Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Seit Gerhards Ankunft auf Kantzow waren neun Tage vergangen – Tage, wie sie sich der Landmann zur Erntezeit wünscht, und wie er sie braucht. Schon um drei Uhr war es hell, und wenn die Sonne eine Stunde später, von keinem leichtesten Nebel verschleiert, schwimmend und zitternd in ihrem Glanz, über dem Horizont auftauchte, kam sie wie eine übermächtige Kaiserin in ein bereits unterjochtes Land. Und den langen heißen Tag über hemmte sie nichts in ihrem Triumphzuge; selbst die großen, weißen Wolken, die manchmal gegen Mittag sich an dem tiefblauen Himmel türmten, standen ehrfurchtsvoll beiseite und wollten mit ihrem blendenden Schein nur die Macht und Pracht der Herrscherin erhöhen und widerspiegeln.
Und im Westen waren die Gluten noch nicht verloschen, die hinter der Scheidenden herflammten, so erschien bereits der goldene Mond, der folgsame Trabant, dienstfertig schnell dieselbe Bahn durchlaufend, wie um sich zu überzeugen, daß heute nichts vergessen und alles bereit sei für das Schauspiel, das morgen mit derselben Pracht gefeiert werden sollte.
Und wie in den himmlischen Räumen ein Tag dem anderen zum Verwechseln glich, so boten die heißen Felder Tag für Tag dasselbe Bild. Wohin das Auge blickte – überall tauchten aus dem goldenen Meer der Ähren die Köpfe von Hunderten und aber Hunderten von Mähern und Binderinnen; überall auf den Wegen und über die Felder rasselten von den Höfen her die vierspännigen leeren Wagen, kehrten die vollbeladenen in kaum geringerer Eile zu den Höfen zurück.
»Immer in Galopp, nur immer in Galopp!« sagte der Oberinspektor Klempe zu Gerhard; »das ist die Hauptsache, Herr von Vacha; dann kriegen wir auch den Roggen bis Sonnabend ins Fach– nur immer in Galopp – das muß man kennen!«
Es war nahe der Scheide von Kantzow und Retzow. Gerhard hatte an einer weit entfernten Stelle das Einfahren überwacht und war eben herübergeritten, dem Oberinspektor, der hier mähen ließ, zu melden, daß man voraussichtlich für die Woche noch mit mehreren Hunderten von Fudern im Rückstande bleiben werde.
»Ich würde einen schlanken Trab unter allen Umständen für rationeller halten«, erwiderte er.
»Was ist das nun wieder: rationeller?« sagte Herr Klempe; – »das ist ja ein ganz equivoques Wort! das hab' ich noch mein Lebtag nicht gehört!«
»Rationeller ist: verständiger, zweckdienlicher, Herr Klempe.«
»Ja, warum sagen Sie das denn nicht gleich!« rief Herr Klempe.
»Sie brauchen selbst nicht selten Fremdwörter, Herr Klempe«, erwiderte Gerhard lächelnd; und für sich setzte er hinzu: »und beinahe immer falsch.«
»So?« rief Herr Klempe; »tue ich das? Das weiß ich ja partout nicht; aber posito gesetztenfalls, so sind es Wörter, die jeder Christenmensch braucht, und nicht solche equivoque, die kein Teufel kennt: rationeller! – willst du stehen, Racker!«
Herr Klempe stieß seinem großen, starkknochigen Schimmel die Sporen in die Flanken, riß ihn dann wieder mit plumper Faust zurück und fuhr fort:
»Rationeller! na, meinetwegen! aber Galopp, Herr von Vacha, Galopp, das ist absolutement nötig; das ist staatscher – läßt besser, mein' ich, und hält die Kerls wach, daß sie nicht auf den Mähren einschlafen. So was muß man kennen! Und was das Fertigwerden betrifft: man kann nicht mehr tun, als man tun kann. Was nicht ins Fach kommt, setzen wir in Mieten; was wir nicht in Mieten setzen, bleibt in den Hocken stehen; einmal kommt's auch dran.«
»Aber vielleicht zu spät«, erwiderte Gerhard lebhaft; »wir werden dies Wetter nicht ewig haben; das Barometer fällt seit gestern zusehends, und der Herr Landrat hat, wie Sie wissen, die Sonntagsarbeit definitiv verboten.«
»Was ist das nun wieder: definitiv?«
»Endgültig.«
»Und eine verdammte Schererei ist das von dem Herrn Grafen!« rief Klempe; »wenn er weiter nichts wollte, hätte er in Gottes Namen noch vier Wochen in Berlin bleiben können. Solange die Welt steht, hat noch jeder Christenmensch sonntags eingefahren, wenn in der Ernte die Arbeit prestiert.«
»Trotzdem komme ich auf meinen Vorschlag zurück«, sagte Gerhard – »die Retzower werden bis heute abend entschieden mit dem Roggen fertig; die Kosenower haben keine Eile, da sie über acht Tage in der Reife zurück sind; man könnte ihnen beim besten Willen nicht helfen. So sind die sechs Retzower Gespanne auf drei bis vier Tage frei. Mit sechs Gespannen mehr sind wir bis Sonnabend mit dem Roggen fertig und bringen auch unser Heu herein, wozu es wahrhaftig die höchste Zeit wäre.«
»Das ist klar wie Kloßbrühe«, rief Klempe; – »aber was hilft alles Reden? Sie tun's nun einmal nicht, unser Herr und der Vogelsteller auf Kosenow; sie geben sich kein gutes Wort, und posito gesetztenfalls, sie täten's, käme Vadder Deep doch hinterher und sagte: ›Ich kann die Pferde nicht hergeben‹; dann wär's noch just so; das muß man kennen! Jochen Schnut! Jochen Schnut!«
Der Statthalter Jochen Schnut, der eben, als der erste von vierzig bis fünfzig Mähern, den frischen Anhieb getan, trat aus der Reihe, kam, die Sense auf der Schulter, heran, rückte vor Gerhard die Mütze und blickte mit den hellen Augen fragend zu dem Inspektor empor.
»Glaubst du, Jochen Schnut, daß Vadder Deep uns die Pferde auf drei oder vier Tage gibt?«
»Ja, Herr Inspektor, wie soll ich das wissen?«
»I, Jochen, stelle dich nur nicht so dämlich! Du kennst Vadder Deep: glaubst du's, oder glaubst dies nicht?«
»Na, Herr Inspektor, dann glaube ich es nicht.«
Herr Klempe blickte Gerhard triumphierend an und fuhr in seinem Examen fort.
»Und warum glaubst du es nicht, Jochen Schnut?«
»I, Herr Inspektor, das kann er ja von wegen des Kosenower Herrn gar nicht.«
»Und wenn der Kosenower es erlaubte?«
Jochen Schnur drehte den Halm, an dem er kaute, aus dem rechten Mundwinkel in den linken.
»Na, Jochen Schnur, raus mit der Sprache!«
»I, Herr Inspektor, Vadder Deep gibt uns die Pferde ja doch nicht.«
Der Inspektor brach in ein so gewaltsamen Gelächter aus, daß ausnahmsweise in seinem bis an die Augen reichenden struppigen schwarzen Bart der Mund sichtbar wurde; Jochen Schnur aber verzog keine Miene in seinem noch vom letzten Sonntag her rasierten Gesicht, sondern nahm nur den Halm aus dem linken Mundwinkel wieder in den rechten.
Die Unterredung des Inspektors mit seinem Statthalter war natürlich plattdeutsch geführt worden; aber Gerhard hatte während der kurzen Zeit bereits solche Fortschritte in der Erlernung des Dialektes gemacht, daß er das Gesprochene recht wohl verstand. So war ihm denn auch die wörtliche Übereinstimmung der Aussagen der beiden Männer nicht entgangen. An eine vorhergegangene Verabredung war nicht zu denken; folglich mußte jeder aus derselben Überzeugung, also auch aus einer gemeinschaftlichen Quelle geschöpft haben; er hätte gar zu gern gewußt, welches diese Quelle war.
»Und weshalb meinen Sie, daß Herr Deep die Pferde nicht gibt?« wandte er sich an den Statthalter.
Der Mann war entschieden auf die Frage nicht gefaßt; es dauerte einige Zeit, und er mußte mehrmals den Halm hinüber und herüber schieben, bis die Antwort kam:
»Vadder Deep hat ja noch sein halbes Heu draußen – das muß er doch auch erst herein haben.«
»Wissen Sie das gewiß?«
»Ich glaube.«
»Auf den Wiesen an der Schwanheide?«
»Ja, Herr!«
Der Statthalter kaute noch ein weniges an seinem Halm, wartete, die hellen, pfiffigen Augen senkend, ob noch etwas beliebt werde; er rückte, da keine weitere Frage kam, wieder seine Mütze und ging zu den Mähern zurück, die sich schon eine gute Strecke in den neuen Block hineingearbeitet hatten.
»Ich möchte mich überzeugen, wie es in Retzow mit dem Heu steht«, sagte Gerhard. – »Vielleicht kommen Sie mit, Herr Klempe?«
»Bei der Hitze?« sagte der Inspektor; »und was geht es mich an?«
»Dasselbe könnte ich auch von mir sagen, Herr Klempe.«
»Dann wüßt' ich nicht, weshalb Sie sich die Mühe machen wollen«, erwiderte der Inspektor; – »aber jeder nach seinem Gustibus. Freilich Sie –«
Er brach ab, langte in die Seitentasche und zog eine große Flasche heraus, deren nicht mehr bedeutenden Inhalt er sich langsam in die Kehle laufen ließ; Gerhard hielt sein Pferd an, das er bereits gewandt hatte; der Ton, in dem der Inspektor die letzten Worte gesprochen, hatte etwas gehabt, das ihm nicht gefallen.
»Freilich ich?« fragte er.
Der Inspektor, der die beinahe leere Flasche gegen das Licht hielt und so den ernsten Ausdruck von Gerhards Gesicht nicht bemerken konnte, antwortete leichthin:
»Man sagt, Herr von Vacha, daß Sie das jüngste Kosenower Fräulein heiraten wollen.«
»Wer sagt so?«
»Alle Welt.«
»Und was hat dies hier zu tun, wenn ich fragen darf?«
Der Inspektor, der in der Absicht, auch noch den letzten Rest hinunterzuschlucken, die Flasche dem Munde bereits genähert hatte, blickte erschrocken auf
»I, Herr von Vacha«, sagte er, »ich habe es ja nicht bös gemeint, und wie käme ich wohl dazu? denn wenn Sie dann auch Retzow übernehmen sollten, da unser Herr so große Stücke auf Sie hält, und der Kosenower – na, das verstände sich ja von selbst, wenn Sie sein Schwiegersohn sind – so würden Sie gewiß dafür sorgen, daß ich eine andere gute Pacht bekomme.«
Der Inspektor hatte es in einem fast demütigen Tone gesagt; Gerhard beeilte sich, den Reuigen zu versichern, daß er ihm nicht zürne, und wandte sein Pferd.
»Wie geht denn der Braune heut?« fragte der Inspektor.
»Wie Sie sehen, vortrefflich.«
»Ich nehme ihn gern wieder –«
»Ich danke Ihnen – guten Morgen!«
»Wollen Sie wirklich noch nach Retzow?«
»Allerdings.«
»Sie reiten am nächsten grad über den Hof-, vielleicht sehen Sie da meinen Schatz –«
»Ich soll Fräulein Garloff etwas ausrichten?«
»Es hat gar keine Eile; der Pastor fragte gestern nur, wann das erste Aufgebot sein solle; aber es hat gar keine Eile.«
»Also nochmals guten Morgen!«
Gerhard trieb sein Pferd an; der Inspektor blickte ihm etwas verstört nach und murmelte in den struppigen Bart: »Mit den adligen Herren ist schlecht Kirschen pflücken, und der hat's dick hinter den Ohren, wenn er auch noch so manierlich tut und sich für den Braunen zehn Pistolen zu viel hat abnehmen lassen. Da steht der Racker schon wieder auf den Hinterbeinen! Aber reiten kann er – das muß wahr sein.«
Es war ein Glück für Gerhard, daß er ein gewandter und sicherer Reiter war, sonst wäre er in diesem Moment gewiß abgeworfen worden. Auf dem schmalen Feldwege war ihm ein beladener Erntewagen in der Gangart der Pferde, die der Inspektor für die einzig richtige hielt, entgegengekommen, der Braune war mit einem mächtigen Satze auf die Seite in das hohe Korn geprallt, hatte sich ein paarmal blitzschnell um sich selbst gedreht und hieb jetzt, da dies nicht geholfen, mit den Vorderhufen in die Luft. Gerhard, der Herrn Klempe die heimliche Schadenfreude, ihn bei dem Ankauf des völlig scheuen und verrittenen Pferdes übervorteilt zu haben, nicht gönnte und sehr wohl wußte, daß in diesem Moment die Augen sämtlicher Arbeiter auf ihn gerichtet waren, nahm alle Kunst und Kraft zusammen, und es gelang ihm, das vor Angst rasende Tier zu bewältigen und schließlich zu beruhigen.
Dann ritt er im scharfen Trabe davon, auf dem Wege, der sich zwischen einer mächtigen Weizenbreite zur Linken und Roggenfeldern zur Rechten, welche bereits kahl waren, oder auf denen das Korn in Hocken stand, nach dem etwa eine Viertelmeile entfernten Retzow schlängelte.