Geschichte nicht glauben, die mir der Herr Graf erzählt hat. In dem Augenblicke, wo den Zempins der Besitz wirklich unter den Fingern zu zerrinnen schien, erbt der eine durch seine Frau eine Viertelmillion, und der andere verlobt seine Tochter an unseren reichsten Standesherrn. Das sieht wahrlich nicht wie ein Gericht Gottes aus! So denkt gewiß der Herr Graf, wenn ich ihn irgend recht beurteile; und so denkt Sallentin, der ganz unglücklich darüber ist, daß er seine Forderung an Zempin, die er heute voll ausgezahlt bekäme, vorgestern mit zweitausend Damno verkauft hat. Es ist eine alte landläufige Meinung: die Zempins sind Gücksmenschen, und das scheint sich ja wirklich zu bestätigen, obgleich freilich auch hier noch immer nicht alles Gold ist, was glänzt, und der Himmel in seiner Weisheit dafür sorgt, daß die Bäume nicht in den Himmel wachsen. Wenn es wahr ist, was man so erzählt – ich habe es – aber ganz unter uns, Herr Baron! – von der Frau Sallentin –, daß der Saufaus, der Klempe, nur für einen anderen eintreten sollte, so wird der Tod der armen Dirne für den anderen doch ein böses Menetekel sein, um so mehr, als unsere liebe Frau Zempin, meine verehrte Gönnerin, leider nicht in dem Rufe steht, nur für ihren Gatten und ihre Häuslichkeit zu leben. Und dem guten Kosenower soll es ja seit Sonntag noch immer recht übel gehen, und dabei ist er nun wirklich verurteilt – zu vierzehn Tagen, was mir auf alle Fälle ein bißchen sehr hart scheint, und doppelt hart, wenn man bedenkt, daß es einen Mann trifft, der, abgesehen von seiner momentanen Krankheit, in seinem ganzen Leben, glaube ich, freiwillig noch nicht vierzehn Stunden hintereinander in der Stube gewesen ist und nun vierzehn Tage hinter Schloß und Riegel zubringen soll. Aber trinken Sie doch mal aus, Herr Baron! Wollen Sie wirklich schon aufbrechen?«

Gerhard hatte sich erhoben; er könne es nicht verantworten, den Herrn Pastor länger festzuhalten. Seine Zeit sei ebenfalls um; er bitte dringend, ihn jetzt beurlauben zu wollen.

»Ich hätte gern noch ein paar Stunden so angenehm mit Ihnen geplaudert«, sagte der gutmütige Herr, der allein das Wort geführt hatte; »aber man soll den, der fort will oder muß, nicht halten. Und noch einmal – übernehmen Sie sich nicht! Ihre Hand ist heiß; ich sehe es an Ihren Augen, daß Sie nicht wohl sind; ich möchte schwören, daß Sie Fieber haben. Ein alter Landpastor versteht sich auf dergleichen.«

Gerhard stellte das in Abrede: es sei nur die natürliche Folge einer schlechten Nacht und der traurigen Erlebnisse des Tages. Er kenne seine Natur und wisse, dergleichen habe bei ihm gar nichts zu bedeuten.

»Ja, ja, so seid ihr jungen Leute«, sagte der Pastor; »aber das ist die Tugend der Jugend, daß sie keine hat – wenigstens nicht in dem Sinne von uns Alten. Na, ich war auch nicht anders, als ich jung war. – Es war mir eine Ehre und eine Freude, Herr Baron! Kommen Sie glücklich hinüber und zurück! Auf recht baldiges Wiedersehen!«


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