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Als Gerhard in das Zimmer zurückkehrte, traf er in der Tür mit einem großen, behäbigen, langsam sich bewegenden und langsam mit breiter, überlauter Stimme redenden Herrn zusammen, der ihm von Zempin, der ihn in Empfang genommen, als Herr Advokat Zinker vorgestellt wurde.
»Na«, sagte Herr Zinker, sich im Zimmer umsehend, während er sich den Regenrock auszog und den Wollschal abband, »das ist ja eine große Gesellschaft. Ich möchte nur wissen, wozu die alle gekommen sind; ich wäre nicht gekommen, wenn ich nicht noch in Teschen mit dem Herrn Grafen zu tun hätte.«
»Sie schrieben mir das bereits«, sagte Herr Zempin leise.
»Sie hätten ruhig zu Hause bleiben können; die ganze Gesellschaft hätte zu Hause bleiben können«, sagte Herr Zinker, ohne seine Stimme zu mäßigen. »Platt und Lüttmann kommen nicht. Sie haben noch herumgeschickt, als ich eben fortfahren wollte. Und ohne Platt und Lüttmann weiß ich wirklich nicht, wozu wir uns die Mühe machen.«
»Die anderen Herren haben doch dasselbe Interesse und dasselbe Recht, sich über meine Angelegenheiten zu informieren«, sagte Herr Zempin mit einer höflichen Handbewegung nach seinen übrigen Gästen, die zum größten Teil herangetreten waren.
»So?« sagte Herr Zinker; »Sie werden ja sehen – na, dann kann die Geschichte losgehen; ich denke, daß wir nicht lange Zeit brauchen.«
Er hatte sich nach dem oberen Ende der Tafel begeben und mit der Rückseite der Hand einige Teller und Gläser weggestreift, die dann Vadder Deep, der ihm gefolgt war, zusammenstellte und vollends abräumte.
»Sie könnten mir ein Glas Grog machen lassen, Vadder Deep«, sagte Herr Zinker; »Rotspon tut's heute morgen nicht; von Kognak, Vadder Deep, halb und halb! So, meine Herren, nun können wir meinetwegen anfangen.«
Herr Zinker hatte einen Packen Papiere neben sich hingelegt, in denen er zu wühlen begann, während die Herren an der halb abgedeckten Tafel ihre Plätze wieder aufsuchten. Herr Sallentin war noch immer mit dem Spickaal nicht fertig; vor ihm stand eine Schüssel mit den Johannis- und Stachelbeeren, die Anna eben gepflückt. Herr Sallentin befühlte, während er mit der Rechten einen Bissen zum Munde führte, mit der Linken eine und die andere Beere und schien, nach seinem Kopfschütteln zu urteilen, mit dem Resultat nicht zufrieden.
»Meine Herren«, sagte Herr Zinker, mit einem Messer an die nächste Flasche klopfend.
»Meine Herren! Sie haben heute sehr viel Zeit; ich habe leider gar keine. Sie müssen deshalb entschuldigen, wenn ich mich möglichst kurz fasse und Herrn Bollmann da unten bitte, etwas weniger laut mit Herrn Stut zu sprechen, damit ich nicht so zu schreien brauche – ich bin bei dem Hundewetter schon heiser genug. – Meine Herren! – stellen Sie es man hierher, Vadder Deep! – Sie haben doch gesagt: halb und halb? – ein bißchen Zucker mehr hätte nicht schaden können! – Meine Herren! Herr Zempin-Kantzow hat mich gebeten, einer freundschaftlichen Zusammenkunft zwischen ihm und seinen Gläubigern, behufs genauerer Feststellung des Standes seines Vermögens und Proposition, respektive Entgegennahme von Vorschlägen zu einem eventuellen Arrangement seiner Angelegenheiten – ja, meine Herren, entweder ist dies eine Zusammenkunft von Menschen oder von Hunden – wenn das erstere, wie ich annehme, der Fall, muß ich Herrn Hinrichs dringend bitten, seinen Ponto, der mir hier fortwährend zwischen den Beinen herumkriecht, bei sich zu behalten – wo war ich stehen geblieben? ja so! – zu präsidieren. Ich eröffne hiermit die Versammlung; und indem ich wohl mit Recht annehme, daß Sie über den Stand der Aktiva des Gemeinschuldners wenigstens annähernd unterrichtet sind, wollen wir gleich zur Aufstellung der Passiva übergehen. Ich habe hier eine alphabetische Liste nach den Angaben des Herrn Zempin angefertigt, von der ich nicht schwören möchte, daß sie vollständig ist, und von der ich überdies nur insoweit Gebrauch machen werde, als ich die hier aufgeführten Herren nach Kategorien – was Kategorien heißt? Kategorien heißt: Klassen, Herr Bank; – aber, meine Herren, das muß ich denn doch befürworten: wenn Sie mich fortwährend unterbrechen wollen, werden wir vor morgen früh nicht fertig, und ich habe allerhöchstens eine Stunde Zeit – also: nach Kategorien eingeteilt habe. Und da wollen wir denn mit den Rechnungsschuldnern anfangen, wobei ich aber bemerke, daß ich nur diejenigen Forderungen zulassen kann, bei denen periculum in mora, das heißt, Herr Bank – denn ich sehe Ihnen an, daß Sie wieder fragen wollen, gegen die, wenn sich nicht jetzt oder binnen kurzem bezahlt werden, später der Einwand der Verjährung erhoben werden könnte. Na, und da können wir ja gleich mit Ihnen anfangen, Herr Bank, damit Ihre liebe Seele Ruhe bekommt.«
Herr Bank, ein kleiner, kahlköpfiger, zappliger Mann, den Gerhard anfangs nicht bemerkt hatte, war ein Viktualien- und Kolonialwarenhändler aus Gartendamm. Seine Rechnung lief eine ganze Reihe von Jahren und war von einem sehr bedeutenden Betrage. Ihm folgte ein Herr Möller aus Grünwald mit einer Forderung von mehreren tausend Talern für gelieferte Weine; diesem der akademische und Handelsgärtner Herr Hahn, ebenfalls aus Grünwald, dessen spezifizierte, seit vielen Jahren laufende Rechnung mehrere Foliobogen füllte und mit der Araukaria, als letztem Item, und einer Hauptsumme schloß, deren Höhe Herrn Zinker zu der Bemerkung veranlaßte, es werde sich bei näherem Zusehen hoffentlich herausstellen, daß einige von den gelieferten Pflanzen stark in Samen geschossen seien, worauf Herr Hahn erklärte, er sei nicht hierher gekommen, um sich beleidigen zu lassen, und sich kaum durch Herrn Zempins Versicherung beruhigen ließ, daß er die Rechnung ohne jede Prüfung gutheiße und keine lieber bezahlen werde, als gerade diese.
Herr Zempin sagte es in seiner höflichsten Weise, wie er sich denn überhaupt bemühte, durch ruhige, würdevolle Haltung den saloppen, ja possenhaften Ton abzuschwächen, in dem Herr Zinker die Verhandlungen führte, und der von der Gesellschaft mit wenigen Ausnahmen nur zu willig aufgenommen und unterstützt wurde. Besonders zeichnete sich in dieser Beziehung Herr Hinrichs aus, so daß Gerhard es nicht länger mit ansehen und anhören konnte. Er nahm den bereits wieder mehr als halb Trunkenen beiseite und erklärte ihm, daß er, als Hausgenosse und Freund Herrn Zempins, ein solches Benehmen keinen Augenblick länger dulden werde; und er hatte die Genugtuung, fast gegen seine Erwartung, den schlimmsten Störenfried zum Schweigen gebracht zu haben, trotzdem er, so laut, daß jedermann es hören konnte, hinter ihm her gerufen: er werde tun, was ihm gefiele und sich durch keinen Baron der Welt darin beirren lassen.
Die tätige Teilnahme, zu der ihn die Gegner herausforderten, hatte Gerhards Herz wieder dem Freunde zugewendet, mehr, als er es nach den Erlebnissen der letzten Tage und nun gar nach der Szene eben mit dem unglücklichen Mädchen im Garten für möglich gehalten. Aber auch wohl ohne das hätte er dem Manne in diesem Augenblicke sein Mitleid nicht versagen können. Er hatte zweifellos durch seinen Leichtsinn sich selbst das Gericht, das jetzt über ihn erging, bereitet; aber war es deshalb weniger fürchterlich? trafen die Vorwürfe, mit welchen dieser Gläubiger seine Forderungen begleiten zu müssen glaubte, weniger hart? schnitten die höhnischen Glossen jenes anderen weniger tief? war es nicht eine grauenhafte Demütigung für den stolzen Mann, dies alles in seinem eigenen Hause, an seiner eigenen Tafel erdulden zu müssen von seinen Freunden und Nachbarn, die redlich geholfen hatten, den großherzigen Verschwender in eben diese Lage zu bringen? Fürwahr: diese Stunde durfte als Buße und Entgelt gerechnet werden für so manches, was der Mann gesündigt haben mochte!
Die Verhandlung nahm trotz aller Unterbrechungen und Störungen ihren Fortgang; man war bis zu den Schuldverschreibungen und Wechselschulden gelangt; die Herren Fischer und Suhr hatten eben erklärt, daß sie mit ihren Forderungen nur in dem Falle vorgehen würden, falls von den anderen Gläubigern ein wirklicher Konkurs beschlossen werden sollte, als Herr Zinker, nachdem er einige Minuten in seinen Papieren gekramt, Herrn Suhr unterbrechend und zum Überfluß wieder einmal an die Flasche klopfend, sagte:
»Die Sache ist nämlich die, meine Herren, daß von anderen Gläubigern seit gestern eigentlich nicht mehr die Rede sein kann, weil die Herren Platt und Lüttmann, die, wie Sie wissen, mit zirka zwanzigtausend Talern für sich partizipieren, außerdem aus Gründen, die ich nicht kenne und die mich auch nichts angehen, alle übrigen, mir bis jetzt bekannten Forderungen infolge von gestern auf meinem Bureau abgeschlossenen Verträgen an sich gebracht haben: namentlich die Schuldverschreibungen im Besitze der Herren Sallentin, Hinrichs, Bollmann und Stut, im Gesamtbetrage von zweiundzwanzigtausendfünfhundert Talern. Dazu kommen die Restkaufgelder der Büdnereien im Betrage von dreißigtausend, die Herr Zempin schon seit fünf Jahren bei Platt und Lüttmann verpfändet hatte, nebst den aufsummierten Zinsen; dazu – na, was ist denn das?« – Herr Zinker, der fortwährend in seinen Papieren gekramt, hatte einen größeren Brief in die Hände bekommen, den er vorher nicht beachtet haben mußte. Wenigstens besah er denselben nach allen Seiten, ehe er ihn erbrach, indem er dabei einige unverständliche Worte murmelte. Die Nachricht, daß Platt und Lüttmann eine Reihe der wichtigsten Posten aus völlig unbekannten, ja unerfindlichen Gründen aufgekauft, war für den bei weitem größeren Teil der Gesellschaft so überraschend gewesen, daß in dem Moment, als Herr Zinker jenen großen Brief fand und erbrach, um den ganzen Tisch herum tiefes Schweigen entstanden war, während aller Blicke an Herrn Zinker hingen, erwartend, daß der, wenn er die Lektüre des Briefes beendet, die unterbrochene Aufzählung fortsetzen werde.
Aber Herr Zinker schien mit dem Briefe nicht fertig werden zu können. Er las ihn ein-, zweimal durch – drehte ihn um, besah die Adresse, rieb sich die Augen, las zum dritten Male und ließ die Hand, worin er den Brief hielt, langsam auf den Tisch sinken, murmelnd:
»Na, das ist denn doch gerade, als ob man eins mit der Axt vor den Kopf kriegte.«
Das Staunen, der Schrecken, die sich auf dem Gesichte des Mannes ausprägten, waren so intensiv, daß für den Moment niemand zu fragen wagte. Gerhard blickte Herrn Zempin an, neben dem er saß; Herr Zempin zuckte die Achseln und sagte:
»Nun, Herr Advokat, Sie sehen, wir sind sehr gespannt.«
»Vadder Deep!« rief Herr Zinker, plötzlich aus seiner Betäubung aufwachend, überlaut: »Vadder Deep! bleiben Sie doch mal einen Augenblick hier!«
Vadder Deep, der einen hohen Haufen Teller, den er aufeinander gebaut, eben in die Arme genommen hatte, setzte seine Last wieder hin und blinzelte den Advokaten über die Länge des Tisches an.
»Die Sache, meine Herren«, sagte Herr Zinker mit einem Tone der Stimme, der völlig anders klang, als in dem er bisher gesprochen, »ist die, daß ich hier etwas habe, was mir erst heute morgen kurz vor meiner Abfahrt von meinem Kollegen, dem Rechtsanwalt Mohr, überschickt wurde, als auf unsere heutige Versammlung bezüglich, ich aber erst jetzt lese, weil ich es für unwichtig hielt. Nun aber ist es von einer Wichtigkeit – von einer – ja, meine Herren, wenn es nicht ein aus dem Bureau meines Kollegen hervorgegangener und mit Beobachtung aller Formen aufgenommener notarieller Akt wäre – nun, meine Herren, ich würde und müßte glauben, daß sich einer von Ihnen einen nebenbei recht schlechten Spaß mit mir gemacht. Da diese Möglichkeit ausgeschlossen ist, bleibt mir nichts übrig, als Ihnen mitzuteilen, daß gestern, laut notariellem, hier abschriftlich in meinen Händen befindlichem Vertrag, die Herrn Platt und Lüttman ihre sämtlichen Forderungen welcher Art und unter welchen Rechtstiteln immer zediert haben an Herrn Christian Dietrich Deep, zurzeit in Retzow. Zugleich meldet Herr Rechtsanwalt Mohr, im Namen seines Klienten, des Herrn Christian Dietrich Deep, auf Grund von Vorschüssen, die er zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Posten aus seiner Privatkasse dem Herrn Zempin gemacht, eine Forderung im Gesamtbetrage von fündundzwanzigtausend Talern an den Gemeinschuldner an, wobei er sich zugleich zur Vorlegung der Rechnungsbücher erbietet, zu deren Erläuterung die Abschrift eines Vertrages beigefügt ist, laut welchem Herr Johann Zempin auf Kosenow im Jahre 1840, also bereits vor vier Jahren, zur Ausgleichung von anerkannten Schuldforderungen seine Besitzrechte der ideellen Hälfte von Retzow an Herrn Christian Dietrich Deep abgetreten hat. Ich frage nun den hier anwesenden Herrn Deep: verhält sich das alles so?«
In dem weiten Gemache hörte man keinen Laut, als das Klopfen des Regens gegen die Scheiben. Aller Augen waren auf den Mann geheftet, der noch immer an dem unteren Ende der Tafel hinter dem Haufen Teller stand. In dem verschwommenen Gesichte zuckte keine Miene, die kleinen grauen Augen unter den dicken Lidern blinzelten schläfrig wie immer; um die breiten Lippen irrte das alte öde, halb blödsinnige Lächeln. Man sah nicht, daß sie sich bewegten, man hörte nur die mehlige Stimme sagen:
»Wenn das da geschrieben steht, so wird es sich ja auch wohl so verhalten.«
Er hatte die Teller aufgenommen und schlurfte mit seiner Last nach der Tür des Zimmers hinaus.
Bis dahin hatte sich niemand geregt; man hatte kaum zu atmen gewagt. Jetzt blickte der Nachbar den Nachbar an, schweigend: was man da gehört war so ungeheuerlich, so völlig unglaublich, undenkbar – hatte man denn geträumt? Stand die Welt auf dem Kopfe? war das eine Weinflasche? waren dies die eigenen Hände?
Ein neuer fürchterlicher Guß prasselte gegen die Scheiben; die alten, morschen Fenster klapperten; eines sprang auf und klirrte draußen in Scherben; ein Windstoß sauste herein, die Papiere des Advokaten flogen im Zimmer umher; die Tür, die Vadder Deep halb offen gelassen, schlug donnernd zu – alle waren von ihren Sitzen aufgefahren; man sprach, man schrie durcheinander, ohne daß einer darauf geachtet hätte, was der andere sagte. Was konnte der andere auch anderes sagen, als daß dies unerhört, daß so etwas noch nie dagewesen, daß Vadder Deep der größte Schurke sei, den die Welt gesehen.
Die breite Stimme des Advokaten übertönte den Lärmen.
»Meine Herren, mit dem Schreien kommen wir nicht weiter! Übrigens bin ich selbst der Meinung, daß wir die Versammlung aufheben. Meine Herren: ich hebe hiermit die Versammlung auf!«
Es hatten sich verschiedene an Herrn Zinker herangedrängt, seine Ansicht über den skandalösen Fall zu vernehmen: das könne unmöglich mit rechten Dingen zugegangen sein; von einer Sache, die offenbar so planvoll vorbereitet, müsse er – der Advokat – doch eine Ahnung gehabt haben! warum er denn kein Wort habe verlauten lassen?
Herr Zinker, der, als langjähriger Anwalt Herrn Zempins, das Gewicht dieser Vorwürfe fühlen mochte, zuckte zuerst die Achseln und nahm, als man weiter in ihn drang, zu seiner allbekannten und gefürchteten Grobheit seine Zuflucht: man solle ihn in Teufels Namen ungeschoren lassen! Die Herren möchten die Nasen in ihre eigenen Angelegenheiten stecken, wo sie voraussichtlich manches finden würden, was sie lieber nicht fänden!
»Ist dies etwa nicht meine Angelegenheit?« schrie Herr Sallentin; »würde ich gestern – übrigens auch auf Ihre spezielle Veranlassung – an Platt und Lüttmann mit Damno zediert haben, wenn ich gewußt hätte, daß sie an demselben Tage weiterzedieren würden und noch dazu an Vadder Deep, der die eine Hälfte von Retzow schon seit Jahren in der Tasche hat und die andere nun gewiß festhalten wird? Und Sie wollen mein Freund sein?«
»Der Teufel ist Ihr Freund!« schrie Herr Zinker, mit der Faust auf den Tisch schlagend. »Und wenn Sie jetzt nicht –«
Herr Sallentin zog sich sehr schleunig hinter den ihm assistierenden Herrn Lindblad zurück. Der Advokat stülpte den Hut auf, nahm seine Akten zusammen und verließ das Zimmer.
Sein Fortgehen war das Signal zu einem allgemeinen Aufbruch. Man konnte sich ja unterwegs weiterbesprechen und weiterzanken, denn das verworrene allgemeine Gespräch war bereits in einen nicht minder verworrenen Zank ausgeartet, der in kleineren Gruppen mit Aufbietung aller Stimmittel geführt wurde. Es währte keine Viertelstunde, als Zimmer und Haus verlassen waren und der letzte Wagen über das fürchterliche Pflaster des Hofes davonrollte.
Während dieser ganzen Zeit hatte Herr Zempin dagesessen, ohne von dem Lärmen um ihn her die mindeste Notiz zu nehmen, ohne auch nur einmal die gesenkten Augen zu erheben, starr vor sich hinblickend, wie ein völlig Abwesender, ja Betäubter oder Sinnloser, nur daß die Farbe auf dem Gesicht kam und ging und von dem entsetzlichen Kampfe Kunde gab, der hinter der breiten Stirn, in der mühsam sich hebenden und senkenden mächtigen Brust tobte. Gerhard, der keinen Blick von ihm verwandte, hatte jeden Moment gefürchtet, es werde dieser grauenhaften Ruhe urplötzlich ein grauenhafter Ausbruch folgen, und dann – das wußte er – standen Menschenleben auf dem Spiel. Aber war es Klugheit, war es Zufall – von denen, die den Mann vorgestern und auch heute wieder am schwersten gereizt hatten, kam niemand in seine Nähe, und daß Vadder Deep sich nicht würde blicken lassen, wußte Gerhard.
Er war hinausgegangen, um das Anspannen zu befehlen; als er wieder in das Zimmer kam, saß Herr Zempin noch immer in unveränderter Stellung. Nicht ohne ein geheimes Grauen trat er an den Regungslosen heran: hatte er es mit einem Wahnsinnigen zu tun? Würde dieser Wahnsinn sich zuerst gegen ihn wenden?
Und in der Tat lag in dem Blicke, den der unglückliche Mann jetzt auf ihn richtete, nachdem er seine Meldung, daß der Wagen vorgefahren sei, ein paarmal wiederholt, etwas, das seinen Verdacht zu bestätigen schien: eine trübe, gläserne Starrheit und durch die Starrheit hindurch ein unheimliches, seitwärts schielendes Funkeln, wie im Auge eines wilden Tieres. Das: »Ich danke Ihnen!« kam ganz mechanisch-tonlos heraus, und mechanisch-steif waren die Bewegungen, als er sich nun erhob und, ohne sich umzusehen, nach der Tür schritt. Er hatte die Mütze auf dem Tische liegen lassen und wäre barhaupt in den Wagen gestiegen, wenn Gerhard sie ihm nicht geholt hätte.
Sollte er das unheimliche Schweigen brechen? Ein einziges Wort, das noch nicht einmal unbedacht zu sein brauchte, konnte die stille Wut entfesseln. Denn daß es nicht Betäubung war, was den Mann stumm und starr in der Wagenecke sitzen ließ, wie er vorhin am Tisch gesessen – zeigte das fortwährende Zucken der vollen Wangen und die Blutstropfen, die von der starken Unterlippe, an der die Zähne unablässig nagten, über das massive Kinn liefen.
Waren das bereits die Weiden auf der Schneide zwischen Retzow und Kantzow? Unmöglich! und doch; links war die große, halb abgemähte Weizenbreite, auf der heute weitergemäht werden sollte. Auch tauchten in der Entfernung hinter den verregneten Hocken die Köpfe von Arbeitern auf; aber es waren viel weniger, als auf dem Platze hätten sein müssen, kaum ein Dritteil der Leute; entweder hatte der Unterinspektor wieder einmal den Befehl falsch verstanden, oder die Leute hatten die Arbeit verweigert.
Während Gerhard noch so bei sich dachte und froh war, daß Herr Zempin wenigstens diese Unordnung nicht bemerkte, fiel sein Blick an der breiten Brust des Mannes vorüber durch das andere Wagenfenster, und er erschrak. Über eine große Kurve, die der Weg an dieser Stelle machte, sah er auf der Weizenbreite zur Rechten, die bereits abgemäht war, und von der man des bösen Wetters wegen nicht hatte einfahren können, sämtliche Gespanne halten, einige noch leer, ein paar bereits halb geladen, um die Gespanne herum eine dichte Schar von Leuten; aus der Schar herausragend einen Reiter auf einem Schimmel, der unter Gestikulationen zu den Leuten zu reden schien. Der Reiter konnte nur Klempe sein. Die Gespanne und der Menschenhaufen befanden sich auf dem Acker, aber dicht am Wege; in wenigen Minuten mußte der sehr rasch fahrende Wagen an der Stelle sein, wenn sie auch für den Augenblick infolge der durch die Kurve bedingten Richtung seinen Blicken entzogen war.
»Ich sehe da«, sagte er, »Klempe ist zurück. Er scheint allerdings gleich eine seiner gewöhnlichen Dummheiten angerichtet und die Wagen herausbeordert zu haben; aber es ist gewiß geraten, daß Sie den Mann vorderhand gewähren und fünf gerade sein lassen.«
»Was sagen Sie?«
Gerhard wiederholte seine Worte, indem er einen noch größeren Nachdruck auf die Warnung legte und hinzufügte: »Um des armen Mädchens willen!«
Herr Zempin war, wild um sich blickend, aus seiner Ecke in die Höhe gefahren; er hatte entweder nicht gehört oder nicht verstanden, was Gerhard gesagt. Plötzlich tauchten rechts die Fuhrwerke und Menschen auf, der Wagen blieb vor irgend einem Hindernis im Wege stehen; in demselben Moment hielt Klempe am Schlage, mit lauter, bis zur Unverständlichkeit heiserer Stimme gegen die Insassen perorierend und mit dem Stiele seiner Reitpeitsche gegen das Fenster fuchtelnd. Hinter ihm her drängten die Leute, zum größten Teil ebenso betrunken wie der Oberinspektor, und ebenso wie er schreiend und gestikulierend. Der von dem Lärmen geängstigte und schlecht gelenkte Schimmel drängte gegen den Wagen; die von dem Peitschenknopf getroffene Scheibe klirrte in Scherben – mit einem dumpfen Wutschrei hatte Zempin Schlag und Fenster aufgestoßen und war aus dem Wagen gesprungen, Klempe entgegen, dem Schimmel mit beiden Händen in die Zügel fallend, das Tier, trotzdem es sein Reiter, ihm die Pfundsporen in die Flanken schlagend, vorwärts trieb, mit so furchtbarer Kraft zurückstoßend, daß es in die Hinterbeine sank. Klempe hieb mit dem schweren Peitschenstiel auf den bloßen Kopf des Riesen, aber schon im nächsten Moment war er an der Brust gepackt, aus dem Sattel gerissen, niedergestoßen in den Schmutz des Weges und mit einem Fußtritt in den Graben an der Wegseite geschleudert. Das rettete dem Elenden wohl das Leben; denn, über den Graben setzend, stürzte sich der Wütende den Leuten, die, auf ihre Menge vertrauend, trunkenen Mutes ihrem Führer zu Hilfe eilen wollten, entgegen, in den dichtesten Haufen springend, zwei, die er zu gleicher Zeit in den Nacken gegriffen, aneinanderschmetternd, daß die Armseligen für tot zusammenbrachen, und dann, eine Furke schwingend, die er irgendwem entrissen, niederrennend, zu Boden schmetternd, wer ihm immer in den Weg, in den Bereich der gewaltigen Hände kam.
Mehr sah Gerhard nicht; denn nun hatte er selbst sich seiner Angreifer zu erwehren. Daß man ihn durchaus nicht schonen wollte, bewies der Ausdruck der brutalen Gesichter seiner Angreifer, bewiesen die Rufe, mit denen sie einander anfeuerten: »Schlagt den adligen Hund tot! schlagt dem Baron die Pfanne ein!« – Aber sei es, daß es zufälligerweise weder die Stärksten, noch die Verwegensten waren, die sich an ihn gemacht; sei es, daß das Wüten des Riesen, der sich jeden Moment zu ihnen wenden konnte, den Mut der Menschen doch etwas lähmte – Gerhard, der den Stiel einer Sense als Waffe gefunden und an einem der Wagen eine gute Rückendeckung hatte, vermochte wenigstens sich zu behaupten, wenn er auch fühlte, daß seine abnehmende Kraft einer so unerhörten Anstrengung nicht mehr lange gewachsen sein würde. Schon ging sein Atem schwerer und schwerer, schon begannen die Arme zu erlahmen und die Finger steif zu werden. Er sagte sich, daß, wenn es ihm beschieden sei, sein Leben in einem so elenden Kampfe zu verlieren, er es wenigstens teuer verkaufen wolle und holte eben zu einem mächtigen Streich gegen den baumlangen Kerl, der sein schlimmster Gegner war, aus, als plötzlich ein Geschrei ertönte: »Jungs, lauft, lauft!« – und die ganze Meute, von ihm ablassend, über das Feld davonstürzte, sich nach allen Richtungen zerstreuend, während ein paar berittene Gendarmen, die eben des Weges gekommen sein mußten, die Fliehenden mit gezogenem Säbel verfolgten, einen und den anderen niederritten und ein paar Versprengte in Haft nahmen. Von Klempe und seinem Schimmel war nichts mehr zu sehen. Hofknechte, die sich am Kampfe nicht beteiligt, aber den Bedrängten auch nicht beigestanden, und die jetzt, nachdem der Sieg sich für die Herren entschieden, sehr unterwürfig taten, sagten, daß der Oberinspektor sich alsbald aus dem Graben aufgerafft, sein Pferd, das einer von ihnen festgehalten, bestiegen und auf dem Wege nach Retzow in Galopp davongeritten sei. Sie hätten den schlechten Menschen nicht festhalten wollen; es sei ja wohl ein Glück, wenn er sich nicht wieder in Kantzow sehen lasse.
Gerhard war auf Herrn Zempin zugetreten, der seine fürchterliche Waffe weggeworfen hatte und nun, schwer atmend, dastand, mit der nach allen Seiten um das mächtige Haupt sich sträubenden Mähne und den rollenden, blutunterlaufenen Augen einem Löwen gleichend, dem die Beute entflohen.
»Das kam mir gelegen!« rief er; »ich denke, ich habe ihnen gezeigt, daß ich noch Herr bin! Aber, was ist denn mit Ihnen? hat man sich auch an Ihnen vergriffen? Sie sind ja verwundet!«
»Es kann nicht von Bedeutung sein«, erwiderte Gerhard, der jetzt erst das Blut bemerkte, das ihm von der Stirn über die Wange herabtropfte; »ich fühle wenigstens nichts. Lassen Sie uns lieber nach den Leuten da sehen!«
An einer der nächsten Hocken lehnten, augenscheinlich schwer verwundet, zwei oder drei Menschen, um die einige andere beschäftigt waren; Gerhard war im Begriffe, dorthin zu gehen, als Zempin ihn am Arme ergriff:
»Zum Teufel, Herr, mit Ihrem zärtlichen Herzen! lassen Sie die Kerls die Suppe ausessen! und erlauben Sie, daß ich für Sie sorge: Sie scheinen es zu bedürfen.«
Gerhard hörte die Worte, aber wie aus weiter Ferne, und dann hatte er durch die Dämmerung, die sich plötzlich über seine Augen senkte und die er vergeblich abzuschütteln suchte, nur verschwimmende Bilder von Herrn Zempin, der in der anderen Ecke des Wagens saß und sich wiederholt zu ihm herüberbog, trotzdem aber manchmal an dem entgegengesetzten Ende der Weizenbreite zu sein schien, die an dem zerbrochenen Fenster mit den wie Spreu durcheinanderwirbelnden Hocken vorübertanzte. Ein paarmal wollte aus der Dämmerung völlig Nacht werden; aber er vermochte doch, als der Wagen vor dem Hause hielt, ohne die Hilfe, die ihm Herr Zempin bot, auszusteigen; mußte sich dann aber freilich sofort an den Türpfosten lehnen, da sich alles um ihn im Kreise zu drehen begann.
Ein durchdringender Frauenschrei, der hinter ihm ertönte, brachte ihn alsbald zu sich; sich wieder umwendend, sah er Julie, die schreckensbleich, mit weit ausgestreckten Händen mitten auf dem Flure stand. Zugleich kamen von rechts und links aus dem Salon und Speisezimmer Anton und ein ihm unbekannter Herr herausgestürzt, Anton auf ihn zu, während der Herr Julie in seinen Armen auffing, gerade als Herr Zempin in die Haustür trat, rufend:
»Das ist so Frauenzimmermanier, ohnmächtig zu werden, wenn andere Leute der Hilfe bedürfen! lassen Sie meine Frau nur den Mädchen, Doktor, und sehen Sie nach dem Herrn hier!«
Gerhard protestierte; der Doktor geriet in Verlegenheit; Herr Zempin tobte; Gerhard eilte, der Szene, zu der jetzt auch die Mägde herbeiliefen, ein Ende zu machen, indem er Antons Arm nahm und sich von ihm auf sein Zimmer führen ließ.