Autorenseite

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Sechsunddreißigstes Capitel.

Es war zwei Uhr geworden, als wir wieder in das Haus traten. Bei dem ersten Ton der Glocke erschien Paula auf dem Flur, aber der Director lächelte nur freundlich und schritt, ihr die Wangen streichelnd, still vorüber in sein Zimmer, wohin ich ihm folgte. Er hatte mit seiner Tochter nicht gesprochen, weil er nicht sprechen konnte. Sein Antlitz war leichenblaß, während auf den eingefallenen Wangen dunkelrothe Flecke glühten. Er deutete mir durch eine Handbewegung an, daß ich ihm helfen möge, sich auf sein Lager zu legen, dann winkte er mir mit den Augen Dank und schloß sie in tödtlicher Erschöpfung.

Ich hatte mich an sein Bett gesetzt und verwandte kein Auge von dem edlen, blassen Antlitz. Eine hehre Ruhe lag darüber gebreitet; auch die rothen Flecke von den Wangen verschwanden allgemach, keine Regung verrieth, daß unter dieser hohen Stirn noch ein Geist hause; mir war zu Muthe, als ob ich bei einem Todten Wache halte.

So vergingen langsam und feierlich die nächtigen Stunden.

In meinem ganzen Leben ist kein wunderbarerer Gegensatz an mich herangetreten als das stille, hehre Antlitz des schlafenden Mannes und die wilde Wuth des Sturmes, der draußen mit unverminderter Gewalt fortraste. Er durfte schlafen. Zu den seligen Gipfeln, über welchen sein Geist schwebte, trug keine gewaltigste Schwinge irdischen Sturmes.

Und ich mußte der Nacht denken, als in der Mauerhöhle der alten Zehrenburg der Schleichhändler, der eben zum Mörder geworden, sich verwundet in meinen Armen wand und Gott und die Welt und sich verfluchte. Und jener Mann war der Bruder diesem hier gewesen! Es schien unglaublich, daß derselben Mutter Leib zwei so verschiedene Wesen hatte hervorbringen, dieselbe Sonne zwei so verschiedenen Menschen leuchten können, und dann war mir wieder, als ob Beide – der Wilde und der Gute – der Menschenhasser und der Menschenfreund – einer und derselbe wären; als ob ich jenes blasse Gesicht hier vor mir schon einmal gesehen, als ob es dasselbe Gesicht sei, auf dessen bleiche Todesstirn die Morgensonne schien, welche nach der Schreckensnacht röthlich aus dem Meere stieg.

Doch das waren wohl die Phantasien Eines, den die Müdigkeit überwältigte. Auch mußte ich eine Zeit lang geschlafen haben, denn als ich wieder einmal den Kopf hob, blickte eine graue Dämmerung durch die heruntergelassenen Gardinen. Der Director lag noch da, wie er in der Nacht gelegen hatte, die Augen geschlossen, die weißen Hände über der Brust gefaltet. Ich stand leise auf, und leise verließ ich das Gemach. Ich mußte Luft schöpfen; ich mußte die Last abzuschütteln versuchen, die mir auf dem Herzen lag.

Als ich über den stillen Flur schritt, war ich verwundert zu sehen, daß der Zeiger der großen Wanduhr am Fuß der Treppe schon auf acht wies. Ich hatte nach dem spärlichen Lichte geglaubt, es sei fünf oder sechs. Doch sah ich alsbald, als ich heraustrat, warum es nicht heller sein konnte. Der schwarze Sargdeckel, der in der Nacht über der Erde gelegen, hatte sich jetzt in einen grauen verwandelt – eine Dämmerung, die nicht Nacht, nicht Tag war. Und die Gewalt des Sturmes unvermindert! Ich mußte mich, als ich um den schützenden Giebel des Hauses trat, fest auf die Füße stemmen, um nicht umgeworfen zu werden. So, mich nach vorn beugend, schritt ich durch den sonst so lieblichen Garten, der jetzt nur noch eine grausige Stätte der Verwüstung war. Da lagen Bäumchen, die mit der Wurzel herausgerissen, da lagen Bäume, die wenige Fuß über der Wurzel abgebrochen waren. Der Weg war mit Zweigen und Zweiglein übersäet, die Luft mit durcheinander wirbelnden Blättern buchstäblich angefüllt. Nur die alten Platanen auf dem Altan schienen der Wuth des Sturmes trotzen zu wollen, wenn auch ihre majestätischen Wipfel in wilden Wellen durcheinander gepeitscht wurden. Ich arbeitete mich nach dem Belvedere hin, dem einzigen Punkte, von welchem man eine, wenn auch beschränkte Aussicht nach der Wetterseite hatte. Ich fürchtete schon, das alte Gartenhäuschen möchte dem Anprall nicht haben widerstehen können; aber da war es noch; ohne Zweifel hatte es die hohe Bastion jenseits des Wallgrabens geschützt. Ich eilte, in dem Häuschen einen Schutz zu suchen; als ich hastig durch die offene Thür trat, sah ich Paula neben einem der schmalen Fenster stehen, die nach der Wasserseite lagen.

Sie hier, Paula! rief ich erschrocken. Sie hier in diesem Wetter, das uns jeden Augenblick das Häuschen über dem Kopf zusammenwerfen kann!

Wie geht es dem Vater? fragte Paula.

Er schläft, erwiderte ich; Sie haben nicht geschlafen.

Ihre Wangen waren so bleich, ihre großen Augen so tief gerändert! Sie wandte den Blick ab und deutete durch das Fenster, an welchem sie gestanden hatte und das jetzt nur noch eine Fensterhöhle war, denn der Sturm hatte die bunten Rauten, bis auf eine unten in der Ecke, eingedrückt.

Ist das nicht furchtbar? sagte sie.

Und furchtbar war es in der That. Bleigrau der Himmel, bleigrau das Meer, und zwischen Himmel und Meer weißliche Punkte, wie Schneeflocken, die ein Novemberwind durcheinander wirbelt. Die weißlichen Punkte waren Möven und ihr klägliches Geschrei schallte auf Augenblicke bis zu uns herüber. Auf der hohen Bastion uns gegenüber hatte der Sturm das fußlange Gras, das sonst so lustig im Winde nickte, platt gedrückt, wie wenn schwere Walzen darüber hingegangen wären; und über dem langen niedrigen Wall zur Rechten erhoben sich von Zeit zu Zeit schimmernde Streifen, für die ich im Anfang keine Erklärung hatte. Konnten das die Kämme von Wellen sein? Es schien unmöglich. Der Wall – das wußte ich – war zwölf Fuß und darüber hoch und hatte noch einen breiten, sandigen Vorstrand, auf welchem eine viel frequentirte Badeanstalt angelegt war. Ich hatte über den Wall weg das Meer immer nur in perspectivischer Entfernung gesehen; aber diese schimmernden Streifen, wenn es Wellen waren, tanzten nicht auf der hohen See; ich sah deutlich, wie sie auf- und niedertauchten und sich überschlugen und abgerissen und in Staub und Schaum zerpeitscht über den Wall fortgetrieben wurden. Es war die Brandung; und die Brandung war bis an den Rand des Walles gestiegen.

Was soll das geben? sagte Paula.

Es war genau dieselbe Frage, die ich mir gestern Abend genau auf dieser selben Stelle vorgelegt hatte, wenngleich in einem ganz anderen Sinne. Ich hatte nur an sie gedacht, die jetzt vor mir stand und mit großen, angstvollen Augen zu mir aufschaute, aber in meinem, durch die schlaflose Nacht zerrütteten Geiste flossen Natur und Menschenschicksal unentwirrbar in einander, draußen war drinnen und drinnen draußen.

Paula! sagte ich.

Sie blickte zu mir empor.

Paula! wiederholte ich und meine Stimme zitterte und meine Hand suchte die ihre: Wenn der Sturm des Lebens einmal gegen Sie wüthet, wie der da gegen uns Beide hier – würden Sie sich zu mir um Schutz und Hülfe wenden? Sagen Sie, Paula, würden Sie das?

Ein flammendes Roth flog über ihre bleichen Wangen, sie zog ihre Hand, die ich nicht festzuhalten vermochte, aus der meinen.

Sie gehören zu den guten Menschen, Georg, die Allen helfen möchten, und auf die deshalb Alle Ansprüche zu haben meinen.

Das ist keine Antwort, Paula, sagte ich.

Sie öffnete den Mund, aber ich erfuhr nicht, ob die schlimme Auslegung, welche ich ihren Worten gegeben, die richtige sei, denn in diesem Augenblicke wurde das Gartenhäuschen von einem Stoß getroffen, der das Bretterdach wegriß und die noch übrig gebliebenen Fenster eindrückte, daß die Scherben um uns herumflogen. Ich faßte Paula um die Hüfte und zog sie aus dem baufälligen morschen Häuschen fort, das wir kaum verlassen hatten, als es polternd zusammenstürzte. Paula stieß einen Schrei des Entsetzens aus und klammerte sich fest an mich. Mein Herz wollte aufjauchzen, als ich das liebe Mädchen so umfaßt hielt; aber sie löste sich alsbald mit einer gewissen Heftigkeit aus meinen Armen.

Welche Schwächlinge wir Frauen doch sind! sagte sie; Ihr Männer müßt wahrlich denken, wir seien zu nichts auf der Welt, als uns von Euch beschützen zu lassen.

Als sie das sagte, lag es wie Zorn auf ihrer Stirn, in ihren großen Augen; aber um ihren Mund zuckte ein verhaltenes Weinen.

Was ging in diesem Augenblick vor in ihrem Gemüth?

Ich habe es erst viele Jahre später erfahren.

Wir gingen oder kämpften uns vielmehr nach dem Hause zurück. Es wurde kein Wort weiter zwischen uns gesprochen, auch nahm sie meinen Arm nicht, den ich ihr nicht anzubieten wagte. Würde sie eines Anderen Arm ebenso verschmähen? fragte ich mich.

Traurig, wie ich mich nie gefühlt, saß ich eine Stunde später auf meinem Bureau. Arbeiten zu sollen mit dieser Unruhe im Herzen, mit diesem Druck auf dem Gehirn, an einem Tage, wie dieser! Aber zuerst seine Pflicht thun, das Andere findet sich! Das war das Wort des Directors, und nach diesem Wort setzte ich mich an meine Arbeit und stellte Listen auf und revidirte Rechnungen und verrechnete mich nicht. Ich hatte meine lange Lehrzeit wohl bestanden; ich durfte es sagen: ich hatte zu arbeiten gelernt.

Es war Mittag geworden, als ich mich zum Director begab, ihm die Sachen, die ich gefertigt, zur Unterschrift vorzulegen. In dem Vorzimmer zu seinem Arbeitscabinet angelangt, blieb ich stehen, denn ich hörte durch die geöffnete Thür sprechen.

Es ist eine herrliche Zeit, sagte eine sanfte Stimme, die sich in jüngster Zeit seltener im Directorhause hatte vernehmen lassen; – eine herrliche Zeit; dies ist: eine Zeit des Herrn, da er sich offenbart in Sturm und Gewitter, das Herz des sündigen Menschen aus seinem Frevelmuth aufzuschrecken. Verstehen wir diese Zeit, Herr Director! Lassen wir den Herrn nicht vergeblich rufen!

Sie verzeihen, wenn ich nicht Ihrer Ansicht bin, Herr von Krossow; ich habe heute Nacht ein Beispiel davon gehabt, zu welchem Unsinn abergläubischer Schrecken diese verwilderten Seelen treibt. Wollen Sie die Leute über das Naturereigniß aufklären, bin ich gern bereit, Sie in dieser Bemühung zu unterstützen; von einer gemeinschaftlichen Fürbitte sehe ich keinen Vortheil, und muß mich also zu meinem Bedauern dagegen aussprechen.

Der Direktor hatte das in seiner ruhigen, überzeugenden Weise gesagt; aber es schien nicht, daß er seinen Gegner überzeugt hatte. Es entstand eine kurze Pause, dann fing die milde Stimme wieder an:

Ich vergaß zu erwähnen, daß der Herr Präsident, von dem ich eben komme, und dem ich meinen Plan mittheilte, ganz meiner Meinung war, ja, daß er den Wunsch äußerte: es möchten in allen Kirchen die Glocken gezogen und die Gemeinde zum Gebet gerufen werden. Er würde es schwer empfinden, wenn er hier – gerade hier – seine Autorität – wie soll ich sagen – mißachtet sähe.

Ich fürchte, erwiderte der Director, es werden heute noch Manche in der Lage sein, der Autorität des Herrn Präsidenten den schuldigen Respect versagen zu müssen; ich fürchte: es werden die Glocken gezogen werden, aber nicht, um die Leute in die Kirche, sondern an die Arbeit zu rufen. Es wird, wenn der Sturm nicht bald nachläßt, vor Nacht noch viele und schwere Arbeit geben.

Da zitterte durch das Brausen des Sturmes ein wimmernder Ton, wie aus den Wolken heraus, dem andere ähnliche wimmernde, abgerissene Töne nachheulten; in demselben Augenblicke wurde auch die Thür nach dem Flur aufgerissen, und hereinstürzte der Doctor athemlos.

Es ist, wie wir gedacht, keuchte er, an mir vorüber in das Gemach des Directors eilend, in welches ich ihm in einer Regung, die etwas Besseres als Neugierde war, folgte.

Es ist, wie wir gedacht, wiederholte der Doctor, seine Brille abnehmend und sich den nassen Sand und allerlei Spreu, womit er über und über bedeckt war, aus dem Gesicht wischend; in einer Stunde, höchstens in zwei Stunden hat das Wasser den Wall überstiegen, wenn nicht vorher ein Durchbruch erfolgt, was an mehr als einer Stelle zu befürchten steht.

Und was trifft man für Vorkehrungen?

Man legt die Hände in den Schooß – ist das noch nicht genug? Ich bin spornstreichs zum Polizei-Director und zum Präsidenten gelaufen; sie sollten Alles, was die Arme rühren kann, auf den Wall schicken; sie sollen das Bataillon zurückkommen lassen. Es ist – können Sie sich den Wahnsinn denken! – vor einer Stunde, weil keine Contreordre gekommen ist, zum Manöver abmarschirt und quält sich jetzt auf der Chaussee hin, wenn der Sturm sie nicht längst alle rechts und links in den Graben geworfen hat, was mir wahrscheinlicher ist. Sie können unter allen Umständen noch nicht weit sein, in einer Stunde, in anderthalb meinetwegen, sind sie zurück, wenn man ihnen ein paar reitende Boten nachschickt. Hier sind sie mehr von Nöthen, als in den Chausseegräben. Das Alles stelle ich den Herren vor. Was glauben Sie, das mir der Polizei-Director antwortet? er sei selbst Soldat gewesen und wisse, daß ein Officier seiner Ordre nachzukommen habe. Es sei nicht daran zu denken, daß das Bataillon auf seine Bitten umkehren werde. Und der Präsident? dieser scheinheilige – was giebt's? ah! Herr von Krossow! Sie hier! Thut mir leid, daß Sie haben hören müssen, wie ich über Ihren Herrn Onkel denke; aber es ist nun einmal heraus, ich kann mir und ihm nicht helfen. Ich weiß nicht anders, als daß es nur den Schein von Heiligkeit haben heißt, wenn man in einer solchen Calamität von Strafgerichten Gottes, von dem Stachel, gegen den man nicht löcken dürfe, spricht.

Ich werde nicht ermangeln, meinem Onkel von den freundlichen Gesinnungen, die man hier so ungenirt gegen ihn ausspricht, pflichtschuldigen Bericht zu erstatten; sagte Herr von Krossow, indem er mit vor Wuth zitternden Händen seinen breitkrämpigen Hut ergriff und zur Thür hinauseilte.

Glück auf den Weg! rief der kampflustige Doctor, mit seinen kurzen Beinen ein paar Schritte hinterherlaufend, wie ein Hahn, den sein Gegner allein auf dem Kampfplatz gelassen hat. Glück auf den Weg! rief er noch einmal durch die offengebliebene Thür, die er dann, Zorn und Verachtung schnaubend, wüthend zuwarf.

Sie haben sich um Ihre Stelle hier gebracht, sagte der Director ernst.

So weiß der Kerl doch, wie ich über ihn denke, krähte der Doctor.

Was liegt daran? sagte der Director. Aber daran, daß Sie hier Arzt sind, – daran liegt sehr viel, vor Allem mir. Wir müssen sehen, wie das wieder in's Gleiche zu bringen.

Der Director ging mit langsamen Schritten, die ernsten Augen vor sich nieder auf den Boden gerichtet, durch das Gemach; der Doctor stellte sich von einem Fuß auf den andern und sah sehr verblüfft und beschämt aus.

Was giebt's? fragte der Director einen Schließer, der eben mit verstörten Mienen zur Thür hereinkam.

Es sind eine Menge Leute da, Herr Director.

Wo?

Vor dem Thor, Herr Director.

Was für Leute?

Zumeist aus der Brückengasse, Herr Director, sie sagen, sie müßten Alle versaufen, Herr Director. Und weil die Anstalt nun doch so viel höher liegt –

Der Director verließ, ohne ein Wort zu erwidern, das Zimmer und das Haus. Wir folgten ihm über den Hof. Er war herausgetreten, wie er ging und stand, in kurzem seidenen Hausrock, ohne Hut oder Mütze. So schritt er vor uns hin, und der Sturm, der im Hof umherfuhr, zerzauste sein Haar und peitschte die Spitzen des langen Schnurrbartes, wie Flaggenzipfel.

Wir kamen zum Thor, das der mürrische Thorwart aufschließen mußte. Ich hatte gestern Abend, als eine Gefängnißthür sich öffnete, ein grausiges Bild gesehen; ich sollte hier ein rührendes, bejammernswertes zu sehen bekommen, das nicht weniger klar in meiner Erinnerung stehen geblieben ist.

Es mochten wohl fünfzig Menschen sein, zumeist Weiber; aber auch Männer, alte und junge, und Kinder, zum Theil noch auf den Armen ihrer Mütter. Fast Alle trugen sie Sachen in der Hand, oder hatten sie vor sich auf den Boden gestellt, die ersten und gewiß nicht immer die besten, die sie in der Eile und der Angst ergriffen. Ich sah eine Frau, die einen großen Wassertrog auf der Schulter hatte, den sie mühsam fest hielt, als müsse er zerbrechen, wenn sie ihn auf die Erde niedersetzt; ich sah einen Mann, der ein leeres Vogelbauer trug, das der Wind hin und her schleuderte. Das Thor war kaum geöffnet, als Alle, wie von Furien gejagt, auf den Hof stürzten. Der Schließer wollte sich ihnen entgegen stellen; der Director ergriff ihn beim Arme.

Nicht doch! sagte er.

Wir waren auf die Seite getreten und hatten den wüsten Strom an uns vorübergelassen, der sich jetzt über den Hof ausbreitete, zum Theil bereits nach den Thüren der Gebäude stürzte.

Halt! rief der Direktor.

Die Leute standen.

Laßt die Frauen und die Kinder hinein, sagte er zu seinen Leuten, auch die Alten und die Kranken. Ihr Männer mögt einen Augenblick eintreten, Euch zu erwärmen; in zehn Minuten seid Ihr wieder hier, dies ist keine Zeit für Männer, hinter dem Ofen zu hocken.

Da kamen schon wieder neue Gäste durch das offene Thor. Laßt sie herein, laßt Alle herein! rief der Director.

Ein junges Weib mit einem Kinde auf dem Arm, das den Andern nachgestürmt kam, trat vor den Director hin und rief: Ich will meinen Mann. Warum halten Sie ihn eingesperrt? Ich kann die Bälger nicht alle auf einmal tragen; wenn ich sie nicht mehr finde, so könnt Ihr dies auch nur ersäufen!

Sie war im Begriff, das Kind auf die Erde zu legen, als sie es plötzlich dem Doctor, welcher dabei stand, in die Arme drückte und wieder zum Hofe hinausstürzte. Das junge Weib hatte wunderbar blondes, langes Haar, und das Haar war aufgegangen, und wie sie jetzt in rasender Eile davon stürzte, flatterte es in tausend sturmgepeitschten Strähnen hinter ihr her.

Machen Sie, daß Sie Ihre kleine Bürde los werden, sagte der Director lächelnd zu dem Doctor, und sehen Sie nach den Weibern und Kindern. Und noch eines, lieber Freund! Sorgen Sie dafür, daß die Leute mit ihrem Mittagessen in einer Viertelstunde fertig sind; und dann sollen sie hier antreten, hören Sie, Alle ohne Ausnahme, außer den Kranken!

Der Doctor warf einen fragenden Blick auf seinen Chef. Plötzlich flog es wie ein Lichtstrahl auf sein groteskes Gesicht, und das schreiende Kind fest gegen die Brust drückend, lief er mit seltsam trippelnden Schritten in das Haus, die Befehle des Direktors auszuführen.

Bleib' hier, Georg! sagte dieser zu mir, und sprich mit den Leuten; Du kannst das ja; ich bin in zehn Minuten wieder hier.

Er ging; ich schaute ihm mit starren Blicken nach. Was war das? Zum ersten Male hatte er mich Du genannt! Sein Auge war voll auf mich gerichtet gewesen, er hatte sich nicht versprochen; er hatte es aber auch nicht mit Absicht gesagt, ich fühlte das instinctiv; ich fühlte, ja, ich wußte, daß der Moment zu hoch war, und daß die kleinlichen Schranken, welche das konventionelle Leben zwischen uns aufthürmt, vor den Blicken dieses Mannes zu einem Nichts zusammenschrumpfen mußten. Und ich wußte auch, was er vorhatte; ich wußte, daß er sich rüstete zu einem Kampf auf Tod und Leben, und daß er gegangen war, Abschied zu nehmen von den Seinen. Ein Schauder durchrieselte mich, meine Brust hob sich, mein Kopf richtete sich empor. Ihr guten Leute, rief ich, seid getrost, er wird Euch helfen, wenn ein Mensch helfen kann.

Sie drängten sich zu mir; sie klagten mir ihre große Noth, wie das Wasser gestiegen sei seit gestern Mitternacht, einen Fuß in jeder Stunde fast, das sei nun zwölf Stunden her und der Wall habe an der höchsten Stelle nur eine Höhe von dreizehn bis vierzehn, die Brückengasse und die nächste, die Schwedengasse, lägen nur wenig höher als das Meer, und wenn der Wall bräche, seien sie alle verloren. Der Lootsen-Commandeur Walther, der das gut verstände, habe immer gesagt, da müsse etwas geschehen, aber für dergleichen hätten sie ja kein Geld, das brauchten sie zu den Bastionen und Kasematten auf der Landseite.

Und meine beiden Jungen haben sie in die bunte Jacke gesteckt, sagte ein alter Mann, die liegen nun auf der Landstraße, da können sie uns freilich nicht helfen.

Aber er wird es, sagte ich.

Der alte Mann blickte mich ungläubig an: er ist ein guter Herr, sagte er, das weiß jedes Kind; aber was kann er thun?

In diesem Augenblick trat der Director wieder aus dem Hause; zu gleicher Zeit strömten aus drei verschiedenen Thüren, welche in die verschiedenen Flügel des Hauptgebäudes führten, die Arbeits- und Zuchthäusler heraus, an die vierhundert, alle mehr oder weniger rüstige Männer, in ihren grauen Arbeitsjacken, die meisten bereits ausgerüstet mit Spaten, Hacken, Aexten, Stricken, und was denn noch sonst aus der Kammer an Werkzeugen und zweckdienlichen Hülfsmitteln hatte genommen werden können. Die Leute waren von ihren Aufsehern geführt.

So kamen sie heran in militärischem Schritt und Tritt. Halt! Front! commandirten die Aufseher und die Leute standen in drei Gliedern aufmarschirt, stramm und fest, wie eine Compagnie unter dem Gewehr.

Zu mir, Männer, rief der Director mit tönender Stimme. Die Leute traten heran. Aller Augen waren starr auf ihn gerichtet, der, gebeugten Hauptes, sinnend dastand. Plötzlich schaute er auf, sein Blick leuchtete über den Kreis und mit einer Stimme, die man dieser kranken Brust nimmer zugetraut hätte, rief er:

Männer! Ein Jeder von uns hat in seinem Leben eine Stunde gehabt, um die er viel gäbe, wenn er sie zurückkaufen könnte. Nun ist Euch heute ein großes Glück beschieden; ein Jeder von Euch, sei er, wer er sei, und habe er gethan, was er gethan habe – ein Jeder soll jene Stunde zurückkaufen dürfen und wieder werden, was er vordem war, vor Gott, vor sich selbst und vor allen guten Menschen. Man hat Euch gesagt, um was es sich handelt. Es gilt, sein Leben in die Schanzen zu schlagen für das Leben Anderer, für das Leben von Weibern und Kindern. Ich mache Euch keine eitlen Versprechungen, ich sage Euch nicht: Was Ihr thun werdet, soll Euch zu freien Menschen machen. Ich sage Euch im Gegentheil: Ihr werdet hierher zurückkehren, wie Ihr ausgegangen seid; kein Lohn, keine Freiheit, Nichts harrt Eurer, wenn heute Abend nach gethaner Arbeit jenes Thor sich wieder hinter Euch schließt, nichts, als der Dank Eures Directors, ein Glas steifen Grogs und ein sanftes Ruhekissen, wie es einem ehrlichen Kerl ziemt. Wollt Ihr unter diesen Bedingungen zu Eurem Director stehen? Wer es will, der hebe seine Rechte empor und rufe aus voller Brust: Ja!

Und vierhundert Arme flogen in die Höhe und aus vierhundert Männerkehlen donnerte ein Ja, das den Sturm übertönte.

Im Nu war die Schaar auf den Befehl und unter der Leitung des Directors zusammen mit den Männern, die vorhin in die Anstalt geflüchtet waren, in drei Züge getheilt, von denen Süßmilch den ersten, ich den zweiten und ein Sträfling, Namens Mathes, der früher Schiffbauer gewesen, ein sehr intelligenter, thatkräftiger Mensch, den dritten führen sollte. Die Aufseher standen in Reih' und Glied. Heut, Kinder, sind wir Alle gleich und Jeder ist sein eigener Aufseher, sagte der Director. So marschirten wir zum Thor hinaus.

Der Weg, die enge Straße, auf welche das Hauptthor führte, hinab, war nicht lang und wurde schnell zurückgelegt; aber an dem alten und ziemlich engen Thor an dem Ende der Straße fanden wir einen unerwarteten, seltsamen Widerstand, der mir mehr als alles Vorhergegangene die Gewalt des Sturmes bewies. Das alte Thor war eigentlich nur noch ein offener weiter Mauerbogen; dennoch brauchten wir mehr Zeit hindurchzukommen, als wenn wir die schwersten, eisenbeschlagenen, eichenen Thorflügel hätten sprengen müssen, so drückte der Sturm durch die Oeffnung. Wie ein Riese mit hundert Armen stand er draußen und stieß jeden Einzelnen, der sich an ihn wagte, wie ein machtloses Kind zurück; nur unseren vereinten Anstrengungen, indem wir uns gegenseitig die Hände reichten und an der inneren rauhen Oberfläche des Thores festhielten, gelang es, durch den Engpaß zu kommen. Dann ging es auf dem Wallwege zwischen der hohen Bastion auf der einen, und den Gebäuden der Anstalt auf der anderen Seite schnell vorwärts, bis wir an den Ort gelangten, wo unsere Hülfe Noth that.

Es war jener lange, niedrige Wall, der unmittelbar an die Bastion stieß und über dessen Rand ich so oft vom Belvedere aus sehnsüchtigen Blickes auf das Meer und auf die Insel geschaut hatte. Seine Länge betrug vielleicht fünfhundert Schritt. Dann kam der Hafen mit seinen weit in das Meer hineingebauten, steinernen Molen. Warum diese Stelle bei einem Sturm, wie der heutige, so unendlich gefährdet war, wurde mir auf den ersten Blick klar. Das von der offenen See unter der Gewalt des Sturmes hereinfluthende Wasser wurde zwischen der hohen Bastion, die auf gewaltigen Futtermauern ruhte, und dem langen Hafendamm wie in einer Sackgasse gefangen, und da es weder rechts noch links ausweichen konnte, mußte es wohl das Hemmniß, welches sich ihm hier entgegenstämmte, zu durchbrechen suchen. Riß aber der Wall, so war der ganze untere Theil der Stadt verloren. Das konnte Keinem entgehen, der von dem Wall stadtwärts in die engen Hafengäßchen sah, deren Dachfirsten zum großen Theil kaum die Höhe des Walles erreichten, so daß man über dieselben weg in den Binnenhafen sehen konnte, welcher auf der uns entgegensetzten Seite der Hafenvorstadt lag, und wo jetzt die Masten der Schiffe wie Binsen durcheinanderschwankten.

Ich glaube, daß ich keine Viertelminute gebraucht habe, mir die Situation, wie ich sie soeben geschildert, vollkommen klar zu machen und mehr Zeit ist mir auch schwerlich vergönnt gewesen. Sinn und Gemüth wurden von dem Anblicke der Gefahr, die wir zu bekämpfen gekommen waren, zu mächtig ergriffen. Ich, der ich mein ganzes Leben an der Küste zugebracht, der ich mich Tage lang in großen und kleinen Fahrzeugen auf den Wellen geschaukelt, der ich manchen Sturm, an Bord und von der Küste aus, mit nimmer müder Aufmerksamkeit und sympathetischem Grausen beobachtet hatte – ich glaubte, das Meer zu kennen, und sah jetzt, daß ich es nicht besser kannte, wie Jemand eine Bombe kennt, die er nicht hat explodiren, und Tod und Verderben rings um sich her hat streuen sehen. Nicht einmal in der Phantasie war ich der Wirklichkeit nahe gekommen. Das war nicht mehr die See, die aus Wasser bestand, welches kleinere und größere Wellen bildet, welche Wellen mit größerer oder geringerer Gewalt an das Ufer schlagen – dies war ein Scheusal, eine Welt von Scheusalen, die mit weit aufgerissenen, schäumenden Rachen, brüllend, heulend, schnappend dahergefahren kamen; – es war gar nichts Bestimmbares mehr: der Untergang aller Form, ja selbst aller Farbe, das Chaos, das hereinbrach, die Welt der Menschen zu verschlingen.

Ich glaube, daß wohl keiner in der ganzen Schaar war, auf den dieser Anblick anders wirkte. Ich sehe sie noch dastehen, die vierhundert, wie sie auf den Wall heraufgestürmt waren, mit bleichen Gesichtern, die starren Augen bald auf das heulende Chaos, bald auf den Nachbar gerichtet, und dann auf den Mann, der sie hierhergeführt, und der allein im Stande war, zu sagen, was hier geschehen solle, was hier geschehen könne.

Und niemals hat eine rathlose Schaar einen bessern Führer gehabt.

Der herrliche Mann! Ich sehe ihn mit dem treuen Auge der Liebe, das sinnend in die Vergangenheit blickt, so oft, in so vielen Situationen, und immer sehe ich ihn schön und groß; aber in keinem Augenblicke schöner und größer als in diesem, wie er dastand auf dem höchsten Punkte des Walles, sich festhaltend an der Flaggenstange, die er dort hatte aufrichten lassen; – schöner und größer und heldenhafter! Ja! Heldenhaft war seine Haltung und heldenhaft sein Auge, das die Gefahr und die Abhilfe in einem Blick umspannte, und heldenhaft war die Stimme, die unermüdet, mit scharfem klaren Ton, in knappen, bestimmten Worten die nötigen Befehle ertheilte! Die mußten hinab in die Hafengassen und an leeren Fässern und Kasten und Kisten herbeischaffen, was sie konnten; die mit Spaten und Schaufeln und Karren und Körben hinauf auf die Bastion, wo es Erde in Ueberfluß gab; die mit Sägen und Beilen und Stricken hinüber in das benachbarte Glacis, die jungen Bäume zu fällen, die seit Jahren auf einen Feind warteten, der heute gekommen war; die auf die nahe gelegene Lastadie, die Schiffszimmerleute aufzufordern, mit Hand an's Werk zu legen und ein paar Dutzend große Balken, die wir nothwendig brauchten, sei es mit Güte, sei es mit Gewalt herbeizuschaffen. Noch war keine halbe Stunde vergangen und die mit genialer Umsicht angeordnete Arbeit war im vollen Gange. Hier wurden Körbe mit Erde in die Lücken gesenkt, die das Meer in den Wall riß, dort Pfähle eingeschlagen und mit Zweigen durchflochten, dort eine Balkenwand aufgeschichtet. Und das trieb und hastete sich, und grub und schaufelte und hämmerte und karrte und schleppte Centnerlasten herbei mit einer Emsigkeit, mit einer Kraft, mit einem starken, opferfreudigen Muth, daß mir noch jetzt die Thränen in die Augen kommen, wenn ich daran denke; wenn ich denke, daß dies dieselben Menschen waren, welche die Gesellschaft von sich ausgestoßen, dieselben Menschen, die vielleicht um weniger Brocken willen, um eines kindischen Gelüstes, zum Dieb geworden; dieselben Menschen, die ich so oft verdrossen durch die Höfe der Anstalt an die Arbeit hatte schleichen sehen; dieselben Menschen, die gestern Abend der Sturm, der an die Mauern ihres Gefängnisses schlug, zu rasender Angst hatte aufregen können! Da lag die Stadt unter ihnen: sie konnten hineinstürzen und rauben, brennen und morden nach Herzenslust – wer sollte es ihnen wehren? Da lag die weite Welt offen vor ihnen: sie durften nur davon- und hineinlaufen – wer sollte sie zurückhalten? Hier war eine Arbeit, schwieriger, mühsamer, gefährlicher, als eine, die sie je gethan – wer konnte sie dazu zwingen? da war der Sturm, vor dem sie gestern gezittert, in seiner scheußlichsten Gestalt – warum zitterten sie heute nicht? Warum gingen sie scherzend, lachend in die offenbare Todesgefahr, als es galt, den großen Schiffsmast, der vom Hafen hergetrieben war, und jetzt von den Wellen als Sturmbock gegen den Wall geschleudert wurde, hereinzuholen? Warum? Ich meine, wenn alle Menschen dies Warum mit mir in gleicher Weise beantworteten, dann gäbe es keine Herren und Knechte mehr, dann sänge man nicht mehr das alte traurige Lied vom Hammer, der kein Amboß sein will, dann – doch warum ein Warum beantworten wollen, das nur die Weltgeschichte beantworten kann? Warum die Ahnung unseres Busens herausstellen in die Welt, die gleichgültig daran vorübertreibt, ohne hinzublicken, vielleicht nur hinblickt, um darüber zu spotten! –

Wer diese Arbeit sah, wer diese Menschen sich die Haut von dem Fleisch und das Fleisch von den Knochen reißen sah in ihrer gewaltigen, fürchterlichen Arbeit, der lachte nicht, und wer es sah, das waren die armen Bewohner der Hafengassen, Weiber und Kinder zumeist – denn die Männer mußten mit arbeiten –, die herbeikamen und unten im Schutze des Walles standen und mit sorgenvollen, erstaunten Mienen hinaufschauten zu den Graujacken dort oben, die sie sonst nur mit mißtrauischen, scheuen Blicken von weitem beobachteten, wenn dieselben, in kleinen Trupps von einer kleinen Außenarbeit kommend, durch die Straßen geführt wurden. Heute hatten sie keine Angst vor den Graujacken; heute beteten sie, daß ihnen Speise und Trank gesegnet sein möge, die sie selbst bereitwillig herbeitrugen. Sie hatten keine Angst vor den vierhundert Graujacken, sie wünschten höchstens, daß ihre Zahl sich verdoppeln und verdreifachen möge!

Aber es gab Leute, die weit aus dem Bereiche der Gefahr wohnten, um deren Gut und Leben es sich in diesem Augenblicke keineswegs handelte und die deshalb vollauf in der Lage waren, das Ungehörige und Ungesetzliche, das man hier zu vollführen wagte, bitter zu empfinden.

Ich erinnere mich, daß nach einander der Polizei-Director von Rabach, der Regierungs-Präsident von Krossow, der Generallieutenant und Commandant der Festung, Excellenz Graf Dankelheim kamen, und unsern Anführer mit Bitten, Befehlen, Drohungen bestürmten, seine gefürchtete Brigade wieder hinter Schloß und Riegel zu bringen. Ja, ich erinnere mich, daß sie gegen Abend zusammen da waren, einen gemeinschaftlichen Sturm zu versuchen, und ich muß noch heute lächeln, denke ich der heiteren Ruhe, mit welcher der Gute, Brave diesen Angriff zurückwies.

Was wollen Sie, meine Herren? sagte er. Wollen Sie wirklich lieber, daß Hunderte ihr Leben verlieren und das Eigenthum von Tausenden vernichtet wird, als daß ein Dutzend oder ein paar Dutzend dieser armen Schelme das Weite und die Freiheit suchen, die sie nebenbei heute redlich verdient haben? Und übrigens werde ich sie, wenn die Gefahr vorüber ist, zurückführen. Bis dahin soll mich Niemand von hier vertreiben, es sei denn, daß er mich mit Gewalt vertriebe, und dazu ist ja wohl glücklicherweise Keiner von Ihnen im Stande, meine Herren! Und nun, meine Herren, muß diese Unterredung zu Ende sein, das Dunkel bricht herein; wir haben höchstens noch eine halbe Stunde, unsere Vorbereitungen für die Nacht zu treffen. Ich habe die Ehre, meine Herren!

Und bei den Worten machte er eine Handbewegung gegen die drei Würdenträger, die mit unendlich armseligen Mienen davonschlichen, und wandte sich dahin, wo man seiner bedurfte.

In diesem Augenblicke mehr als je; denn es war jetzt – kurz vor dem Hereinbrechen der Nacht – als ob der Sturm seine ganze Kraft zu einem letzten, entscheidenden Angriff zusammennähme. Ich fürchtete, daß wir unterliegen würden, daß die sechsstündige, verzweifelte Arbeit vergeblich gewesen sei. Die Riesen-Wellen brandeten nicht mehr zurück – ihre Kämme wurden abgerissen und über den Wall herüber weit in die Straßen hineingeschleudert. Angstheulend stob die unten versammelte Menge auseinander; von uns Arbeitern vermochte kaum einer noch oben Stand zu halten, ich sah verwegene Gesellen, die bis dahin mit der Gefahr gespielt hatten, bleich werden und den Kopf schütteln und hörte sie sagen: Es ist unmöglich, es geht nicht mehr.

Und jetzt kam der schauerlichste Act in diesem furchtbaren Drama.

Ein kleines holländisches Schiff, das draußen auf der Rhede gelegen hatte, war von seinen Ankern getrieben, und wurde in der grauenhaften Brandung wie eine Nußschale hinüber und herüber, aus der Tiefe in die Höhe, aus der Höhe in die Tiefe und mit jeder Welle näher an den Wall geschleudert, den wir verteidigten. Wir sahen die verzweifelten Geberden der Unglücklichen, die in den Raaen hingen, wir hätten uns einbilden können, ihr Angstgeschrei zu hören.

Können wir nichts thun? rief ich, nichts? mich mit Thränen der Verzweiflung in den Augen an den Director wendend.

Er schüttelte traurig den Kopf. Das Eine vielleicht, sagte er, daß, wenn das Schiff bis oben hinauf geschleudert wird, wir versuchen, es festzuhalten, damit es die Brandung nicht wieder herabstrudelt. Gelingt es nicht, sind jene verloren, und wir auch, denn das hin- und hergeschleuderte Fahrzeug würde uns eine Bresche in den Wall schlagen, die wir unmöglich wieder ausfüllen können. Laß starke Pfähle einschlagen, Georg, und das eine Ende unserer dicksten Seile daran befestigen. Es ist eine schwache Möglichkeit nur, aber es ist doch eine. Komm!

Wir eilten zu der Stelle, an der das Fahrzeug voraussichtlich stranden mußte, und von der es nur noch wenige hundert Fuß entfernt war. Die Leute waren von dem Wall gewichen und hatten vor der maßlosen Wuth des Sturmes, wo sie konnten, Schutz gesucht, jetzt, als sie ihren Führer selbst die Axt in die Hand nehmen sahen, kamen sie alle wieder herbei und arbeiteten mit einer Art von Wuth, im Vergleich zu dem Alles, was sie bis jetzt geleistet, Kinderspiel gewesen.

Die Pfähle waren eingerammt, die Seile befestigt. Ich selbst und noch drei andere Männer, die für die stärksten galten, standen auf dem Wall, des rechten Augenblickes harrend. Furchtbare Momente, die dem Muthigsten das Blut in den Adern erstarren, die einem Jünglinge das braune Haar bleichen konnten!

Und das kaum für möglich Gehaltene gelang. Eine Riesenwelle kam herangebraust, auf ihrem Rücken das Fahrzeug. Und da bricht sie herein – eine Sündfluth, die sich über uns ergießt; aber wir stehen fest, wir krampften uns mit den Nägeln an die eingerammten Pfähle, und als wir wieder um uns blicken können, liegt das Schiff, wie ein verendeter Wallfisch auf der Seite, hoch oben auf dem Wall. Wir springen herzu, hundert Hände sind auf einmal beschäftigt, die Seile um die Masten zu schlingen, hundert Andere die bleichen Menschen – fünf an der Zahl – aus den Raaen, an die sie sich gebunden, herauszulösen. Es ist geschehen, ehe die nächste Welle hereinbricht. Wird sie uns unsere Beute entreißen? Sie kommt, und noch eine, und abermals eine; aber die Stricke halten: jede Welle ist schwächer als ihre Vorgängerin; die vierte erreicht nicht mehr den Rand, die fünfte bleibt noch weiter darunter; – in dem furchtbaren, unaufhörlichen Donner, der heute so viele Stunden unsere Ohren betäubt, tritt auf einmal eine Pause ein; die nach Osten gepeitschten Flaggen auf den schwankenden Masten der Schiffe des Binnenhafens hangen auf einmal herab und flattern dann nach Westen herüber; – der Sturm ist gebrochen; der Wind springt um – der Sieg ist unser!

Der Sieg ist unser! Ein Jeder weiß es in demselben Augenblick. Ein Hurrah, das nicht enden will, bricht aus den Kehlen dieser rauhen Menschen. Sie schütteln sich die Hände, sie fallen einander in die Arme. – Hurrah! Hurrah! und nochmals Hurrah!

Der Sieg ist unser – er ist theuer erkauft.

Als meine Augen ihn suchen, dem Alle Alles zu danken haben, finden sie ihn nicht auf der Stelle, wo ich ihn zuletzt gesehen. Aber ich sehe die Leute nach der Stelle laufen, und ich laufe mit ihnen, ich laufe schneller als sie, gejagt von einer Sorge, die mir Flügel verleiht. Ich dränge mich durch ein paar Dutzend, die in dichtem Haufen zusammenstehen, und alle vornübergebeugten Kopfes auf einen Mann blicken, der auf der Erde liegt, auf den Knieen des alten Wachtmeisters. Und der Mann ist todtenbleich, seine Lippen sind mit blutigem Schaum bedeckt und neben ihm rings umher ist die Erde mit Blut gefärbt, mit frisch vergossenem Blut, seinem Blut, dem Herzblut des Edelsten der Menschen.

Ist er todt? höre ich einen der Männer fragen.

Aber der Held hier darf noch nicht sterben; er hat noch eine Pflicht zu erfüllen. Er winkt mir, da ich mich über ihn beuge, mit den Augen und bewegt die Lippen, über die kein Laut mehr kommt; aber ich habe ihn verstanden, ich umfasse ihn mit beiden Armen und richte ihn empor. So steht sie nun aufrecht an mich gelehnt, die hohe, königliche Gestalt. Sie können ihn Alle sehen die Männer, die er hierher geführt, und die er jetzt zurückführen will. Und wieder winkt er mir mit den Augen nach seiner Hand, und ich nehme die schlaff herabhängende wachsbleiche und sie deutet in die Richtung des Weges, den wir heute Mittag gekommen sind. Und da ist Keiner, der dieser stummen, feierlichen Mahnung nicht zu gehorchen wagte. Sie schaaren sich zusammen, sie treten in Reihe und Glied; der Wachtmeister und ich, wir tragen den sterbenden Führer. So geht es zurück in langem, langsam feierlichen Zuge.

Die Nacht ist hereingebrochen, nur noch einzelne Sturmstöße sausen vorüber und erinnern an den Tag, den furchtbaren, den wir Alle durchlebt haben. Die Arbeitshäusler, die heute außer dem Hause gearbeitet haben, – sie schlafen auf dem Ruhekissen eines guten Gewissens, das ihnen ihr Director zur Nacht versprochen. Ihr Director schläft auch, und sein Kissen ist so sanft, wie der Tod für eine große, gute Sache es machen kann.

 

Ende des ersten Theiles.

 


 << zurück