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»Ich begreife nicht«, sagte Anton, »woher du an einem solchen Tage den Mut nimmst?«
»Der Tag an und für sich ist nicht schön«, erwiderte Gerhard.
»Für sich?« rief Anton; »ja für wen denn? für mich ganz gewiß nicht! ich habe einen so kolossalen Kater, daß selbst die Sintflut heute ihn nicht ersäufen könnte! Herr des Himmels, wie das gießt! ich glaube, die Welt geht unter! Und das nennst du bloß: nicht schön! höre, du! ich glaube, du hast dreifaches Erz um die Brust!«
»Leider nicht«, erwiderte Gerhard lachend; »oder ich würde nicht bis auf die Haut durchnäßt sein. Entschuldige!«
Sie befanden sich auf Gerhards Zimmer. Gerhard war soeben von einem Ritte nach Hause gekommen, den er durch die Felder gemacht, um sich von dem Stande der Dinge draußen zu überzeugen. Es hatte dort freilich bös ausgesehen. Der Sturm der Nacht und der Regen, der jetzt – um zehn Uhr morgens – noch immer in Strömen herabgoß, hatten große Flächen in den Hafer- und Gerstenbreiten niedergelegt; an das Einfahren des Weizens, den man seit einigen Tagen zu schneiden begonnen, war nicht zu denken. Die Hocken, die zum größten Teile nur noch formlose Haufen waren, mußten wieder aufgerichtet werden – es sah bös, sehr bös aus; aber ein paar Stunden Sommersonne würden, wenn nicht alles, so doch das meiste wieder gutmachen.
»Ich glaube, die Sonne scheint nimmer wieder«, sagte Anton.
Gerhard hatte sich umgezogen und trat zu dem Freunde, der, am Fenster stehend, in den Park blickte, dessen Bäume und Büsche Wind und Regen zerzausten.
»Dich drückt noch mehr, als der Katzenjammer und Regentag«, sagte er.
»Freilich«, erwiderte Anton, »obgleich's wahrhaftig an einem von beiden genug wäre.«
»Dann also heraus damit! ich will es wissen, und ich muß es wissen; soviel ich sehe, bin ich der einzige von euch allen, der den Kopf oben hat.«
»Wozu nicht viel gehört; wir anderen lassen ihn verzweifelt tief hängen; und leider keiner mehr, als –«
»Herr Zempin – ich weiß es.«
»Nun eben! Du hast es ja schon vorgestern gesagt – oder war es vor zwei Jahren? mir geht es wie ein Dutzend Mühlräder im Kopfe herum.«
»Trink ein Glas Wein, um ein wenig Klarheit hineinzubringen! Da ist welcher! Frau Zempin hat ihn heraufgeschickt, als ich nach Hause kam. Sie stand am Fenster – sie ist die Aufmerksamkeit selbst.«
»Ja, ja«, sagte Anton – »Gott, wie das heute schmeckt – wie Tinte! und es ist unser bester Larose! – ja, ja! die arme Frau, ich fürchte, wir haben ihr manchmal zuviel getan.«
»Ich erinnere mich nicht, daß du jemals schlecht über sie gesprochen hättest.«
»Habe ich auch nicht! weshalb sollte ich! ist sie doch immer gut gegen mich gewesen! ist doch ihr einziger Fehler, daß sie zu gut gegen alle Menschen ist!«
»In den Augen eines eifersüchtigen Ehemannes leider ein sehr schlimmer.«
»Gerade davon wollte ich sprechen. Weshalb ist Zempin eifersüchtig? Sie kokettiert ein bißchen mit aller Welt – dann hätte er sie nicht heiraten sollen; so ist sie schon als Mädchen gewesen – ganz Grünwald kannte die schöne Julie Semlow – du weißt, daß sie bei ihrer verwitweten Schwester lebte – bei dem alten Sünder in Swinhöft kann's ja kein Pferd aushalten, geschweige denn ein schönes Mädchen. Damals sagte er – Zempin nämlich: das eben reize ihn. Ich glaub's schon; dann sollte er ihr aber auch jetzt ein bißchen Freiheit lassen und nicht bei jeder Kleinigkeit aus der Haut fahren und einen Höllenlärm anschlagen, wie gestern abend.«
»Gestern abend?«
»Oder heute nacht, als wir nach Hause kamen. Frau Julie war schon gleich im Anfang fort, weißt du – oder vielmehr: du weißt es wohl nicht, mit Spatzing und Bagdorf. Na, das war doch ganz natürlich, da Bagdorf Pastors in seinen Wagen gepackt hatte; er hätte freilich mit denen fahren können; aber es ging alles drunter und drüber. Genug, als wir hier ankamen, war Bagdorf noch da und wartete auf seinen Wagen, den Pastors hernach von Zarnewitz hierher schicken sollten. Nun muß ich bemerken: Zempin war schon unterwegs ganz rabiat; er donnerte gegen alles und alle: gegen Hinrichs, Sallentin, seinen Bruder, den Förster, seine Frau, Bagdorf – du kriegtest auch dein Teil.«
»Was hatte ich getan?«
»Nichts, das war's eben. Du hättest dich so gut wie gar nicht um ihn bekümmert; hättest in dem Streite zwischen ihm und dem Förster offenbar des Försters Partei genommen; wärst die Veranlassung, daß Lindblad und Benz nicht wieder mitgekommen, sondern mit Sallentins gefahren sind; sie wollten sich von dir nicht länger wie Schuljungen behandeln lassen – haben sie gesagt.«
»Er sollte froh sein, daß er die Schmarotzer endlich los ist. Was hatten die beiden hier in Kantzow wochenlang auf der Bärenhaut zu liegen? Die unbegreifliche Langmut, mit der er das ertrug, würde wahrhaftig den Bruch zwischen ihm und Sallentin schließlich nicht verhindert haben.«
»Nur daß der Bruch so vielleicht ein paar Tage früher kommt.«
»Was denn offenbar ganz gleichgültig ist.«
»Ihm schien es nicht so – doch das nebenbei. Und dann hattest du noch ein Verbrechen begangen! Du hattest zu lange neben Frau Julie gesessen und dich zu gut mit ihr unterhalten.«
»Zempin sollte sich schämen.«
»Tut er vielleicht auch, verhindert ihn aber nicht, sich in Eifersuchtsqualen zu winden wie Laokoon in den Schlangen. Gelt, Alter, das Bild war gut, sehr gut! in meinem Kopfe fängt es wieder an, heller zu werden – das macht die Unterhaltung mit dir und der Rotspon.«
Anton tat einen tiefen Zug und schüttelte sich – der Larose mochte doch noch ein wenig wie Tinte schmecken. Gerhard, der nachdenklich auf und nieder ging, blieb stehen:
»Aber wenn ich der Sünder bin, so kann es nicht auch Bagdorf sein?«
»Warum nicht?« erwiderte Anton, »bei einem Othello ist alles möglich, und wenn die Abwesenden freilich unrecht haben, so bleiben die Anwesenden deshalb nicht ungehudelt. Nun war aber Bagdorf anwesend und mußte das Bad bezahlen. Nicht, daß von der Hauptsache die Rede gewesen wäre – Gott bewahre! Diese Herren haben immer gegeneinander etwas auf dem Kerbholze, wenn sie einander durchaus Bosheiten und Grobheiten sagen müssen: eine Partie Boston, die sie im vergangenen Winter gespielt – ein Pferd, über das sie vor Olims Zeiten geschachert. Das leidige Hauptthema ist jedenfalls erst zwischen ihm und seiner Frau abgehandelt, nachdem Bagdorf sich verabschiedet hatte mit der Versicherung, daß er unser Haus zum letztenmal betreten. Der dritte Abtrünnige an einem Abend! Und nun muß der unglückselige Klempe seinen Quartalrausch gerade jetzt haben!«
»Aber der Mensch war ja schon gestern morgen unzurechnungsfähig, und ich denke, er fährt in diesem Stadium jedesmal in die Stadt und kommt nach ein paar Tagen nüchtern wieder, wenn er überhaupt je nüchtern ist.«
»Ganz recht! Nur berichtete Johann Schnut, der ihn nach Grünwald gefahren – übrigens sein richtiger Kumpan, der Schnut! – er sei diesmal besonders wild gewesen und habe sich heilig und teuer verschworen, daß er nicht wiederkommen wolle.«
»Als ob solchem Gesellen etwas heilig und teuer wäre, außer der Schnaps! Und den darf er ja hier so viel trinken, wie er will.«
Anton seufzte und bewegte den schweren Kopf langsam hin und her.
»Es ist ein schreckliches Laster – ein ganz entsetzliches Laster; der Himmel bewahre einen in Gnade davor! Die Menschen werden hier noch alle daran zugrunde gehen – ich habe es immer gesagt. Selbst Zempin, der sonst in dieser Beziehung wirklich eine rühmliche Ausnahme macht, hatte gestern abend einen fürchterlichen Hieb. Über Johann Schnuts Nachricht – ich glaube, der verschmitzte Kerl hat es eigens darauf angelegt – weshalb wäre er sonst noch so spät mit der Meldung gekommen? – wurde er wirklich wie toll. Es mußte sofort wieder angespannt werden, und eine Viertelstunde darauf war er fort; und wenn ich ihn nicht speziell daran erinnert hätte, dir den Zettel zu schreiben, in dem er dich bittet, während seiner Abwesenheit die Wirtschaft zu führen – er hätte alles hier stehen und liegen lassen, wie es war.«
»Er hat nicht gesagt, wie lange er wegbleiben will?«
»Keine Idee.«
»Und du glaubst wirklich, es handelt sich für ihn diesmal darum, den Klempe wieder herbeizuschaffen?«
»Es hat ganz auf mich den Eindruck gemacht. Ich habe auch eine dunkle Erinnerung – mein Perzeptionsvermögen war gestern abend leider etwas geschwächt – daß er wiederholt sagte: der Schurke – es kann auch der Schuft gewesen sein – muß zurück, und sollte ich ihn – ich weiß wirklich nicht mehr was – etwas Angenehmes für den auf die besagte Weise Zurücktransportierten war es sicherlich nicht.«
»Das klingt in der Tat befremdend; wenigstens ist mir diese Anhänglichkeit an den liederlichen Menschen unbegreiflich.«
»Die Anhänglichkeit mag so groß nicht sein, als die Notwendigkeit, ihn bei guter Laune zu erhalten, von wegen – wegen – jemand in Retzow.«
»Vadder Deep?«
»Ach was, Vadder Deep! wegen der Anna!«
Gerhard hatte sich schnell von dem Fenster, wo er das Wetter beobachtete, umgewandt; die beiden Freunde blickten einander starr in die Augen.
»Das wäre furchtbar, Anton!«
»Nicht wahr? ich habe mich auch immer gesträubt, es zu glauben, obgleich mir Salchen schon seit acht Tagen damit in den Ohren liegt – diese Weiber sind ja wie versessen, wenn es gilt, eine hübsche Dirn um Ehre und Ruf zu bringen. Aber leugnen läßt sich nicht, daß so manches klar wird, was vorher dunkel war; vor allem die doch sonst ganz tolle Idee, den vertrunkenen Schlingel als Pächter nach Retzow zu bringen, auf die Gefahr, den alten Sallentin damit furchtbar vor den dicken Kopf zu stoßen, von meiner Wenigkeit – das heißt von Salchen, der er entschieden auch Versprechungen gemacht hat, ganz zu schweigen.«
»Und so schweige denn!« rief Gerhard heftig; »schweige von einem Handel, der so abscheulich wäre – nein, nein! Dies kann nicht sein! Zempin ist in meinen Augen nicht mehr, wofür ich ihn anfänglich gehalten; aber das lasse ich auf den Mann nicht kommen, und du, sein Freund –«
Gerhard war zu erregt, um weitersprechen zu können; Anton kraulte sich verlegen hinter den großen Ohren.
»Ja, ja«, sagte er, »ich bin sein Freund, obgleich er mich, unter uns, manchmal miserabel behandelt; und die Freundschaft ist ja auch soweit ein gutes Ding, aber ein Regenrock, den anderen auf jeden Fall trocken, oder ein Schwimmgürtel, ihn über Wasser zu halten, das ist sie denn doch nicht. Und unser Freund hat eine absonderliche Neigung, ins Wasser zu gehen, wo es am tiefsten ist; und dabei, zu seinem Unglücke, an einem verteufelt schweren Erdenreste zu tragen. Na, andere machen's nicht besser oder nicht viel besser, es ist einmal des Landes der Brauch, den sie von der mittelalterlichen Barbarei, in der sie noch mit dem halben Leibe stecken, treu bewahrt haben. Väterlich-patriarchalisches Regiment, weißt du! mit besonderem Akzent auf das erste Epitheton. Und Zempin hat, wenn nicht die Entschuldigung, so doch den leidigen Vorzug, ein verzweifelt schöner Kerl zu sein.«
»Ich will davon nichts weiter hören!« rief Gerhard.
»Wollte Gott, daß wir alle davon nichts weiter zu hören bekommen«, sagte Anton.
So sehr Gerhard sich bemühte, er vermochte nicht, den abscheulichen Gedanken loszuwerden. Ja, er bohrte sich nur tiefer in seine Seele, während er jetzt, Anton, der halb eingeschlafen im Sofa saß, von Zeit zu Zeit einen finsteren Blick zuwerfend, im Zimmer auf und ab schritt. Das seltsame Betragen, die tiefe Schwermut des armen Mädchens, ihr sehnlicher Wunsch, aus dieser Gegend fortzukommen; die auch für einen so rohen Menschen, wie der Klempe, unbegreifliche Leichtfertigkeit, mit welcher derselbe wiederholt von seiner Braut gesprochen; Zempins nicht minder unbegreifliche Nachsicht mit dem Trunkenbolde; seine bei verschiedenen Gelegenheiten geäußerte Scheu vor dem Förster – die Szene gestern abend – großer Gott! welche fürchterliche Bedeutung gewann diese Szene, wenn der Förster wußte, daß Zempin der Verführer seiner Tochter sei, und er den Mann vor der Spitze seines Hirschfängers gehabt hatte!
Der Regen schlug mit Gewalt gegen die klappernden Fenster – Anton fuhr aus seinem Halbschlafe auf:
»Die Welt geht unter«, sagte er.
»Und weiß denn Frau Zempin davon?«
»Wovon?« sagte Anton.
Es wurde an die Tür gepocht, und Spatzing kam hereingehüpft.
Aber nicht weit, dann ließ er sich auf den nächsten Stuhl fallen und sagte: »Ich bitte um Verzeihung, Herr Baron; aber mir ist es in die Glieder gefahren, wenn ich sehe, daß Stude schon wieder trinken kann.
»Similia similibus«, sagte Anton, das Glas, an dem er kaum genippt hatte, schaudernd auf den Tisch setzend.
»Nur für Kandidaten der Theologie«, sagte Spatzing; »Künstler sterben daran. Oh, der zartbesaiteten Künstlerseelen!«
»Und der jämmerlichen Künstlermagen«, sagte Anton.
»Könnten jene so zartbesaitet sein, wenn diese weniger jämmerlich wären?« sagte Spatzing. – »Nur aus dem verbrennenden, in Asche zusammensinkenden Körper schwingt sich der Phönix des Genius in den lichten Äther der Kunstgefilde.«
»Dann wird ihr Genius wohl bald die Reise machen«, sagte Anton; »was überhaupt von Körper an Ihnen ist, sieht heute sehr bös verbrannt und zusammengesunken aus.«
»Sie haben das große Wort gesagt«, erwiderte Spatzing; »ja, ich werde reisen – bald, so bald als möglich. Dieser Nebel drückt mich nieder, ich muß die Sonne wiedersehen. Oh, wie beneide ich Ihren Bruder, Herr Baron! um das Plätschern der Fontana di Trevi, um das Säuseln der Kastanien und immergrünen Eichen im Garten der Villa Albani.«
»Mein Bruder ist seit einer Woche bereits wieder in München«, sagte Gerhard.
»Großer Gott – zu welchem Zwecke?«
»Um zu arbeiten, vermute ich.«
Spatzing wiegte das lockige Haupt und seufzte:
»Arbeiten! Wie sagt Conti? oder ist es der Prinz? – ich kann das nie behalten: Arbeiten? das ist seine Lust; nur zu viel arbeiten kann ihn um den Namen Künstler bringen.«
»Na, Spatzing«, sagte Anton – »dann haben Sie sich hier nicht um den Namen gebracht.«
»Weil ich zu wenig gearbeitet, meinen Sie? Nun weiß ich wieder nicht, sagt es der Prinz oder Conti: ›Ein Weniges, aber mit Fleiß!‹ – Daß ich fleißig gewesen, fleißig habe sein wollen – Apollo ist mein Zeuge; aber was hilft aller Fleiß des Künstlers, wenn das schöne Modell fortwährend vor ihm flieht, wie Danae vor dem Gotte.«
»Daphne«, sagte Anton.
»Danae oder Daphne – der Effekt bleibt derselbe.«
»Ich müßte lügen, wenn ich behaupten wollte, Ihr Bild von Frau Julie habe bis jetzt auch nur den mindesten Effekt auf mich gemacht.«
»Retten Sie mich vor diesem erbarmungslosen Spötter, Herr Baron!« rief Spatzing kläglich.
Gerhard hatte bereits die Mütze in den Händen, im Begriffe, den beiden Schwätzern das Feld zu räumen, als wiederum gepocht wurde. Frau Zempin bitte die Herren zum Frühstück, meldete das Mädchen, und der Herr Baron möge entschuldigen, daß es so lange gedauert; es sei heute alles ein bißchen aus der Ordnung.
Gern wäre Gerhard gerade jetzt einer Begegnung mit Julie ausgewichen, aber eine passende Entschuldigung fiel ihm nicht sogleich ein, und er wußte, daß jede Entschuldigung Julie kränken würde. Er fühlte, daß er nicht das Herz habe, sie gerade jetzt zu kränken.
Unten in dem Speisezimmer, das heute mit dem zusammengeschobenen Tische, auf dem nur fünf Kuverts lagen, einen befremdlichen Eindruck machte, empfing Julie die Herren, indem sie Anton und Spatzing freundlich zunickte, während sie Gerhard die beiden kleinen Hände zugleich reichte.
»Sie haben schon seit dem frühesten Morgen Wind und Wetter getrotzt«, rief sie, »für uns, die Faulenzer und Langschläfer, wenn ich auch freilich wenig oder gar nicht geschlafen habe!«
In der Tat sah die hübsche Frau trotz des Lächelns auf ihren Lippen müde und abgespannt aus. Ihre für gewöhnlich von frischer, kräftiger Farbe überhauchten Wangen waren blaß; die sonst immer so munteren Augen blickten matt und hatten tiefe, dunkle Ringe. Den Ausdruck des Ernstes, den ihre ganze Erscheinung gewährte, erhöhte ein schwarzes, bis an den schneeweißen Hals geschlossenes Seidenkleid; den Schal, den sie trotzdem fest um die Schultern geschlungen trug, hatte sie wohl nur aus Gewohnheit hinzugefügt, oder um der heute allerdings empfindlichen Kühle zu wehren.
Sie bat nochmals um Entschuldigung wegen der Verspätung des Frühstücks, und wenn der Tisch ein so buntscheckiges Aussehen habe. Salchen sei in den Wald gefahren, um womöglich noch etwas von dem Geschirre zu retten; unterdessen habe sie zusammensuchen lassen, was man in der Küche und in den Schränken gestern als allzu schlecht oder als allzu gut zurückgelassen.
»Was kommt am Ende darauf an«, sagte sie; – »die Hauptsache ist und bleibt, daß man sich unter Freunden weiß. Wenn der gestrige Tag kein Glückstag zu nennen ist – das Gute muß ich ihm nachrühmen: er hat mich gelehrt, wie wenig man sich auf seine sogenannten Freunde verlassen kann, und wie wenig wirkliche Freunde man hat.«
Sie blickte bei diesen Worten Gerhard an und wandte auch sonst ihre Rede fast ausschließlich an ihn. Unter anderen Umständen würde er kaum darauf geachtet und am allerwenigsten der hübschen Frau Dank für eine Bevorzugung gewußt haben, an deren Aufrichtigkeit er nie geglaubt – heute sah er ihr ganzes Wesen in einem anderen Lichte. Hatte er sie doch bis dahin stets für das rechte Schoßkind des Glückes gehalten und ihre Launen im besten Falle für Glücksübermut. Aber zu welchen Extravaganzen kann eine lebhafte, lebensfrohe Frau nicht das Bewußtsein eines Unglücks treiben, unter dem sie hilflos leidet? Und wenn Antons Verdacht sich bestätigen sollte, wenn sie selbst diesen Verdacht teilte – und es fielen ihm jetzt jene Worte schwer auf die Seele, die sie vor wenigen Tagen erst über die brutale Tyrannei schuldbefleckter Gatten zu ihm gesprochen – was mochte diese Frau schon gelitten haben! was mochte sie in diesem Augenblicke leiden!
Die sich nur mühsam fortspinnende Unterhaltung gewann durch Salchens Eintreten neuen, freilich nicht eben erfreulichen Stoff. Salchen – wie sie Anton beständig nannte – die übrigen riefen sie Saling – war eben von den Hünengräbern zurückgekommen mit einem Wagen voll Scherben. Was etwa noch gut und heil geblieben, hätten Frau Sallentin und Frau Stut an sich gerissen, die, jede mit einem Wagen, eine halbe Stunde vor ihr auf dem Platze gewesen, unter dem Vorgeben, daß es ihr Geschirr sei. Sie habe ganz deutlich gesehen, daß die große Suppenterrine mit dem blauen Muster auf Frau Sallentins Wagen gestanden, und es Frau Sallentin auf den Kopf zugesagt; aber Frau Stut habe schnell ein Laken darüber gedeckt, und die beiden Damen seien natürlich der armen Haushälterin über gewesen. Von den giftigen Reden, die Frau Sallentin gegen alle geführt, die zu Kantzow gehörten, wolle sie lieber schweigen, und die Kosenower hätten ebenfalls ihr Teil bekommen, und Frau Stut habe gesagt, so etwas, daß sich zwei Brüder vor einer ganzen großen Gesellschaft in die Haare gerieten, kenne sie gar nicht, und –
»Du wolltest uns ja mit dem allen verschonen«, sagte Julie; »so tue es nun auch!«
Die Redselige schwieg, und während sie, beleidigt, das Rührei verzehrte, das ihr Julie selbst aufgefüllt, betrachtete sie Gerhard zum ersten Male genau. Bis jetzt hatte er über die Dame möglichst weggesehen und war ihr ausgewichen, soweit es die allgemeine Höflichkeit zuließ. Ihre Erscheinung und ihr Wesen waren ihm vom ersten Moment an unsympathisch gewesen: er hielt die kohlschwarzen Locken, mit denen sie sich, ganz gegen die Sitte des Landes und die Mode der Zeit, den Nacken und sogar die Stirn umkräuselte, für ebensowenig echt, als die zwei Reihen blendend weißer Zähne, welche sie fortwährend zeigte, und die große Freundlichkeit und Gefälligkeit, die sie gegen jeden einzelnen in der Gesellschaft bewies. Er hatte sie ein paarmal im Vorübergehen sich mit den Mägden in der Küche oder dem Milchhofe in gemeiner Weise zanken hören; und wenn sie ihm noch ganz besonders wohlzuwollen schien und umsichtig und unermüdlich für seine geringen Bedürfnisse sorgte und sich wiederholt beklagte, daß sie für einen so guten, so freundlichen Herrn so gar wenig tun könne, durfte er wohl mit Recht die Quelle dieser Zärtlichkeit in dem Wunsche der Dame entdecken, den Freund ihres wankelmütigen Anton sich zum Freunde zu machen. Anton hatte ihn mehr als einmal gebeten, und wäre es auch nur um seinetwillen, der es doch schließlich büßen müsse, der einflußreichen Person eine etwas größere Aufmerksamkeit zu schenken. Gerhard hatte sich nicht überwinden können, und gar heute morgen fand er seine Abneigung völlig gerechtfertigt. Er dachte mit Schaudern an das Unheil, das die Schwatzhafte, die der armen Anna Garloff trauriges Geheimnis durchschaut haben wollte, in der Folge anrichten könne, vielleicht schon angerichtet hatte. Juliens ganz auffallende Blässe und Zerstreutheit schien einen tieferen Grund zu haben, als der Streit mit ihrem Gatten wegen Bagdorf. Daß es hier zu einer Katastrophe kommen würde, hatte sie seit Tagen voraussehen müssen und, wie er ihre neulichen Worte jetzt auslegte, vorausgesehen. Ja, Gerhard fragte sich, ob er der jungen Frau nicht auch in diesem Punkte schweres Unrecht getan? ob nicht ihr einziges Unrecht, wie Anton meinte, darin bestehe, daß sie zu gut gegen alle Menschen war, oder, wie sie sich ausdrückte, nur glückliche Gesichter um sich sehen könne. Mit welcher Liebenswürdigkeit nahm sie sich Spatzings an, der heute von Anton die schlimmsten Dinge über sein verunglücktes Porträt zu hören bekam! wie gütig suchte sie Salchens böse Laune zu beschwichtigen! wie teilnehmend erkundigte sie sich nach Edith und dem Schwager in Kosenow, und ob Gerhard nicht im Laufe des Tages selbst herüberfahren werde – von Reiten sei keine Rede. Wenn Gerhard auch heute unumschränkter Herr sei, so sei er doch ein viel zu galanter Mann, als daß er sich den Befehlen einer Dame nicht fügen sollte.
Das Geräusch eines schnell über den Hof heranrollenden Wagens machte alle nach dem Fenster blicken. Gerhard glaubte zu bemerken, daß Julie noch blässer wurde und mit Salchen schnelle und erstaunte oder erschrockene Blicke wechselte. Aber Spatzing, der an das Fenster gestürzt war, rief: es sei nicht Herr Zempin; und fast in demselben Moment hörte man den Wagen vor der Haustür anhalten. Anton, der in gewohnter Weise gegangen war, den unverhofften Besuch zu empfangen, kam wieder herein: es sei der Graf, der anfrage, ob er Gerhard seinen Besuch machen dürfe.
»Bitte, in den Salon, bitte, bitte!« rief Julie. – »Mir zuliebe!«
Der Salon lag dem Speisezimmer gegenüber auf der anderen Seite des Flurs; und dorthin führte Gerhard den Grafen, der bereits ausgestiegen war und ihm in der Haustür entgegenkam.