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In tiefe, schwere Nacht, die eine lange, lange Fortsetzung des entsetzlichen Traumes ist, bis endlich dann und wann dämmernd Licht in diese Nacht fällt, dämmernd-sanftes Licht, vor welchem die Grauengestalten verbleichen und freundlicheren Platz machen. Die verschweben wieder in tiefe Nacht, aber es ist nicht mehr die alte, fürchterliche; es ist ein süßes Versinken in ein seliges Nichts, und jedesmal, wenn ich wieder daraus hervortauche, sind die milden Gestalten deutlicher, so daß es mir manchmal schon gelingt, sie von einander zu sondern, während sie anfänglich immer unmerklich in einander übergingen. Jetzt weiß ich bereits, daß, wenn der lange, schwarzgraue Schnurrbart vor meinem Gesichte auf und ab nickt, eine treue, gutmüthige Dogge da ist, die immer aus tiefer, breiter Brust knurrt, nur daß ich die Dogge nie zu sehen bekomme und manchmal meine, es sei der lange schwarzgraue Schnurrbart selbst, der so murre. Wenn der Schnurrbart braun ist, höre ich eine sanfte Stimme, deren Klang mir unendlich wohlthut, daß ich immer lächeln muß, glücklich lächeln, während, wenn ich die Dogge höre, ich laut lachen möchte, nur daß ich nicht lachen kann, weil ich keinen Körper habe, sondern eine Seifenblase bin, die aus der Bodenluke in meinem Vaterhause herausschwebt in die sonnige Luft, bis sich zwei Brillengläser in ihr spiegeln, die keinen Schnurrbart haben. Die Brillengläser machen mir viel zu schaffen, denn, wenn sie auch niemals einen Schnurrbart haben, so sind sie doch manchmal blau, und dann sind sie eine Frau; wenn sie aber weiß sind, sind sie ein Mann und haben eine quäkende Stimme; aber die blauen Gläser haben die sanfteste Stimme, noch sanfter als der dunkle Schnurrbart. Ich kann es nicht herausbekommen, wie das zugeht, und räthsle viel darüber, bis ich wieder einschlafe. Und als ich erwache, beugt sich Jemand über mich, der einen braunen Schnurrbart und braune Augen hat und gerade so aussieht wie Jemand, den ich kenne, obgleich ich mich nicht besinnen kann, wo und wann ich ihn gesehen habe. Aber es wird mir so wohl und wehe bei dem Anblicke des bekannten Unbekannten, weil mir ist, als ob ich ihm Unendliches zu danken hätte, obgleich ich gar nicht weiß was. Und dies Dankgefühl ist so lebhaft, daß ich seine Hand, die er auf meine Hände gelegt hat, langsam, leise – denn ich habe wenig oder keine Kraft – an die Lippen ziehe und die Augen schließe, aus denen selige Thränen über meine Backen rollen. Ich will auch etwas sagen, aber ich kann es nicht, und will mich darauf besinnen, und als ich die Augen wieder öffne, ist die Gestalt nicht mehr da, sondern das Zimmer ist leer und von einer lichten Dämmerung gefüllt, und ich schaue mich verwundert in dem Zimmer um.
Es ist ein mäßig großes, zweifenstriges Zimmer; an den Fenstern sind die weißen Gardinen herabgelassen und auf den Gardinen schwanken die Schatten von Weinranken auf und nieder. Ich sehe lange dem reizenden Spiele zu; es ist ein Bild meiner Gedanken, die ebenso hin- und herwiegen und einen Punkt festzuhalten suchen, es aber nicht vermögen und immer wieder herüber- und hinüberziehen. Dann blicke ich abermals in das Zimmer und jetzt finden meine Augen einen Ruhepunkt. Es ist ein Bild, das an der einfarbigen, lichtgrauen Wand mir gerade gegenüber hängt: ein schönes junges Weib mit einem Knaben auf dem Arm. Sanft und mild blicken die Augen der jungen Mutter, still und fast schwermüthig, als sänne sie einem großen Geheimnisse nach, während die Augen des Knaben unter der vorgewölbten Stirn über seine Jahre ernst, fast trotzig und groß, als könnten und wollten sie die ganze Welt umspannen, geradeaus in die Ferne, in die Unendlichkeit blicken.
Ich kann die Augen kaum von dem Bilde wenden. Meine Bewunderung ist sehr rein und unbefangen; ich habe keine Ahnung von dem Original und weiß nicht, daß dies eine ausgezeichnete Kreidezeichnung nach dem berühmtesten Bilde des Meisters der Meister ist; ich weiß nur, daß ich so etwas Schönes in meinem Leben noch nicht gesehen habe.
Unter dem Bilde hängt eine kleine Etagere mit zwei Reihen sauber gebundener Bücher. Unter der Etagere ist eine Commode, alterthümlich geschweift mit messingenen Griffen. Auf der Commode liegen Zeichnen-Materialien und, zwischen zwei kleinen, antiken Vasen aus Terracotta, steht ein Arbeitskörbchen, über dessen Rand ein Faden rother Wolle hängt.
Zwischen Fenster und Commode, offenbar auf die Seite gerückt, sehe ich eine Staffelei, auf der Staffelei ein umgekehrtes Reißbrett; auf der anderen Seite der Thür ein Pianino, dessen oberer Theil eine sonderbare leyerförmige Gestalt hat.
Ich weiß nicht, was mich plötzlich an Konstanze von Zehren denken läßt, vielleicht, daß mich das leyerförmige Instrument an ihre Guitarre erinnert hat. Es muß wohl sein, denn sonst erinnert dies Zimmer in nichts an jenes Konstanzens. So wunderlich wüst es dort aussah, so sauber und freundlich ist Alles hier; kein fadenscheiniger, zerrissener Teppich deckt die weißen Dielen, auf welchen sich die sonnebeschienenen Fenster abzeichnen, und abermals, aber schwächer als auf den weißen Gardinen die Schatten der Weinranken spielen. Nein, ich bin nicht auf Schloß Zehren, im ganzen Schlosse war kein Gemach wie dieses, so heiter, so rein; und Schloß Zehren, fällt mir ein, ist ja abgebrannt, bis auf den Grund, haben sie gesagt; ich kann also nicht auf Schloß Zehren sein, aber wo bin ich denn?
Ich blicke das schöne junge Weib auf dem Bilde an, als ob sie mir Antwort geben könnte; aber über dem Anblicke vergesse ich, was ich habe fragen wollen. Ich habe nur das Gefühl, daß es sich ruhig schlafen lasse, wenn solche Augen über Einem wachen, und wundere mich, daß der schöne Knabe den Kopf nicht an die Schulter, an den Busen der Mutter sinken läßt, die großen, trotzigen Augen schließt und süß schläft; ach, so süß!
Der lange, süße Schlaf hat mich wunderbar erquickt. Als ich erwache, richte ich mich ohne weiteres in die Höhe, stütze mich auf den Ellnbogen und starre Herrn Wachtmeister Süßmilch, der vor meinem Bette sitzt, verwundert in das braune, furchendurchzogene Gesicht mit den blauen Augen, der großen Habichtsnase und dem langen, schwarzgrauen Schnurrbart.
Der Alte blickt mich seinerseits nicht minder verwundert an. Dann zuckt ein freundliches Lächeln von dem Schnurrbart durch ein paar der allertiefsten Furchen hinauf in die blauen Augen, wo es verweilt und gar lustig blinkt und blitzt. Er legt drei Finger seiner rechten Hand an die Stirn und sagt: Serviteur!
Das kommt so drollig heraus, daß ich lachen muß. Ich kann jetzt lachen und der Alte lacht ebenfalls und sagt: Gut geschlafen?
Ja, sage ich, köstlich. Ich habe wohl lange geschlafen?
Ein wenig, morgen werden es acht Wochen, erwidert der Alte freundlich.
Acht Wochen, wiederhole ich mechanisch, das ist sehr lange, und ich streiche nachdenklich mit der Hand über den Kopf.
Der Kopf ist sonst mit sehr dichten, sehr krausen und trotzdem sehr weichen (nebenbei etwas röthlichen) Locken bedeckt; jetzt fühle ich nur ganz kurze Stacheln, wie bei einer Bürste, die noch dazu mit der Zeit arge Lücken bekommen hat.
Das ist doch sonderbar, sage ich.
Wird schon wieder wachsen, sagt der Wachtmeister tröstend, haben mich auch ritzeratzekahl geschoren, als ich dies da weg hatte – er zeigt auf eine tiefe Narbe über der rechten Schläfe, die in dem dichten, grauen Haar verläuft, und die ich jetzt zum ersten Male bemerke – ich habe doch wieder einen Schopf bekommen wie ein Bär –
Mit sieben Sinnen, füge ich hinzu und muß durchaus über meinen Witz lachen. Es scheint, daß ich einen Kinderkopf auf den breiten Schultern habe.
Der Alte lacht auch sehr herzlich, wird aber plötzlich ganz ernsthaft und sagt:
Nun aber schweige man und schlafe wieder wie –
Er beendet seine Lieblingsphrase nicht, augenscheinlich aus Besorgniß, mich zu neuer und für meine Verhältnisse schädlicher Lustigkeit aufzureden; aber ich lache trotzdem und streife dabei den Aermel meines Hemdes auf, der mir ungewöhnlich weit vorkommt.
Der Aermel ist nicht weiter als gewöhnlich, aber mein Arm ist dünner, so dünn, daß ich ihn kaum für den meinen halten kann.
Wird schon wieder stärker werden, sagt der Wachtmeister.
Ich bin wohl sehr krank gewesen? frage ich.
I nun, meint der Wachtmeister; es war dicht vor dem Zapfenstreich; aber ich habe immer gesagt: Unkraut vergeht nicht; und er reibt sich vergnügt die Hände. Aber jetzt hat man genug geschwatzt, fügt er in befehlendem Tone hinzu. Man hat strenge Ordre, sich, wenn man aufwachen sollte, auf keinen Disput einzulassen und sogleich Meldung zu machen, was nunmehro geschehen soll.
Der Wachtmeister will sich erheben; ich lege ihm die Hand auf eine seiner braunen Hände und bitte ihn, noch zu bleiben; ich fühle mich ganz kräftig, das Sprechen greife mich nicht im mindesten an, noch weniger das Hören, und ich möchte gern hören, wie ich in diesen Zustand gekommen, in welchem ich mich befinde; wer die Leute gewesen seien, die um mich gewesen, und deren Gestalten ich durch den Nebel meiner Träume habe gleiten sehen? Ob nicht auch eine gute, große Dogge dagewesen sei, die mich beschützt und dazu aus tiefer Brust geknurrt habe?
Der Alte sieht mich bedenklich an, als meine er, es sei doch noch nicht ganz richtig unter dem borstigen, halbkahlen Schädel, und die höchste Zeit, daß er Rapport abstatte. Er legt meine Hände auf die Bettdecke und sagt: So, so! glättet das Kopfkissen und sagt wieder: So, so! und ich thue ihm den Gefallen und schließe die Augen und höre, wie er leise aufsteht und sich auf den Fußspitzen entfernt; aber die Thür hat sich kaum hinter ihm geschlossen, als ich die Augen wieder öffne und resolut daran gehe, mir selbst die Fragen, die ich dem Alten vorgelegt habe, zu beantworten.
Und nach und nach – gerade wie aus einem Nebelmeer, auf das wir von einem hohen Berge herabblicken, hie und da einzelne lichte Punkte auftauchen, ein sonnebeschienenes Kornfeld, eine Hütte, ein Stück Weges, ein kleiner See mit grasigen Ufern und endlich die ganze Landschaft klar vor uns liegt, bis auf wenige Stellen, über welchen noch graue Streifen sich breiten, die langsamer als die andern die Bergschluchten aufwärts ziehen – gerade so löste sich vor meinem inneren Auge die Nacht der Vergessenheit, in welche für mich meine jüngste Vergangenheit während meiner Krankheit versunken gewesen war. Ich erinnerte mich wieder, daß ich, und warum ich im Gefängnisse, daß der alte Mann mit dem langen Schnurrbart nicht mein guter Freund und Krankenwärter, sondern mein Schließer war; daß ich mich mit dem Gedanken getragen hatte, ihn zu erschlagen, wenn es sein mußte, damit ich wieder frei würde; und so an Alles, was geschehen war, bis auf den letzten schrecklichen Tag, an diesen aber nur sehr verworren, sehr dunkel, so verworren, so dunkel, wie diese Erinnerung bis auf heute in meiner Seele geblieben ist. Dunkel und peinlich; aber seltsam – dieses peinliche Gefühl wendete sich ausschließlich gegen mich selbst. Der Haß, die Erbitterung, der Groll, die Verzweiflung, die Raserei der Leidenschaft – alle die Dämonen, die vorher in meiner Seele gehaust, sie waren verscheucht, als hätte sie ein Engel mit flammendem Schwert – der Todesengel vielleicht, der über mir geschwebt – vertrieben. Selbst jener Rest von Pein löste sich auf in Dankbarkeit, daß mir das Entsetzlichste erspart worden, daß ich auf meine abgemagerten Hände blicken konnte, ohne zu schaudern.
Und wie ich, also sinnend, dalag, und mein Blick auf das schöne, junge Weib fiel, die ihren Knaben so sicher im treuen, starken Mutterarme hielt; falteten sich unwillkürlich meine Hände; ich dachte meiner eigenen, so früh, viel zu früh für mich verstorbenen Mutter, und wie wohl Alles anders gekommen wäre, hätte sie immerdar schützend mit ihrem Arm mich umfassen, hätte ich in meinen jungen Leiden und Zweifeln an ihrem Busen Schutz und Rath und Trost suchen und finden können. Und auch meines Vaters dachte ich, der jetzt so einsam war, dessen Hoffnungen ich so bitter getäuscht, dessen Bürgerstolz ich so tief verwundet hatte, und dachte seiner – zum ersten Male – ohne allen Groll, nur mit dem Gefühle innigsten Mitleids mit dem armen, alten, verlassenen Manne!
Aber er wird ja leben bleiben, sagte ich, und ich bin ja auch nicht gestorben und werde leben und Alles wieder gut machen. Nein, nicht Alles, das Verlorene läßt sich nicht wieder gut machen, nur die Zukunft gehört mir, selbst im Gefängnisse!
Im Gefängnisse! aber war das ein Gefängniß, wo ich mich befand: dieses freundliche Zimmer, dessen Fenster nur mit nickenden Weinranken vergittert war, in welchem Alles auf ein friedlich-heiteres Stillleben der Bewohnerin deutete? –
Der Bewohnerin! ich weiß nicht, wie ich abermals auf diesen Einfall kam; aber ich konnte mich nicht davon losmachen, und da hingen auch wieder die rothen Wollfäden aus dem Arbeitskörbchen. Was hat ein Arbeitskörbchen mit rothen Wollfäden in dem Zimmer eines Mannes zu thun?
Ich sann und sann; ich konnte es nicht ergründen; der Nebelstreifen rückte nicht von der Stelle, ja schien sich auszubreiten zu einem dünnen Flor, der allmälig wieder die ganze Landschaft verdecken wollte. Nun wohl, ich hatte sie einmal gesehen und wußte, daß ich sie wiedersehen würde, auch daß ich die Stimmen wieder hören würde, die jetzt aus weiter, weiter Ferne an mein Ohr schlugen und zwischen denen ich doch noch das dumpfe Knurren meiner treuen Dogge und die sanfte Stimme unterschied, mit der die braunen Augen immer milden Glanzes in meine Nacht geleuchtet hatten.
Und als ich wiederum erwachte, war es wirklich Nacht oder doch so spät am Abend, daß das Nachtlicht in dem Astrallämpchen auf dem Tische bereits angezündet war, und bei dem matten Scheine des Lämpchens sah ich Jemanden vor meinem Bette sitzen, den ich nicht erkannte, da er den Kopf in die Hand stützte. Aber als ich mich regte und er den Kopf hob und mich fragte: Wie geht es Ihnen? wußte ich, wer es war. Die leise, sanfte Stimme klang immerfort in meinem Ohr; ich würde sie unter tausenden erkannt haben. Und jetzt, sonderbarerweise, ohne daß ich nur einen Augenblick nachzudenken brauchte, als hätte es mir während meines Schlafes Jemand ausführlich erzählt, wußte ich auch, daß das Haus, in welchem ich mich seit acht Wochen befand, in welchem man mich seit acht Wochen wie ein Kind des Hauses gepflegt, das Haus meines Directors, meines Kerkermeisters war, der heute gewiß nicht zum ersten Male an meinem Bette saß und wachte und der jetzt zu mir sprach, in so liebevollem Tone, wie nur ein freundlicher Vater zu seinem Sohne sprechen kann.
Er hatte, sich zu mir beugend, meine Hand ergriffen, indem er zu sprechen fortfuhr – Worte, die ich nur halb hörte vor einer anderen Stimme, die laut und immer lauter mit den Worten der Schrift in mir rief: Ich bin es nicht werth!
Ich konnte die Stimme nicht zum Schweigen bringen; ich bin es nicht werth! ich bin es nicht werth! rief es immer wieder, und endlich rief ich es laut: Ich bin es nicht werth!
Sie sind es, mein Freund, sagte die sanfte Stimme; ich weiß, daß Sie es sind; auch wenn Sie selbst es nicht wissen sollten.
Nein, nein, ich bin es nicht! sagte ich und das Herz schlug mir, als ich es sagte. Sie ahnen nicht, wen Sie beschützen, Sie ahnen nicht, wessen Hand Sie in der Ihren halten.
Und jetzt, jenem unwiderstehlichen Drange folgend, den ein in seinem Grunde ehrliches Gemüth antreibt, auf alle Fälle eine Güte abzulehnen, die uns nicht gebührt, beichtete ich meine schwere Schuld: wie ich entschlossen gewesen, Alles daran zu setzen, mich aus der Gefangenschaft zu befreien; wie ich die Annäherung des fürchterlichen Menschen nicht provocirt, aber doch geduldet; wie ich um das Complot gewußt, um die Stunde, in welcher es losbrechen sollte, und wie ich nicht wisse, weshalb mich der Muth zur Ausführung im letzten Augenblicke verlassen, daß ich meine Hand gegen die wendete, die ich freiwillig zu meinen Genossen gemacht, und als deren Mitschuldigen ich mich folglich betrachten müßte.
Der Director hatte mich ruhig sprechen lassen, nur daß er meine Hand, so oft ich ihm dieselbe im Verlaufe meiner Beichte entziehen wollte, jedesmal mit sanftem Drucke festhielt. Jetzt, als ich zu Ende, sagte er – und noch heute, nach so vielen Jahren, wenn ich in der Nacht erwache, glaube ich seine Stimme zu hören:
Lieber, junger Freund, nicht was uns unser Wähnen, Wollen, Wünschen als möglich, ja notwendig erscheinen läßt; nicht was wir glauben, thun zu sollen oder zu können, selbst nicht, was wir zu thun beschlossen haben, macht uns zu dem, was wir sind, sondern was wir in dem gegebenen Augenblicke wirklich thun. Der Feigling wähnt ein Held zu sein, bis ihn der Augenblick belehrt, daß er ein Feigling ist; der muthige Mann klügelt sich aus, er wolle sich nicht in Gefahr begeben, und stürzt sich, wenn der Ruf: Zu Hilfe! wirklich an sein Ohr schlägt, kopfüber in die Gefahr. Sie glaubten, Ihre Hand erheben zu können gegen einen Wehrlosen, und als Sie einen Wehrlosen in Mörderhand sahen, standen Sie auf für den Wehrlosen gegen den Mörder. Und sagen Sie nicht, Sie hätten nicht gewußt, was Sie gethan! Oder wenn Sie nicht wußten, was Sie thaten, so folgten Sie eben dem unwiderstehlichen Triebe Ihrer Natur, waren Sie eben in diesem Augenblicke erst recht – Sie selbst. Ich und die Meinen werden in Ihnen nun und immerdar den sehen, der mir das Leben gerettet mit Gefahr des eigenen Lebens.
Sie machen mich besser, unendlich viel besser, als ich in Wirklichkeit bin, murmelte ich.
Und thäte ich das, erwiderte er mit freundlichem Lächeln, giebt es eine höhere Wonne, als einen Menschen besser zu machen, als er ist? Aber Sie meinen, ich nähme Sie für besser, und auch das würde ich mir gefallen lassen. Hat doch selten Jemand so viel Gelegenheit als ich, zu erfahren, daß der sicherste, oft der einzige Weg, einen Menschen besser zu machen, der ist, ihn für besser zu nehmen. Wollte Gott, es würde mir, dies Geheimniß meines Handwerks anzuwenden, in jedem Falle so leicht, wie bei Ihnen! Und kann ich wirklich dazu beitragen, wie ich freudig hoffe, das edle Metall Ihrer Natur von den Schlacken zu reinigen, mit denen sie vielleicht noch vermischt ist; kann ich helfen, Sie selbst über sich selbst aufzuklären, Ihnen den Weg Ihres Lebens, den Sie dunkel vor sich sehen, auf dem Sie sich verirrt glaubten, vielleicht verirrt haben, zu erhellen, Sie mit Einem Worte zu dem zu machen, der Sie sein können und also sein müssen – nun, so hieße das nur gerecht sein gegenüber der Ungerechtigkeit, die Sie hierher gebracht, und so könnte ich für meinen Theil Ihnen den Dank abtragen, den ich Ihnen schuldete, noch bevor Sie einen Fuß in dies Haus setzten, geschweige denn, bevor Sie meinen Kindern den Vater, es sei nun, wie lange es sei, erhielten.
Das milde Licht der Lampe fiel in sein schönes, blasses Antlitz, daß es mit sanftem Glanze aus dem Dunkel sternengleich auf mich herabzuleuchten schien, und so kam seine sanfte Stimme zu meinem Ohr, wie eines guten Geistes Stimme, die in der Stille der Nacht zu einer hilfs- und heilsbedürftigen Seele spricht. Ich lag da, ohne mich zu regen, ohne ein Auge von ihm abzuwenden, hoffend, er werde weiter sprechen, ihn leise bittend, er möge weiter sprechen.
Es ist vielleicht egoistisch von mir, sagte er, wenn ich es thue, wenn ich, wo Ihre Seele zu frischem Leben erwacht und geneigt ist, mit frommen Kinderaugen in die wiedergewonnene neue Welt zu blicken, den Moment benütze, Sie mich kennen und, wenn es sein kann, lieben zu lehren, wie ich selbst Sie kenne und liebe; ich wiederhole, nicht seit heute. Ich kannte Sie, bevor Sie hierher kamen. Sie sehen mich verwundert an, und doch ist die Sache so einfach wie möglich. Ich habe meinen ältesten Bruder, trotzdem wir eigentlich nur unsere Kinder- und Knabenjahre zusammen verlebt haben und dann getrennt wurden, um uns niemals wieder recht zu gehören, ja in den letzten vierzehn Jahren nur wieder zu sehen, sehr geliebt, denn er war, was auch immer die Welt und die Leidenschaften später aus ihm gemacht haben, der Anlage nach die schönste, edelmüthigste, tapferste Menschenseele, die je aus der Hand der Natur hervorgegangen ist. Sie können sich denken, wie mich die Nachricht von seinem jähen Tode erschüttert hat, mit welcher schmerzlichen Begierde ich Alles in Erfahrung zu bringen suchte, was sich auf seinen Tod und die Veranlassung seines Todes bezog; wie eifrig ich eine Gelegenheit, die mir geboten wurde, benutzte, die Acten des Prozesses zu studiren, der sich an den Namen und die Thaten meines unglücklichen Bruders knüpfte und in den auch Sie in so unglückseliger Weise verwickelt waren. Aus diesen Acten habe ich Sie zuerst kennen gelernt. Ich bin oft in der Lage, von solchen Acten Einsicht nehmen zu müssen, und ich habe mich längst gewöhnt, in denselben zwischen den Zeilen zu lesen. Nie war diese Kunst mir nöthiger als in diesem Falle, denn niemals hat sich von aller psychologischen Einsicht entblößter Juristenverstand, oder vielmehr Unverstand ärger versündigt, als an Ihnen; niemals die Hand eines Sudlers aus einem leicht zu deutenden, tagklaren Jünglingsantlitz eine abscheulichere, schwarz in schwarz gezeichnete Carricatur gemacht. Fast von jedem Zuge, mit welchem die Anklage Sie ausstattete, glaubte ich das Gegentheil behaupten zu müssen und beweisen zu können. Und wenn es nicht mein Bruder, mein einst so heiß geliebter Bruder gewesen wäre, dessen Schuld Sie büßen sollten – wenn der ganze Prozeß mir so fremd gewesen wäre, wie er mich aus tausend Gründen anging und mich schmerzlich berührte – ich würde Ihre Sache zu der meinen gemacht, ich würde Sie zu retten versucht haben, wenn ich es gekonnt hätte. Ich konnte nichts für Sie thun; ich konnte nur meinen ganzen Einfluß aufbieten und ich habe ihn aufgeboten, daß Sie hierher kamen, anstatt nach N., wohin man Sie ursprünglich schicken wollte.
Sie kamen. Ich sah Sie, wie ich Sie mir vorgestellt; ich fand Sie, wie ich Sie mir gedacht. Was anders an Ihnen war, das war der Jüngling nicht, der wissentlich in dem Processe seine Sache verschlechtert, weil er hartnäckig jede Auskunft über seine Mitschuldigen verweigert, dessen treuherzige Offenheit in allen anderen Punkten jedes Herz, nur nicht das verschrumpfte eines Actenmenschen, hätte rühren müssen – das war ein Mensch, den man unter der Form des Gesetzes mißhandelt, dessen freie Seele die dumpfe Luft seines Kerkers verdüstert und der, um mit den Worten meines angebeteten Dichters zu reden: sich Menschenhaß aus der Fülle der Liebe trank. Es war Ihrer würdig, daß Sie keinen Hehl aus diesem Hasse machten, daß Sie, was Ihnen hier geboten wurde, und wonach Andere mit beiden Händen gierig gegriffen hätten, stolz zurückwiesen. Lassen Sie mich kurz sein. Die Krankheit, die in Ihnen schon lange brütete, der Sie mit Ihrer seltnen kraftvollen Natur nur so lange widerstanden, kam zum Ausbruch. Sie wollten in dem Wahnsinne Ihrer verstörten Sinne zeigen: Seht, das habt ihr aus mir gemacht! und der Erfolg bewies, daß Sie geblieben waren, der Sie sind. Man trug Sie für todt von dem Orte des Schreckens. Der schnell herbeigerufene Arzt gab zwar Hoffnung, aber nur der sorgfältigsten Pflege werde es vielleicht gelingen, Sie zu retten. Wo konnte Ihnen diese Pflege zu Theil werden als hier bei mir? Wer konnte treuer über Ihr Leben wachen als der, dem Sie es gerettet? Was galt mir in solchem Falle die Vorschrift des Hauses, was das Gerede der Leute? Wir trugen Sie in das erste Zimmer, das zufällig für unseren Zweck das beste war. Wir, das ist: mein Weib, meine Tochter, die älter ist als ihre Jahre, der alte, treue Süßmilch, der Arzt, den Sie lieben werden, wie er es verdient, – wir Alle haben – ich darf es sagen, denn es versteht sich von selbst – wacker und treu gekämpft mit dem Tode, der Sie bedrohte, und die Frauen haben geweint und die Männer haben sich die Hände geschüttelt, als Ihre herrliche Natur machtvoll den Feind zurückwarf, als der Arzt vor acht Tagen unter uns trat und sagte: er ist gerettet. Und nun, lieber junger Freund, genug, vielleicht schon zu viel für heute. Wenn Sie aus unserer Unterredung den Eindruck empfangen und in Ihren Schlaf mit hinübernehmen, daß Sie unter Freunden sind, die Sie lieben, so ist das Alles, was ich gewollt. Ich höre Süßmilch kommen; ich wollte ihn heute Nacht ablösen, aber er behauptet, seinen Gefangenen nicht verlassen zu dürfen. Schlafen Sie sanft!
Er strich mir leicht mit der Hand über Stirn und Augen und schritt aus dem Zimmer. Meine Seele war erfüllt von seinen Worten. So hatte noch nie ein Mensch mit mir gesprochen. War ich es wirklich? war meine verdüsterte Seele in der langen Krankheit entschwebt und hatte einem reineren, helleren Geiste Platz gemacht? Gleichviel wie es war – es war köstlich, zu köstlich fast, als daß es bleiben konnte. Aber festhalten wollte ich es, so lange als möglich, wie man den Nachklang einer süßen Melodie festzuhalten sucht. Ich regte mich nicht, als ich ein leises Geräusch im Zimmer vernahm, als mein treuer Wächter seine Vorbereitungen für die Nacht traf.
Wie hätte ich nicht sanft schlafen sollen, so reich gesegnet! Wie hätte ich nicht ruhig schlafen sollen, so treu bewacht!