Friedrich Spielhagen
Platt Land
Friedrich Spielhagen

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Zweites Kapitel

Indessen mäßigte er bald das rasche Tempo. Die Sonne sandte, obgleich es kaum zehn Uhr war, glühende Strahlen herab; von dem schlanken Halse des Pferdes rieselte der Schweiß; kein Luftzug, als der durch die Bewegung des Reitens selbst hervorgebrachte, kühlte seine Wangen, und es denkt sich besser nach, wenn man von Zeit zu Zeit dem Tiere die Zügel auf den Hals legen und sich die perlende Stirn trocknen kann.

An Stoff zum Nachdenken fehlte es nicht; diese neun Tage hatten so reichlich dafür gesorgt, als sollte es für ebenso viele Jahre ausreichen.

Alle Welt sagt es also! das heißt: die Herren Spatzing, Lindblad und Benz, die ja auch vollauf Zeit zum Gebärdenspähen und Geschichtentragen hatten; Herr Otto Bagdorf, dessen Eifersucht nicht ganz unberechtigt war, wenn man sein Verhältnis mit dem schönen Mädchen nicht ebenfalls aus der Luft gegriffen. Denn von einem Verhältnis zwischen ihm selbst und Maggie konnte doch in keinem Sinne des Wortes die Rede sein. Was war denn geschehen, das auch nur den geringsten positiven Anhalt gegeben hätte? Sie war alle Tage gekommen, zu Wagen oder zu Pferde – manchmal schon des Vormittags – und war bis zum späten Abend geblieben. Aber war das nicht ihre Gewohnheit? oder wenn sie jetzt etwas häufiger kam, bot das große Waldfest, das Julie angeregt und über das nun bereits seit einer Woche debattiert wurde, nicht eine ausreichende Erklärung? Waren die Fräulein Sallentin, Fräulein Pahnk und die anderen jungen Damen der Nachbarschaft nicht fast ebensooft da? und sollten diese nicht ebenfalls verlobt sein, heute mit diesem, morgen mit jenem jungen Herrn? Schwebten die Verlobungen hier nicht in der Luft, zahlreich wie Sommerfäden an einem sonnigen Septembertage, und ebenso gegenstandslos und zerreißbar? Konnte er sich denn wundern, wenn die landesläufige Klatschsucht sich auch an ihn heftete, um so mehr, als er ein Fremder, ein Neuling in dem Kreise, das heißt ein besonders brauchbarer Haken war, um allerhand Vermutungen, Prophezeiungen, Auslegungen daran zu hängen? Geschwätz, müßiges Geschwätz müßiger Menschen – weiter nichts!

Wohl! aber er saß doch nun eben nicht in seiner Stube, wie heute in der ersten Morgenfrühe, und schrieb an Bruder Max die neun Tage freventlich hinausgezögerte Antwort auf dessen reumütigen, melancholischen Brief. Was hatte er da tun sollen, als seinen Aufenthalt in Kantzow schildern in den rosigen Farben eines vollkommenen far niente, das durch die Gegenwart einer ganzen Anzahl liebenswürdigster und schönster Mädchen zu dem süßesten von der Welt gemacht werde? ein wahres Lotosleben, in dem man nichts mehr wisse von der schweren Ruderarbeit auf dem öden Meere, nichts von Lästrygonen, Zyklopen und anderen bösen Menschen und Ungeheuern, denen man sonst auf seiner Irrfahrt auf Tritt und Schritt begegne, sondern das Dasein dahinfließe in mühelosem Genuß und seliger Verschollenheit?

Den Brief hatte er dann selber seinem ersten Bekannten, dem schweigsamen Postillion, übergeben; und der Brief würde gewiß seine Wirkung tun da unten in dem schönen Land Italien und dem geliebten genialen Bruder Ruhe flößen in das leichtbewegliche, lenkbare Künstlerherz.

Jetzt aber – er war allein auf der weiten Flur – er hätte denn die beiden mächtigen Kolkraben, die eben vor ihm aufflogen, und die drei Störche, die da hinten auf dem Felde zwischen den Hocken spazierten, und den Falken, der über dem fernen Rande der Schwanheide schwebte, für Gesellschaft nehmen müssen – allein mit seinem Herzen, das so ungestüm schlug, als ritte er nicht im Schritt nach Retzow in Geschäften, die ihn, wie der Inspektor sagte, nichts angingen, sondern sprengte mit verhängten Zügeln dort hinüber, wo am Waldessaume, zwischen Bäumen und Büschen halb versteckt, das hohe Dach des Herrenhauses von Kosenow winkte mit jenem Zauber, den nur das Herz des Liebenden fühlt. Ja, er liebte das wunderbare Mädchen! was sollte er's hier leugnen unter dem wolkenlosen Himmel, zu dem seine Seele aufjubelte mit der Lerche, die sein Auge vergeblich suchte in dem leuchtenden Blau! zwischen den Feldern, auf denen in der zitternden Hitze über den Stoppeln die Zikaden unablässig schwirrten! Ach! es war nur eine Ätherliebe, die sich nie ein Nest bauen würde! nie einen Herd, in dem die Heimchen zirpten! Hatte er nicht vor kaum einem Jahre der sterbenden Mutter zugeschworen mit einem teueren Eid, daß er den Brüdern Vater sein wolle nach bestem Wissen und Gewissen? und ihnen helfen wolle, ihre Ziele zu erreichen, mit allen Kräften und ganzem Vermögen? und hatte er dies Versprechen nicht buchstäblich genommen? durfte er, der unbemittelte Landmann, es wagen, seine Hand auszustrecken nach der reichen Gutsbesitzerstochter, der viel umworbenen? konnte er, der arme Baron, konkurrieren mit jenem Majoratsherrn von Basselitz, der auch auf der Liste und ganz gewiß nicht zu unterst stand, und der, wenn sie sich auch über ihn lustig machten, zwei Stunden lang zu traben hatte, bis er sein Gebiet von einem Ende bis zum anderen durchritten? – ja, mit jenem Bagdorf nur, der doch wenigstens, als ein gänzlich unabhängiger Mann, auf seinem väterlichen Erbe da drüben in Bulitz saß? Was konnte er für sich anführen, als daß er sie liebte mit jedem Blutstropfen, der durch sein Herz rollte! Aber sagten das die anderen nicht? – Und daß sie ihn wieder liebte? einzig ihn? – wie durfte er das behaupten? womit konnte er's nur vor sich selbst beweisen, wenn er nicht einen heißeren Blick der großen leuchtenden Augen bei dieser, einen wärmeren Druck der kleinen kühlen Hand bei jener Gelegenheit zu Zeugen anrufen wollte? trügliche, bestechliche Zeugen in der Tat, die noch manchen anderen Klienten sich dienstfertig anbieten mochten! Ah!

Der Braune, welcher, mit den Zügeln auf dem Halse, bedächtig Huf vor Huf in den weichen Stoppelboden drückend, ganz vergessen haben mochte, daß er geritten wurde, schrak zusammen, als er plötzlich das Gebiß im Maule und die Sporen in den Flanken fühlte. In wenigen Minuten war die Strecke bis auf den Retzower Hof zurückgelegt.

Der Hof von Retzow, vor dessen Herrenhause unter den beiden breitkronigen Linden Gerhard nun hielt, hatte, wenn auch in kleineren Dimensionen, vor dreißig Jahren dem von Kantzow oder von hundert anderen Gütern der Gegend geglichen; jetzt, meinte Gerhard, gewähre er in seiner Zerfallenheit und Verkommenheit wohl ein einziges Bild, das den Maler in Rom trotz alledem fesseln und zu einer interessanten Skizze ein willkommenes Motiv bieten würde, seinem praktischen Auge aber trübselig und beleidigend erschien. War es doch, als wollten die alten Gebäude eine mahnende Illustration liefern zu dem alten Wort, daß Unfriede verzehrt, – der Unfriede, der zwischen den beiden Brüdern geherrscht, seitdem sie damals bei der Erbteilung dreimal über Retzow gewürfelt, und nachdem sie dreimal dieselben Augen geworfen, auf den Rat der Nachbarn das Gut zum gemeinschaftlichen Besitz und zur gemeinschaftlichen Verwaltung übernommen und sich seitdem – es war nun beinahe zwanzig Jahre her – noch über keine einzige der zu treffenden Maßregeln hatten einigen können! Hatte der Blitz irgend einmal der Riesenpappel an dem Giebel des Viehhauses die Krone geknickt, daß sie, nur eben noch mit dem Stamm zusammenhaltend, dreißig Fuß lang seitwärts herabhing, und wollte sie da – ein vertrocknetes Gestrüpp – hängenbleiben, so mochte sie's, greulich wie es aussah. Hatte bei derselben oder einer anderen Gelegenheit der Sturm die Ställe und Scheunen zum Teil abgedeckt, hier ein Fach eingedrückt, dort eine Tür halb aus den Angeln gerissen – es war in all der Zeit keine Hand bereit gewesen, Schäden abzuhelfen, die anfänglich klein, mittlerweile das Ganze zu zerstören drohten. Wer hätte sich eine Mühe nehmen sollen, die ihm keiner dankte? Die Herren Inspektoren gewiß nicht, von denen auf das verrufene Gut nur diejenigen kamen, die nirgends sonstwo eine Stelle fanden; und selbst diese rohen und gewissenlosen Menschen hatten es niemals lange ausgehalten; bereits seit Jahren hatte sich keiner mehr gemeldet und – Vadder Deep hatte das Regiment allein gehabt.

Ein seltsames Regiment, von dem Gerhard, der von dem ersten Tage an in aller Stille die wunderliche Wirtschaft aufmerksam beobachtet, sich noch immer auch nicht annähernd ein Bild machen konnte. Schien doch in Retzow, von dem Statthalter bis zum Gänsejungen, jeder zu tun, was ihm beliebte; hörte man doch nie ein Kommandowort – das auch aus Vadder Deeps unbestimmtem Munde eigen genug geklungen haben müßte – und doch ging alles in der Außenwirtschaft nach dem Schnürchen und jedenfalls sehr viel besser und glatter, als in Kantzow unter dem lärmenden Oberinspektor und den beiden Unterinspektoren, die vom frühesten Morgen bis zum spätesten Abend in ihren Stulpenstiefeln auf den Feldern und in den Ställen herumliefen. Die zerfallenen Scheunen boten freilich keinen sicheren Aufbewahrungsort mehr für die reiche Ernte; aber um den Hof herum standen in abgemessenen Entfernungen Miete neben Miete, so regelrecht gebaut, gut gedeckt und glatt abgeharkt, daß es eine Freude für ein richtiges Landmannsauge war. An einer hatte man eben noch gearbeitet, ohne jede Aufsicht, wie es Gerhard geschienen, aber emsiger und stiller, als man in Kantzow pflegte; und die zuführenden Wagen waren mit Pferden bespannt gewesen, die das Lieblingstempo des Herrn Klempe besser ausgehalten hätten, wie die Kantzower abgetriebenen Gäule, und sich trotzdem nur in einem mäßigen Trabe bewegten.

Gerhard hatte Zeit, diese Beobachtungen und Betrachtungen zu machen und anzustellen, während er im dichten Schatten der Linden der Rückkehr eines Knechtes harrte, der gegangen war, Vadder Deep herbeizuholen, welchen er noch vor einer halben Stunde in der Scheune bei dem Rapsreinigen gesehen haben wollte. Der Mann ließ lange auf sich warten, und Gerhard begann schon so ungeduldig zu werden, wie sein armer Brauner, dem die Fliegen gar arg zusetzten, als in die offene Haustür ein Mädchen trat, dessen Erscheinung sein Interesse sofort auf das lebhafteste in Anspruch nahm. Es konnte nur Anna Garloff sein, die Tochter des Försters in der Schwanheide und Herrn Klempes verlobte Braut.


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