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Graf Westen hatte Gerhard noch in der Tür des Schlosses mit ausgesuchter Höflichkeit bewillkommnet und ihn dann seiner Gemahlin zugeführt, die im Salon ihre beiden ältesten Töchter von der englischen Gouvernante die letzten Lektionen überhören ließ. Die Gräfin hatte nur eben Zeit gehabt, Gerhard mit einem höflichen Lächeln die Hand zu reichen, und die beiden Herren entlassen mit der Bitte, sich nicht zu weit vom Hofe zu entfernen, damit sie die Tischglocke nicht überhörten, die in fünfundzwanzig Minuten zum ersten Male ertönen würde. Der Graf entschuldigte sich bei Gerhard, wenn der Anfang der Tafel sich noch so lange hinzögere.
»Ich will nur ganz ehrlich sein«, sagte er, »und gestehen, daß ich Sie absichtlich eine Stunde früher gebeten, um mir die Freude machen zu können, Sie in aller Muße in meiner Wirtschaft herumzuführen. Ich denke, ganz ohne Interesse wird die Sache für Sie nicht sein; jedenfalls werden wir Stoff genug finden, ein Stündchen zu verplaudern, wahrscheinlich auch ein wenig miteinander zu streiten; ich mache Sie von vornherein darauf aufmerksam, daß unter meinen Einrichtungen neben vielem Erprobten sich eines und das andere findet, was allerdings nicht diskutabel ist. Indessen, noblesse oblige! Wer, wie ich, seinen Ehrgeiz darein setzt, eine Wirtschaft herzustellen, die für den Regierungsbezirk, ja für die ganze Provinz ein Muster sein soll, an dem die braven Leute, die von rationeller Wirtschaft nicht den Deut verstehen, studieren und lernen können, muß den Mut haben, zu experimentieren, auf die Gefahr hin, sich in den Augen der Dummköpfe gelegentlich zu blamieren.«
Nun hatte man freilich Gerhard von den verschiedensten Seiten gesagt, daß man in dem ganzen Regierungsbezirk die viel besprochene Musterwirtschaft des Herrn Grafen nur als ein einziges großes und noch dazu völlig verfehltes Experiment betrachte, und der Experimentator mithin in den Augen der Leute, die etwas von der Sache verstanden, das heißt jedes ordentlichen Ökonomen, keineswegs bloß gelegentlich, sondern ständig in der angedeuteten übeln Lage sei; aber er hatte auch bereits zu viel Proben gehabt von der Voreingenommenheit der Herren Gutsbesitzer und Pächter hierzulande gegen alles, was einer Neuerung auch nur entfernt ähnlich sah, um dem Urteil unbedingt zu trauen; und so war denn seine Versicherung, daß er sich von dem Rundgange ebensoviel Vergnügen wie Belehrung verspreche, und daß er dem Grafen im voraus für seine Güte dankbar sei, durchaus aufrichtig.
Die Besichtigung, an die man nun sofort ging, erstreckte sich über das ganze Gut und vertiefte sich bis in die kleinsten Einzelheiten. Man durfte die Wirtschaft musterhaft nennen in allem, was Ordnung und Akkuratesse betraf; und wenn sich auch über die praktische Nutzbarkeit dieser oder jener Einrichtung in der Tat streiten ließ, die Wirksamkeit einer und der anderen Maschine sich noch erst bewähren sollte, die Verwendbarkeit oder Dauerhaftigkeit der eingeführten edeln Rassen noch manche harte Probe zu bestehen hatte, so gebührte der Liberalität des Besitzers, der Zeit, Mühe und Geld nicht schonte, um wichtigen Fragen auf den Grund zu gehen und vielleicht nur negative Resultate zu erzielen, desto reicheres Lob. Sonst durfte man freilich wohl die Trefflichkeit der Einrichtung selbst nur zum minderen Teile auf Rechnung des Grafen schreiben. Gerhard machte bald die Entdeckung, daß zwischen dessen Enthusiasmus für rationelle Landwirtschaft und seinen Einsichten und Kenntnissen ein bedenkliches Mißverhältnis stattfand. Glücklicherweise schien der Graf selbst keine Ahnung davon zu haben, oder er würde so manche gewagte oder offenbar falsche Ansicht nicht geäußert und eine oder die andere Erläuterung und Erklärung dem Oberinspektor überlassen haben, der schweigend folgte und darauf rechnen mochte, daß der Gast die Widersprüche und Ungereimtheiten in den Behauptungen des Gebieters selbst herausfinden und sich zurechtlegen werde. Auch ließ es Gerhard bei einem bescheidenen Einwand hier und da bewenden, der von dem Grafen stets sofort mit siegreichen Gründen zurückgewiesen wurde, und so gelangte man in bestem Einvernehmen und gegenseitiger voller Befriedigung an das Ende der Besichtigung in dem Augenblicke, als von dem Schlosse die Tischglocke zum ersten Male erschallte.
Die Tafel, zu der Gerhard eine Viertelstunde später die Gräfin aus dem Salon in den Speisesaal führte, war nur mit drei Kuverts belegt. – »Unsere Kinder speisen mit dem Hauslehrer und der Gouvernante bereits um zwölf Uhr«, sagte die Gräfin; – »und wenn wir weiter keine Gäste geladen haben«, fügte der Graf hinzu, »so geschah es, um uns des einen desto mehr erfreuen zu können.«
Die Mahlzeit, bei der der Hausmeister in weißer Binde, schwarzem Frack und Kniehosen mit Schnallenschuhen an dem Büfett schaltete und zwei Diener in Livree servierten, war ebenso ausgesucht wie die Ausstattung der Tafel glänzend. Der Graf schien in der besten Laune, und die Gräfin legte mit jedem Gange etwas von der Zurückhaltung ab, die bei ihr mehr eine Folge der Erziehung und des Naturells, als beabsichtigt sein mochte. Es war augenscheinlich, daß beide Wirte ihrem Gaste sich in jeder Weise gefällig erzeigen wollten, und Gerhard hatte alle Ursache, sich für so günstige Gesinnungen seinerseits dadurch dankbar zu erweisen, daß er sich von seiner besten Seite gab. Er hatte bis jetzt jede Anspielung auf das, was ihm zumeist, ja einzig am Herzen lag: vom Grafen zu erfahren, ob Ediths Vater wirklich zu einer Gefängnisstrafe verurteilt sei, geflissentlich vermieden, und es war ihm das um so leichter geworden, als der Graf und die Gräfin, wie es schien, nicht minder geflissentlich seiner Situation als Volontär auf dem Gute eines der nächsten Nachbarn mit keinem Worte Erwähnung taten. Indessen die Zeit verstrich, die Mahlzeit näherte sich ihrem Ende, und der Graf hatte seine Gemahlin gebeten, ausnahmsweise zu gestatten, daß der Kaffee an der Tafel serviert werde, auch daß sie für ihre Person zugegen bleibe, da er etwas mitzuteilen habe, was ihm erst heute morgen von seiten des Onkels Exzellenz aus Berlin zugegangen sei und, wie er hoffe, den verehrten Gast und sie selbst einigermaßen interessieren würde. Es war ihm also später voraussichtlich unmöglich, seine Angelegenheit zur Sprache zu bringen, und so benutzte er denn die erste schickliche Gelegenheit, um vorläufig wenigstens einmal den Namen Zempin in die Unterhaltung einzuflechten. Die verlegene Pause, die sofort entstand, weissagte freilich nichts Gutes, und ebensowenig das eigentümliche Lächeln, das um den etwas herben Mund der schönen Gräfin spielte, bevor sie, mit einem Seitenblicke auf den Gemahl, der an seiner Habichtsnase entlang mit halbgeschlossenen Augen auf den Teller starrte, in ihrer Weise vorsichtig jedes Wort erwägend, erwiderte:
»Gestehen wir es nur, lieber Baron, Sie haben mit dem Namen da einen Punkt berührt, den ich als den einzigen Differenzpunkt bezeichnen möchte, der zwischen uns, ich meine meinem Manne und mir einer- und Ihnen andererseits, bestehen dürfte. Ich habe mich ausdrücklich mitgenannt, weil ich hier, wie freilich, Gott sei Dank, so ziemlich in allen Dingen, mit meinem Gatten völlig d'accord von Anfang an gewesen und jetzt erst recht bin, da wir das Glück Ihrer persönlichen Bekanntschaft gemacht haben.«
»Sie würden mich verbinden, gnädige Gräfin«, sagte Gerhard, sich verneigend, »wenn Sie Ihren für mich so unendlich schmeichelhaften Worten eine genauere Bestimmung des besagten Punktes, dessen Vorhandensein ich zum voraus tief beklage, hinzufügen wollten.«
Die Gräfin richtete den Blick wieder auf den Gemahl, welcher unter dem magnetischen Einflusse der stahlblauen und stahlharten Augen die eigenen von dem Teller aufschlug und, mit einer höflichen Handbewegung, lächelnd sagte: »Ich lasse meiner verehrten Vorrednerin um so lieber das Wort, als ich überzeugt bin, daß ich einen besseren Interpreten meiner Gesinnungen und Ansichten nimmer finden könnte.«
»Sie hören, lieber Baron«, sagte die Gräfin, »wie ich in eine Lage gezwungen werde, die Ihre ritterliche Schonung herausfordert. Mein teurer Ulrich verargt Ihnen – nein, der Ausdruck ist nicht richtig – empfindet es schmerzlich, daß Sie, als Ihnen der Wunsch kam, die hiesigen landwirtschaftlichen Verhältnisse kennenzulernen, nicht ihm den Vorzug gegeben haben; er meint: der Edelmann hätte sich hier, wie es ja immer und überall wünschenswert ist, zum Edelmanne halten sollen; um so mehr, als in dieser Gegend, Gott sei es geklagt, die Edelleute so spärlich gesät sind, daß man die wenigen, die existieren, nicht wohl übersehen kann, und er sich schmeichelt, daß der Name Westen auf Teschen in der verhältnismäßig kurzen Zeit, die wir hier wohnen, auch über die Grenzen des Regierungsbezirkes oder der Provinz hinaus einen guten Klang hat.«
»Ich bitte untertänigst um Verzeihung, gnädige Gräfin«, erwiderte Gerhard, »wenn ich, bevor ich mich gegen eine so schwere Beschuldigung zu verteidigen wage, Ihren letzten Worten den Vorwurf allzu großer Bescheidenheit machen muß. Der gute Klang des Namens Westen-Teschen reicht viel weiter, als Sie annehmen. Er war schon, als ich im vergangenen Jahre in Tharandt einen Kursus durchmachte, mir vollkommen vertraut, aber – darf ich es sagen? – gerade das war für mich entscheidend und der Grund, weshalb ich nicht in Teschen anklopfte, obgleich ich wußte, wie willig sich hier die Tore dem lernbegierigen Volontär öffnen.«
»Ist es sehr unschicklich, wenn ich es ausspreche, daß ich das nicht verstehe?« fragte die Gräfin.
»Ich glaube, dir das Verständnis vermitteln zu können, liebe Alix«, fiel der Graf ein. – »Unser lieber Baron hat mir vorhin den Beweis geliefert, daß er sein Tharandt glänzend absolviert hat, und er hier, wo uns denn doch noch viel zu einer Anstalt im großen Stil fehlt, wenig, ja kaum etwas Neues hätte lernen können. Es kommt ihm auch, wenn ich ihn recht verstehe, gar nicht auf das Neue an – im Gegenteil: gerade das Alte reizt ihn: der Urväterbrauch, die überlieferte Methode; wenn man so nennen darf, was das diametrale Gegenteil von Methode ist. Habe ich recht, Herr Baron?«
»Vollkommen, Herr Graf«, erwiderte Gerhard; »am meisten zu der leisen Ironie, die durch Ihre Worte hindurchklingt.«
»Nur, daß Sie dann wiederum«, fuhr der Graf fort, »die Ehre Ihres Besuches am allerwenigsten Herrn Moritz Zempin hätten zuwenden dürfen.«
»Und weshalb das, Herr Graf?« fragte Gerhard, innerlich nicht wenig erschrocken über die bedenkliche Wendung, die das Gespräch nehmen zu wollen schien.
»Weil«, entgegnete der Graf, »Sie bei ihm weder das eine noch das andere finden; ich meine: weder das Neue noch das Alte, sondern eine überaus bedenkliche Mischung von beiden, die nur einen so klaren Kopf, wie den Ihren, und der mit so soliden Kenntnissen angefüllt ist, nicht in Verwirrung bringen kann.«
»Verbindlichsten Dank, Herr Graf; aber – verstatten Sie mir die Bemerkung – sollte Ihr Urteil über Herrn Zempins wirtschaftliche Fähigkeit nicht um einen Schatten zu streng sein?«
»Gewiß!« fiel die Gräfin ein; »du bist zu streng, Ulrich! viel zu streng!«
»Ich glaube nicht«, erwiderte der Graf, »anderenfalls würde ich es auszusprechen nicht gewagt haben. Ich möchte mir sogar erlauben, mein Urteil noch zu verschärfen oder doch zu erweitern, indem ich es auch auf den Charakter, die Sinnesart des Mannes ausdehne. Glauben Sie mir, Herr Baron, ich kenne den Mann genau; ich bin ihm seit den acht Jahren, die ich in der Provinz lebe und als Landrat fungiere, zu oft auf den Ständetagen, in landwirtschaftlichen Versammlungen und bei ähnlichen Gelegenheiten begegnet und entgegengetreten. Wir sind eben Antipoden, so sehr, wie es nur der geborene Aristokrat und der dezidierte Parvenü sein können: derjenige, der klar erkannte Ziele mit Ernst und Konsequenz anstrebt, und wer den phantastischen Gebilden einer zügellosen Phantasie weniger nachläuft als nachspringt, um dann wieder auf lange Zeit in tatenlose Ruhe und Trägheit zu versinken. Solche Menschen wirken immer unheilvoll, aber nirgends und niemals unheilvoller, als wenn sie unter Zuständen, die freilich reformbedürftig sind, leben, in einer Zeit, wo diese Reformen ins Werk gesetzt werden sollten. Ich bin noch eben jetzt in Berlin wiederholt der Gnade gewürdigt worden, Seiner Majestät meine Ansichten über diese unsere Zustände und die Reformen, welche ich für notwendig halte, persönlich unterbreiten zu dürfen; ich habe Exzellenz, dem Herrn Minister, in meiner Eigenschaft als Landrat eingehende Vorträge halten müssen, die bei unserer verwandtschaftlichen Beziehung, wie Sie sich denken können, sehr bald in vertraulichste Unterredungen übergingen – ich darf sagen, daß mir das hohe Glück beschieden war, mich in vollster Übereinstimmung mit den Ansichten der allerhöchsten Person und meines verehrten Chefs und Onkels zu finden über das, was unserer Provinz not tut, damit sie sei – besser: wieder werde, wozu sie Geschichte und Natur gleicherweise bestimmten: eine Hochburg der Königstreue, eine feste Wehr konservativer Gesinnung gegen die trübe Flut des königs- und gottlosen Liberalismus, der vom Rhein, von Schlesien herandrängt und überall in den großen Städten seine Hydrahäupter erhebt. Das platte Land, hat seine Majestät so wahr wie geistreich zu mir gesagt, das ist der Fels, auf den ich meine Hoffnung besserer Zeiten baue; das platte Land überall, und das Land der Platt redenden Menschen insbesondere! – Nun, lieber Baron, und diesen Fels untergraben eben Menschen, wie dieser Zempin, der, weil er – sehr gegen die Gewohnheit der hiesigen Landleute – durch ein paar Universitäten gelaufen ist, die Weisheit der Welt erschöpft zu haben glaubt. Verstatten Sie mir nur ein einziges Beispiel, woran die destruktive Tendenz der Theorien des Mannes sonnenklar ist. Soll Pommern, insonderheit Neu-Vorpommern und Rügen, Gott wieder wohlgefällig und dem König angenehm werden, muß es – ich meine das platte Land – zurückkehren in den Besitz des Standes, dem es die Ungunst der Zeiten und die Folgen des unseligen Gesetzes vom 9. Oktober 1807 entrissen haben: in den Besitz des Adels. Das ist nicht unmöglich, wenn unsere, jetzt allerdings fürchterlich dezimierten, Standesgenossen ihre Schuldigkeit tun und an ihrer materiellen, auch wohl moralischen Regeneration ununterbrochen arbeiten, unter dem Schutze unseres allergnädigsten Monarchen und seiner erleuchteten Diener, die keinen lebhafteren Wunsch haben, als ein solches Bestreben nach Kräften zu fördern: durch Errichtung von Majoraten, wo die Möglichkeit dazu vorhanden, durch Bevorzugung unseres Standes bei der Verpachtung der Unmenge von Domänen, die unsere Provinz zählt, und vielleicht allmähliche Rückwandlung dieser Staatsgüter in adlige Lehnsgüter – mit einem Worte durch Kreierung von Latifundien, die dann wieder, in englischer Weise, an Pächter abgegeben werden mögen, damit sich der Adel, ungestört durch kleinliche Sorgen, im Staats-, Hof- und Militärdienst seinen natürlichen Pflichten widmen möge. Nun kann auf der Welt diesem so einsichtsvollen und vielverheißenden Plane nichts mehr widerstreben, als eine weitere Zersplitterung des schon zertrümmerten Besitzes durch Ausschlachtung größerer Güter in kleinere Höfe, die man an sogenannte freie Bauern gibt. Und das gerade ist es, was Ihr Herr Zempin getan hat, um es freilich sofort an seinem Vermögen hart zu büßen. Ich wünsche von Herzen, daß seine anderen Extravaganzen, unter denen seine Blumenpassion nicht die schlimmste sein dürfte, ihm besser bekommen mögen. Aber das ist ja eben der Fluch des Parvenütums. Aus Bauern sind sie hervorgegangen – Sie wissen, daß diese Zempins auf den Gütern eines uralten schwedischen Grafengeschlechtes sitzen, deren einer Verwalter noch der Vater war – und bäuerisch sind ihre Tendenzen, Empfindungen, Gewohnheiten, womit sie denn die echt bäuerische Geschmacklosigkeit verbinden, es dem Adel nach- und gleich- und womöglich zuvortun zu wollen in Dingen, welche das ausschließliche Vorrecht des Adels schon um deshalb bleiben sollten, weil nur der Adel das angeborene und anerzogene Geschick dazu hat. Ich gehe hier nicht mehr auf die Jagd, weil ich sicher sein kann, daß ein Herr Müller oder Schulze neben mir auf denselben Rehbock schießt und dann schwört, er habe allein geschossen; und ich gestehe, daß sich mir auf den Sundiner Rennen, die ich anstandshalber besuchen muß, das Herz umdreht, wenn ich im Herrenreiten dieselben Herren Müller und Schulze in rotem Frack und Stulpstiefeln auf dem Plane erscheinen sehe. Es ist eben die alte Fabel, die hier leider traurige Wirklichkeit ist: es geht den Leuten zu wohl; die Domänenpächter bekommen manchmal ihren ganzen Pachtschilling aus der Lammwolle heraus, die Gutsbesitzer ersticken in ihrem Fett – verzeihe den Ausdruck, liebe Alix! – weshalb sollten Sie sich keine Rennpferde und Windhunde erlauben? auf den Landständetagen lärmende Opposition machen und der Regierung in allem Widerpart halten? Und da sind es wiederum die Brüder Zempin – denn der eine ist mutatis mutandis wie der andere, und gleiche Brüder, gleiche Rappen – die auch in diesem Punkte als Muster des Bauerntrotzes gelten dürfen. Mein Gott, was haben mir diese Menschen schon das Leben sauer gemacht! Da ist keine Verordnung, der sie sich nicht widersetzen, kein Verbot, das sie nicht übertreten, keine Verpflichtung, zu deren Erfüllung sie nicht durch Strafandrohungen und Strafmandate angehalten werden müssen! So sind sie in jedem Zuge der ausgeprägte Typ jener Bauernsöhne, welche sich Herren dünken, weil sie sich auf alten Herrensitzen breitmachen dürfen; auf den Sitzen der Herren, die verarmt und dezimiert wurden, weil sie hier und da – ich gebe es zu – den Glanz der Repräsentation des Standes ein wenig übertrieben hatten oder Haus und Hof verließen, um für ihren Gott und ihren König das Blut auf den Schlachtfeldern zu verspritzen.«
Der Graf lehnte sich in den Stuhl zurück, offenbar sehr zufrieden mit seiner Rede, welcher der Hausmeister am Büfett, mit zur Seite geneigtem Kopfe, ohne sich zu regen, andachtsvoll gelauscht hatte, während die beiden Diener bei dem Servieren des Nachtisches jedes Geräusch sorgfältig vermieden. Der Gräfin, die dem beredten Gemahl schon wiederholt mißbilligende Blicke zugeworfen, mochte nicht entgangen sein, wie auf dem Gesichte des Gastes die Farbe wiederholt gewechselt hatte. Sie sagte mit ihrem huldvollsten Lächeln:
»Gestehen Sie, lieber Baron, daß Sie von den Ausführungen meines Gatten nicht völlig befriedigt sind; und du mußt mir schon die Bemerkung erlauben, lieber Ulrich, daß auch ich es nicht bin. Du hast diesmal, was sonst nicht deine Gewohnheit ist, der Güte deiner Sache durch allzu häufige Einmischung des Persönlichen geschadet; aber ich bin überzeugt, daß unser Herr Baron das eine von dem anderen wird zu trennen wissen.«
»Wenn ich aufrichtig sein darf, gnädige Gräfin«, erwiderte Gerhard, »so ist mir, was ich allerdings sonst immer anstrebe, gerade diesmal nicht völlig gelungen; doch lag zweifellos die Schuld nicht an dem Sprecher, sondern an dem Hörer, der nicht vergessen konnte – gerade in diesem Augenblicke, wo er sich der liebenswürdigsten Gastfreundschaft erfreut – daß die Gastfreundschaft überall heilig ist, auch unter dem Dache eines ehemaligen Herrenhauses, dessen immerhin von Bauern abstammende Bewohner den Fremden mit offenen Armen und Herzen aufgenommen haben.«
Gerhard bereute sofort, daß er sich in seiner Entgegnung, die er sich und welche er Zempins schuldig zu sein glaubte, zu einer solchen Lebhaftigkeit hatte hinreißen lassen. Wie sollte er jetzt noch den Mut finden, auch nur ein Wort zugunsten von Ediths Vater einzulegen! Das gute Einvernehmen, das bisher zwischen ihm und dem Grafen geherrscht, schien unwiederbringlich gestört. Der Graf biß sich auf die Lippen, eine verlegene Pause entstand, während welcher der Hausmeister den Kopf von der rechten auf die linke Seite neigte und die Diener Blicke wechselten, ob sie mit dem Einschenken des Champagners fortfahren sollten, bis ein Blick der Gräfin ihrem Zweifel ein Ende machte.
»Ich ersuche die Herren«, sagte sie, »ihre Gläser zu leeren auf die Gastfreundschaft, in welcher Gestalt und Form sie uns auch entgegentreten möge, und«, fuhr sie, sich plötzlich des Französischen bedienend, lächelnd fort, indem sie gleichzeitig das eigene Glas erhob, »da ich abstrakte Toaste nicht liebe, wollen Sie, Herr Baron, mir erlauben, nun doch wieder das persönliche Element heranzuziehen, aber in einer Form, für die ich zum voraus Ihrer und meines Gemahls sicher bin, der für reizende Frauen und anmutige Mädchen schwärmt und mir zugeben wird, daß die Damen, deren Gegenwart Ihren Aufenthalt, Herr Baron, unter einem gewissen Dache belebt und denen wir schon deshalb dankbar sein müssen, ebenso reizend wie anmutig sind.«
Die Gräfin verneigte sich, an ihrem Glase nippend, erst gegen den Gast, dann gegen den Gatten, lächelnd und im stillen sich fragend, ob sie nicht etwa den ersteren, dessen Gesicht abermals von einer lebhaften Röte bedeckt wurde, durch ihr Französisch in eine böse Verlegenheit gebracht habe. Sie atmete förmlich erleichtert auf, als Gerhard, dem die Sprache von Jugend auf vertraut und völlig geläufig war, ohne eine Pause eintreten zu lassen, ebenfalls französisch erwiderte:
»Ich danke Ihnen von Herzen, gnädige Frau, für die Güte, mit der Sie über meine Unschicklichkeit weggesehen haben; sodann für die Gelegenheit, die Sie mir geboten und die zu ergreifen ich nicht zögern darf, von einer Sache zu sprechen, die mir – im Interesse eben jener Damen, deren Sie in so liebenswürdiger Weise Erwähnung taten – sehr am Herzen liegt.«
Und Gerhard, sich nun zum Grafen wendend, aber so, daß die Gräfin sich ebenfalls für beteiligt halten mußte, berichtete, wie er von Fräulein Edith Zempin gehört, daß eine Gefahr, welche man in diesem Falle wirklich ein Damoklesschwert nennen dürfe, über dem Haupte ihres Vaters schwebe, dem eine Gefängnisstrafe, wie sie ihn bedrohe, ein schlimmeres Übel dünke, als selbst der Tod. Er seinerseits wisse ja freilich, daß das Gesetz keine Ausnahmen statuiere, aber die besondere Gemütsart des menschenscheuen Mannes, die bis zur Manie gehende Leidenschaft für das Volk der Vögel, seien gewiß mildernde Umstände, die ein gerechter Richter nicht unberücksichtigt lassen könne, zumal wenn ein Mann von der Autorität des Herrn Grafen dafür plädiere. Und diese Verwendung werde um so höher angeschlagen werden, als man ja die anderweitigen gewichtigen Gründe sehr wohl kenne, die der Herr Graf habe, der Brüder Zempin, seiner Gegner in dem Rechtshandel um den Retzower Forst, nicht zu schonen, mithin ein Schritt von seiner Seite zugunsten des Angeklagten als ein Akt edelster Humanität gelten müsse.
Gerhard hatte mit bescheidener Lebhaftigkeit gesprochen, im Inneren froh, all das Schmeichelhafte für den Grafen, das er klüglich anbrachte, in die gefällige Form glatter französischer Phrasen kleiden zu dürfen. Auch mochte er mit der Wirkung seiner Worte wohl zufrieden sein: der Graf hatte ein paarmal, die Spitzen des langen Schnurrbartes wohlgefällig berührend, zu seiner Gemahlin hinübergeblickt, die ihrerseits die sonst so strengen Augen mit immer freundlicherem Ausdruck auf den Sprecher gerichtet hatte und, als er nun geendet, sich mit einem aufmunternden: »Nun, mein Lieber, was sagst du?« zu dem Gemahl wandte.
»Ich sage«, erwiderte der Graf ebenfalls französisch, »daß ich unserem werten Gaste mich aufs tiefste verpflichtet fühle für seine so überaus gütigen Gesinnungen in dem Augenblicke, wo er begründete Veranlassung hatte, mir ein wenig zu zürnen; und daß ich, was in meinen schwachen Kräften steht, versuchen werde, ihm gefällig zu sein. Nur zwingt mich die Wahrheitsliebe, hinzuzufügen, wie ich fürchte, daß die Angelegenheit, die sich bereits seit längerer Zeit in den Händen des Richters befindet, schon zu weit gediehen ist. Indessen ich will sehen, was sich tun läßt.«
Er wiederholte die letztere Phrase noch ein paarmal und fuhr dann auf deutsch fort: »Freilich, freilich; diese Herren treiben es auch gar zu arg. Da soll morgen in dem Retzower Forst eine große Gesellschaft, wie ich höre, vor sich gehen, über die uns unser werter Gast gewiß Näheres mitteilen kann. Die unbedingt nötige Erlaubnis aber zur Benutzung des Forstes ist, wie ich sicher weiß, bis zur Stunde nicht eingeholt worden, und wird – daraufhin kenne ich die Herren – auch schwerlich eingeholt werden. Nun, ich werde ein Auge zudrücken, und so wird es der Herr Oberförster tun. Restiert nur noch der Förster, für dessen Nachgeben ich nicht einstehen möchte: er ist ein alter Soldat, der sich an seine Instruktionen hält mit einer Gewissenhaftigkeit, zu der er – ein begnadigter Baugefangener – auch freilich die begründetste Veranlassung hat. Ich will übrigens mit dem Manne selber reden, und kann es zufällig noch heute, da er, ebenso wie ein gewisser Deep, der Ihnen bekannt sein dürfte, Herr Baron, in der Retzower Prozeßsache eine Aussage zu machen hat und wahrscheinlich eben jetzt in der Amtsstube ist.«
Der Graf beauftragte den Hausmeister, dafür zu sorgen, daß der Förster Garloff, den er noch zu sprechen wünsche, das Schloß nicht verlasse; sodann aus seinem Privatarbeitszimmer einige Papiere zu bringen, die auf dem Schreibtische bereitlegen.
»Es sind dies die Papiere«, sagte er, sich wieder zu seiner Gemahlin und Gerhard wendend, »die mir vom Onkel Exzellenz heute zu Händen kamen, und deren merkwürdigen Inhalt mitteilen zu dürfen ich vorhin um deine Erlaubnis bat, liebe Alix.«
»Du machst mich in der Tat neugierig«, sagte die Gräfin; »nach deiner Miene müßte ich glauben, daß es sich um ein Staatsgeheimnis handelt.«
»Um ein Geheimnis allerdings«, erwiderte der Graf, »das sogar auch einen hochoffiziösen Anstrich hat, insofern, als die Diplomatien zweier Staaten bereits darin tätig sind, und dessen Lösung deinen bekannten Scharfsinn auf die strengste Probe stellen wird.«
»Ohne Schmeicheleien, lieber Freund«, erwiderte die Gräfin, »und ohne lange Einleitung, wenn ich bitten darf.«
»Ohne alle Einleitung wird es freilich nicht gehen«, sagte der Graf; »doch will ich mich, deinem Befehle gemäß, bemühen, dieselbe möglich kurz zu fassen. Die Sache ist –«
Der Hausmeister war wieder eingetreten: er hatte die vom Herrn Grafen befohlenen Papiere, trotz allen Suchens, nicht finden können. Der Graf runzelte die Stirn, besann sich dann aber, daß er sie eingeschlossen; er wolle selbst gehen, sie zu holen, bitte dringend, sitzenzubleiben, werde in einer halben Minute zurück sein.
»Spannen Sie Ihre Erwartungen nicht zu hoch«, sagte die Gräfin, als der Graf den Saal verlassen, sich abermals des Französischen bedienend, das sie mit großer Geläufigkeit, wenn auch nicht eben sehr richtig, sprach; »ich vermute, daß alles auf einen Scherz hinausläuft; er wird uns seine Ernennung zum Präsidenten in Sundin, welche er, unter uns, ein wenig ambitioniert, und die ihm vom Onkel Exzellenz in sichere und nahe Aussicht gestellt ist, mitteilen wollen. Freilich eine so rasche Erfüllung hätte ich selbst nicht vermutet. Indessen: wir werden ja sehen! Lassen Sie mich lieber diesen Augenblick benutzen, Herrn Baron, Ihnen zu sagen, daß Sie mir durch Ihre kluge Parteinahme für die Zempins einen Dienst erwiesen haben, den ich Ihnen deshalb nicht weniger danke, weil er vielleicht unabsichtlich war, wenn er es war. Ich vermute das Gegenteil. Ich möchte darauf wetten, daß Ihnen – lassen Sie uns einmal ganz aufrichtig sein, Herr Baron! – diese Zempins ebenso unsympathisch sind, wie meinem Gatten oder mir, die Damen eingeschlossen, deren plumpe Koketterie oder gesuchte Einfachheit und fiktive Noblesse einem Manne von Ihrem guten Geschmacke unmöglich gefallen kann. Ich habe deshalb auch, noch bevor ich das Glück hatte, Sie persönlich zu kennen, meine originelle Freundin, die Baronin Basselitz, ausgelacht, die durchaus wissen wollte, daß Sie sich für eine der Töchter des Kosenower Zempin – ich glaube, es ist die jüngste – interessieren. Wie richtig mein Gefühl war, beweist mir ein Brief der Baronin – sie schreibt sehr originelle Briefe, en passant – den ich heute morgen empfing, und worin sie mir die bevorstehende Verlobung des Baron Bogislaf mit dem Mädchen anzeigt. Ich sagte sofort zu meinem Gatten, daß er gegen die Verwandten der zukünftigen Gemahlin unseres reichsten Großgrundbesitzers, wes Abstammung immer seine Mutter, die Baronin, ist – etwas mildere Saiten aufspannen müsse. Diese abermalige Mesalliance ist ja freilich ein großen Unglück; aber, wie die Sachen hier einmal liegen, muß man gute Miene zum bösen Spiele machen: die Solidarität der so schwer bedrohten Interessen unseres Standes erfordert das gebieterisch. Ich würde mich wahrhaft glücklich schätzen, wenn Sie mir sagen könnten – nicht, daß Sie meine Ansichten im Prinzip teilen, davon bin ich von vornherein überzeugt – sondern, daß ich auch darin recht gehabt, wenn ich in Ihrem Plädoyer für die Zempins nur eine ebenso taktvolle wie kluge Verteidigung unserer gemeinschaftlichen Sache sah.«
Gerhards Herz wurde, während die Gräfin so sprach, von wechselnden Gefühlen bestürmt. Hier also war die volle, unzweifelhafte Bestätigung dessen, wogegen sich sein Stolz doch immer noch heimlich gesträubt: die Bestätigung des schmählichen, frechen Verrats, dessen Opfer er in seiner Verblendung geworden war! Nun – mochte das eitle Herz noch einmal zucken! – das war vorbei, mußte vorbei sein, damit die befreite Seele sich rein baden konnte in dem reinen Äther, in dem Edith wohnte. Er hatte ihr eben dienen können mit Hintansetzung seiner persönlichen Eitelkeit, indem er für ihren geliebten Vater sprach und ihr so hoffentlich einen Teil der Sorgen- und Kummerlast von dem edeln Herzen nahm. Was wollte es gegen diese beseligende Empfindung sagen, daß die Gräfin auch sie in ihr Verdammungsurteil der Zempiner Damen einschloß! was wußte diese Frau von der Guten, Schönen! fiktive Noblesse! fürwahr!
Glücklicherweise legte sich die Gräfin das Lächeln, das um Augen und Lippen des Gastes spielte, nur zu ihren Gunsten aus; auch mußte sie auf eine andere Antwort verzichten, weil ihr Gemahl noch während ihrer letzten Worte wieder in den Saal trat. Da sie nicht merken lassen wollte, ein wie vertrauliches Thema sie mit dem Gaste verhandelt, wandte sie sich sogleich zu dem Eingetretenen:
»Nun, da bist du ja, mein Lieber: wir sterben vor Neugier.«
»Nur ein ganz klein wenig Geduld, meine Liebe«; sagte der Graf.