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Er schritt weiter über den Hof nach der großen Scheune, die Mütze gegen den strömenden Regen tief in das Gesicht gezogen, die Augen starr auf den holprigen Damm gerichtet, zwischen dessen auseinandergefahrenen Steinen in den Vertiefungen große Wasserlachen standen.
Eine schlimme Stunde lag hinter ihm. Abermals hatte er der Stimme, die in seinem Herzen laut nach Rache schrie für den ermordeten Ahn, Schweigen gebieten müssen. Aber diesmal war er nicht allein mit sich gewesen und dem Bilde des geliebten Mädchens; diesmal hatte er auch noch die Qual erduldet, gegen seine Überzeugung zu sprechen, und in den Augen eines Mannes, an dessen guter Meinung ihm doch gelegen war, als Tor und Phantast, ja als ein Dummkopf und Feigling zu erscheinen. Wie glücklich war er gewesen, daß Edith nicht bereits gestern an die Szene bei den Hünengräbern Folgerungen geknüpft hatte, die so nahe lagen; daß der kranke Vater kein Wort gesprochen, was ihr, wenn nicht den ganzen schrecklichen Zusammenhang, doch genug enthüllte, um sie mit Angst und Grauen zu erfüllen vor dem, was ihr noch verborgen blieb! Wie überglücklich, als sie ihm heute morgen schrieb, die Nacht sei ruhig verlaufen, der Vater sei sogar in der Frühe aufgestanden, um seine Vögel zu füttern, wenn er seitdem auch wieder, erschöpft und ohne zu sprechen, auf dem Sofa liege!
Und nun hing das Geheimnis, wie ein zweischneidig Schwert, an einem Haar, das jeden Augenblick reißen konnte, um das edelste Herz zu durchbohren!
Ediths Mitteilung war die Antwort auf ein Briefchen, worin er ihr heute morgen gemeldet, daß er vorderhand in Kantzow die Wirtschaft ganz allein zu führen habe und, wenn überhaupt, so frühestens am Abend auf eine kurze Zeit hinüberkommen könne.
Die Aussicht auf diese Abendstunde war jetzt das einzige, was ihm den gesunkenen Mut wieder etwas hob. Sie schien um so sicherer, als es heute kaum noch etwas zu tun gab.
Aber gerade aus dieser unfreiwilligen Muße – die Feldarbeit hatte völlig eingestellt, das Vieh in die Ställe getrieben werden müssen – sollten für Gerhard die größten Widerwärtigkeiten erwachsen Außer den Katenleuten und den ständigen Knechten gab es in diesem Augenblicke in Kantzow über fünfzig Feldarbeiter, die nur für die Zeit der Ernte engagiert, aber, ebenso wie die Knechte, auf dem Hofe einquartiert waren und verköstigt wurden. Er kam aus dem Viehhause, wo sich ein paar der eingetriebenen Kühe losgerissen und eine schlimme Verwirrung unter den anderen angerichtet hatten, zurück, als er von weitem aus dem Leutehause, wo jene Arbeiter ihre Mahlzeiten einnahmen, eine große Schar davon nach der Küche, die in einem Nebengebäude des Herrenhauses gelegen war, sich in langer Linie bewegen sah. Jeder hatte eine Schüssel in den Händen, und sie besprachen sich laut miteinander. Es war kein Zweifel, die Leute waren mit ihrem Essen nicht zufrieden und wollten ihre Klagen in der Küche anbringen. Gerhard, so sehr er sich beeilte, kam doch erst zur Stelle, als bereits zwischen Salchen und den Mißvergnügten der heftigste Wortwechsel im vollen Gange war. Die Leute, die ein Bestimmtes zu fordern hatten, behaupteten, sie brauchten eine so schlecht zubereitete und überdies nicht einmal ausreichende Kost nicht für ihr volles Teil zu nehmen, worauf Salchen nichts vorzubringen wußte, als eine Flut von Schimpfreden gegen die von Jahr zu Jahr wachsende Unverschämtheit der Leute. Einige Mägde, welche die Hauptschuld treffen mochte, unterstützten die Wirtschafterin; es war ein wüstes, unfruchtbares Gezänk, das jeden Moment in Tätlichkeiten übergehen konnte. Gerhard hieß einmal erst die Leute, bis auf einige wenige, die Küche räumen und ließ sich dann den Fall vortragen. Es stellte sich heraus, daß die Klagenden in ihrem guten Rechte waren und sie kein anderer Vorwurf traf, als ihr Recht in ungebührlicher Weise geltend gemacht zu haben. Gerhard ersparte ihnen diesen Vorwurf nicht und bat dann Salchen, nachdem er die Beschwerdeführer hinausgeschickt, das Nötige schleunigst veranlassen zu wollen. Salchen wagte kein Wort der Erwiderung, aber ihre Miene bewies, wie tief sie die Kränkung empfand, obgleich Gerhard die Schärfe höflich zu mildern gesucht hatte, indem er bemerkte, wie bei der heute im Hause herrschenden Verwirrung ein derartiges Versehen ja durchaus erklärlich und entschuldbar sei. Dagegen rief eine der Mägde laut genug, daß Gerhard es hören mußte: der Herr würde ja sehen, wie weit er auf diese Weise ›mit der Sorte‹ komme.
Fünf Stunden später sollte Gerhard sich von der Wahrheit dieser Bemerkung überzeugen.
Wieder – es war zur Zeit des sogenannten ›kleinen Abendbrotes‹ – ertönte vom Leutehause her Geschrei und Lärmen, wieder setzte sich eine Schar mit Schüsseln und Tellern von dort aus in Bewegung. Es schien äußerst unwahrscheinlich, daß Salchen zum zweiten Male sich desselben Vergehens sollte schuldig gemacht haben, und das wüste Geschrei der Menschen bewies zur Genüge, in welchem Zustande sie sich befanden. So hatte Gerhard denn einen schwereren Stand als heute mittag. Die Leute wollten sich durchaus nicht zufrieden geben, trotzdem sie jetzt ebenso entschieden im Unrecht waren, wie vorhin im Recht; auch mochten sie glauben, daß sie mit dem fremden jungen Herrn, der heute allein auf dem Hofe war, im schlimmsten Falle leichtes Spiel haben würden. Aber Gerhard erklärte ihnen mit aller Ruhe, daß er ihnen bewiesen zu haben glaube, wie willig er sei, wirklichen Beschwerden Abhilfe zu verschaffen, daß er aber unbilligen Forderungen nicht die geringste Konzession machen werde. Und wenn sie etwa wähnten, ihn durch Geschrei und Drohungen einschüchtern zu können, so seien ja fünfzig Mann allerdings stärker als einer; aber der eine habe auf seinem Zimmer ein Paar sehr vorzüglicher Pistolen, und mit deren Hilfe werde er das Recht des Hauses, dessen Herr er heute sei, gegen Tumultuanten und Friedensbrecher zu schützen wissen.
Glücklicherweise kam es nicht zu diesem Äußersten, gerade weil die Leute fühlen mochten, daß Gerhard zum Äußersten entschlossen war. Sie zogen sich murrend und widerwillig, aber ohne weitere Schritte zu versuchen, in das Leutehaus zurück, das für den Rest des Abends nun von ihrem Lärmen widerhallte. Jochen Schnut, der Statthalter, rapportierte gegen acht Uhr, daß sich bereits zwei Parteien gebildet hätten; ja diejenige, die sich für Gerhard erklärt, die größere sei. Gerhard hatte alle Ursache, dem schlauen Menschen nicht zu trauen, von dessen Doppelzüngigkeit und Böswilligkeit er schon eine lange Reihe Beweise gesammelt hatte. So nahm er denn die Meldung mit der Bemerkung entgegen, daß er sich doch lieber auf seine Wachsamkeit verlassen wolle und Jochen Schnut das denjenigen, die es anginge, sagen möge. Jochen Schnut tat, als ob er nicht verstehe, was der Herr Baron meine; Gerhard war überzeugt, daß sein Wort an die rechte Stelle kommen werde.
Aber sein sehnsüchtiger Wunsch, gegen Abend, und wäre es auch nur auf eine halbe Stunde, nach Kosenow hinüber zu reiten, mußte nun unerfüllt bleiben und der treue Karl Schulten durch Regen und Wind mit einem Briefchen davontraben, worin er sein Nichtkommen entschuldigte, so gut es, ohne den wahren Grund zu nennen, angehen wollte. Er durfte Ediths Sorgenlast um kein leichtestes Gewicht vermehren, und er wußte, daß sie, die Land und Leute so genau kannte, dies nicht leicht nehmen würde. Hatte er doch selbst sich darauf gefaßt gemacht, daß die zweimal kaum unterdrückte Revolte am Abend zum dritten Male, und dann voraussichtlich mit entscheidender Heftigkeit, losbrechen werde.
Und in dieser voraussichtlichen Entscheidung war er einzig und allein auf sich angewiesen. Von den beiden Unterinspektoren hatte der eine bereits vor mehreren Tagen infolge eines Zankes mit Klempe den Dienst verlassen; der andere war ein völlig unbrauchbarer und unzuverlässiger Mensch, der sich besser zum Knecht als zum Verwalter geschickt hätte, und der es im stillen vermutlich mit den Leuten hielt; wenigstens hatte er sich während der Tumultszenen immer scheu auf die Seite gedrückt. Anton und Spatzing hatten sich früh am Nachmittage auf ihre Zimmer begeben; Anton wollte endlich einmal den Brief seines Vaters beantworten, Spatzing heute oder nie die letzte Hand an das verunglückte Porträt legen. Beide waren nicht wieder zum Vorschein gekommen und schliefen wohl ihren Rausch aus. Gerhard war es zufrieden; sie würden ihm, gutmütig und unentschlossen, wie sie waren, im entscheidenden Falle keine tatkräftige Hilfe geleistet haben, vielleicht nur hinderlich gewesen sein. Vor allem war es ihm lieb, daß Julie sich nicht blicken ließ. Sie hatte sich bereits von dem Mittagessen entschuldigen lassen, da sie sich zu angegriffen fühle. Gerhard hoffte, sie werde – wie sie sich denn um das, was draußen vorging, niemals kümmerte – auch heute von dieser Regel keine Ausnahme gemacht haben. Wenn es zum Schlimmsten käme, würde sie es noch immer früh genug erfahren. Unter der Hand hatte er angeordnet, daß – des Sturmes wegen, wie er sagte – die Läden in dem Erdgeschosse geschlossen werden sollten.
Indessen – hatte man seine Drohung denn doch beherzigt, konnte man sich über das, was man tun wollte, nicht einigen, war vielleicht nun des stundenlangen Lärmens müde und dachte, daß morgen auch noch ein Tag sei – jedenfalls wurde es gegen Abend in dem Leutehause stiller und stiller; die Lichter in den kasemattenartigen Kellerräumen erloschen allgemach; die meisten mochten bereits ihre harten Lagerstätten aufgesucht haben; die anderen folgten dann wohl bald diesem Beispiele – Gerhard durfte mit einiger Zuversicht annehmen, daß, wenigstens für heute, die Gefahr vorüber sei und die Ruhe nicht weiter gestört werden würde.
Er bedurfte der Ruhe. Die letzte Nacht hatte ihm kaum eine Stunde Schlaf gebracht, und heute war er seit dem frühesten Morgen unablässig in Anspruch genommen worden. Er wußte, daß, wenn es sein mußte, ihn Entschlossenheit, Mut und Kraft nicht im Stiche lassen würden, aber er war doch herzlich froh, daß es nun allem Anscheine nach nicht zu sein brauchte.
So saß er in seinem einsamen Zimmer auf dem harten Sofa, vor sich auf dem runden Tische die brennenden Lichter und die geladenen Pistolen. Die Dunkelheit war – mehrere Stunden früher als sonst – völlig hereingesunken, während das Unwetter ununterbrochen fortwütete, ja an Heftigkeit noch zuzunehmen schien. Guß folgte auf Guß in immer kürzeren Pausen, und schauerlich tönte das Brausen und Rauschen und Heulen des Sturmes durch die hohen Bäume und aus den nachterfüllten Tiefen des Parkes. In dem Hause selbst regte sich kein Mensch, desto deutlicher vernahm Gerhard das Poltern in den Schloten, das Pfeifen und Wimmern in den Korridoren, das Klappern der Türen und Läden. So war es gestern nacht drüben in Kosenow gewesen; so würde es heute dort sein. Und sie allein mit dem kranken Vater die lange, bange Nacht! und er hier, festgebannt, ohne die Möglichkeit, ihr zu helfen, ein Trostwort zu sagen, ihre liebe Hand in die seine zu nehmen, in den geliebten Augen zu lesen, daß es in dieser Dunkelheit einen Stern gebe, und daß dieses Sternes Licht nicht verlöschen könne, was auch immer das Schicksal über sie beschließe!
Und während all sein Denken und Sehnen zu ihr strebte, war er traurig, daß es seiner Phantasie nicht gelingen wollte, das holde Bild zu erfassen. Nur die hohe, schlanke Gestalt sah er, wohl, weil er sie stets – und auch gestern auf dem Feste – in genau demselben dunkeln Kleide gesehen, und ebenso die schöne, klare Form des Kopfes, dessen reiches, braunes, leicht gekräuseltes Haar stets in derselben Weise arrangiert war; aber das edelblasse Antlitz, das er einst kaum für hübsch gehalten und das ihm jetzt der Inbegriff aller Schönheit und Holdseligkeit schien, blieb ihm wie von einem Schleier verdeckt, durch den nur manchmal ihre großen, milden, treuen Augen liebevoll schimmerten. Und dann waren es wieder nicht mehr ihre Augen, sondern die, in welche er heute vormittag geblickt, um in ihnen einen Ausdruck zu finden, den er dort nie gesucht haben würde; und dann sah er so deutlich, als ob sie neben ihm in der anderen Ecke des Sofas säße, Juliens pikantes Gesicht, aber nicht in dem gewöhnlichen koketten Spiel der feinen, stets beweglichen Züge, sondern überhaucht von Melancholie, wie es heute vormittag gewesen war. Und je mehr er sich bemühte, dieses Bild zu bannen, um so klarer stand es da – unmutig richtete er sich auf.
Es kam ihm wie ein Frevel vor. Was ging ihn diese Frau an? was ihr Leid, das sie sich doch wohl in ihrem Leichtsinn zumeist selbst bereitet hatte? Ja, war sie überhaupt nur imstande, wahrhaft Leid zu empfinden? oder spielte und kokettierte sie damit, wie mit allem und mit allen? Und das war ja noch die beste Auslegung! er hatte sie früher herber beurteilt; aber freilich, bei ihm brauchte man ja nur anzupochen und um Rat, Trost oder Beistand zu bitten, und er vergaß, was er sonst gegen den Bittenden auf dem Herzen hatte, und war zur Hilfe bereit.
Es pochte an die Tür – oder hatte ihm die Einbildungskraft nur den Streich gespielt? Es pochte zum zweitenmal vernehmlicher; er ging zu öffnen: Juliens Kammermädchen stand draußen: die Frau lasse den Herrn Baron doch so sehr bitten, für einen Augenblick herabzukommen; das Kind schiene krank zu sein, die Frau möchte so gern mit dem Herrn Baron sprechen, im Fall nach dem Arzte geschickt werden müßte.
»Wollen Sie mich zur gnädigen Frau bringen!«
Gerhard dachte nur noch ganz flüchtig daran, daß seine Selbstironie sich so schnell und wörtlich erfüllte. Das zarte, kaum einjährige Kind, dem er oft in seinem Wägelchen auf den Parkwegen begegnet, war immer sein besonderer Liebling gewesen; und es war nicht sein geringster Vorwurf gegen Julie, daß sie sich um das liebliche Geschöpfchen kaum zu bekümmern schien. Sollte ihr jetzt der Ernst des Lebens von allen Seiten gezeigt werden?