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Dreiundzwanzigstes Capitel.

Seit vierzehn Tagen arbeitete ich; die schwerste Arbeit, die es für den Augenblick im Bereiche des Arbeits-, Zucht- und Gefangenhauses gab. Ich hatte das keineswegs nöthig, weder nach dem Buchstaben des Gesetzes, welches nur vorschrieb, daß die Gefangenen ihren Fähigkeiten gemäß zu beschäftigen seien, noch auf Befehl des Directors, der mir im Gegentheil die Art meiner Arbeit vollkommen freigestellt hatte. Ja, noch mehr: er hatte mir angeboten, ob ich gewisse Listen aufstellen und Rechnungen anfertigen wolle, die gerade in dem Bureau der Anstalt verlangt wurden und zu denen ich das Material auf meine Zelle erhalten solle. Zu meiner Erholung würde ich in dem großen Garten der Anstalt, der gerade jetzt erweitert wurde, vollauf Gelegenheit zu angenehmer und gesunder Beschäftigung finden.

Ich hatte erwidert, daß ich – und hier hatte ich allerdings die Wahrheit gesagt – von jeher ein schlechter Rechner gewesen und daß ich von der Gärtnerei nichts verstünde. Ich wünschte, wenn ich doch einmal einen Wunsch äußern dürfe, eine schwere, eine ganz schwere Arbeit. Der Herr Director habe ja selbst schon angedeutet, daß für einen Menschen von meiner Constitution eine derartige Arbeit die passende sei. Ich habe es allerdings im ersten Augenblicke verneint, aber mir die Sache reiflicher überlegt und gefunden, daß der Herr Director vollkommen recht habe. Ja, ich müsse gestehen, daß ich ein unwiderstehliches Verlangen empfinde, Holz zu spalten, Steine zu zerschlagen, große Lasten zu bewältigen.

Auch hier hatte ich nicht gelogen. Mein starker Körper litt wirklich schwer unter der erzwungenen Unthätigkeit. Aber es waren noch ganz andere Gründe, die mich bestimmten. Wie, mir selbst kaum bewußt, die Rücksicht auf meinen Vater für mein Thun und Lassen bestimmend war, wie ich aus Trotz gegen ihn von ihm geflohen, wie ich aus Trotz gegen ihn mich selbst dem Gerichte gestellt hatte, so war es wiederum Trotz, was mich jetzt die Unterstützung, die er mir zugesagt, zurückweisen und mir die gröbste Arbeit wünschenswerth erscheinen ließ. Er sollte nicht nur nicht sagen können, daß ich, selbst im Gefängnisse, ihm zur Last falle; er sollte erfahren, daß sein Sohn es nicht besser habe als ein Verbrecher, der ich ja doch in seinen Augen war!

Und ebensowenig wollte ich, daß der sanft redende Direktor sagen könnte: Ich habe bei dem jungen Menschen, der ja doch guter Leute Kind ist, Gnade für Recht ergehen lassen.

Und schließlich: eine grobe Arbeit, wenn man mir sie gab, und die doch wohl jedenfalls im Freien vorgenommen wurde, mußte mir bessere Chancen zur Ausführung des Planes gewähren, über dem ich jetzt Tag und Nacht brütete, des Planes, mit List oder Gewalt, oder mit List und Gewalt mir meine Freiheit zu verschaffen.

Nun wäre freilich die mir angebotene Beschäftigung im Gefängnißgarten vielleicht diesem Zwecke förderlicher gewesen. Es ließ sich annehmen, daß die Aufsicht dort eine ziemlich lässige sein würde, besonders für mich, den der Director aus diesem oder jenem Grunde so augenscheinlich begünstigen zu wollen schien; aber hier regte sich in mir ein Gefühl, das für Jemanden in meiner Lage allerdings etwas sonderbar erscheinen mag und dessen ich mich vielleicht doch nicht zu schämen hatte.

Ich wollte ein Vertrauen, welches man in mich setzte, nicht mißbrauchen. Ich hatte das wissentlich in meinem Leben nicht gethan, ich wollte es jetzt nicht lernen, auch als Gefangener nicht, auch um den Preis der so heiß ersehnten Freiheit nicht. Ließ man mich, wie ich es wünschte, als Zuchthäusler mit den Zuchtäuslern arbeiten, so würde man mich auch wohl jedenfalls wie einen Zuchthäusler behandeln, und that man es nicht, nun, um so schlimmer für sie, die mich nicht für das genommen hatten, als für was ich mich gab; um so besser für mich, der ich keine Schonung beansprucht hatte und nun auch Niemand und nichts zu schonen brauchte.

Diese Gedanken gingen durch meinen Kopf, als ich an dem nächsten Tage wieder vor dem Director stand – diesmal unten in seinem amtlichen Arbeitszimmer – und ihm meine Bitte vortrug.

Er blickte mich mit seinen großen milden Augen prüfend an und erwiderte:

Wer immer gezwungen in diese Anstalt kommt, ist ein Unglücklicher, der als solcher von vornherein meines Mitleids gewiß sein kann. Wenn mir Ihr Schicksal noch ganz besonders nahegeht, so ist das so begreiflich, daß es einer Erklärung kaum bedarf. Sie haben die Theilnahme, mit der ich Ihnen entgegengekommen bin, abgelehnt, ohne mich zu beleidigen. Nach dem, was ich von Ihnen weiß, nach der Haltung, die Sie während Ihres Prozesses behauptet haben, mußte ich das fast erwarten. Ob Sie recht daran thun, die Unterstützung, die Ihnen Ihr Herr Vater gewähren will, zurückzuweisen, möchte ich bezweifeln, schon deshalb, weil Sie sich demselben dadurch noch mehr entfremden und weil man in jedem Falle seinem Vater so viel schuldig ist, daß man auch eine Demüthigung von ihm und vor ihm auf sich nehmen darf. Doch muß ich dies Ihrem eigenen Gefühle überlassen. Wollen Sie sich nun durchaus in die Lage eines unbemittelten Gefangenen bringen, der für seinen Unterhalt arbeiten muß, so hatte ich Ihnen, wie Sie wissen, eine andere, Ihren Fähigkeiten, Ihren Kenntnissen passendere Beschäftigung zugedacht. Sie sagen, eine schwere, eine ganz schwere Arbeit sei Ihnen Bedürfniß. Es mag sein. Sie sind ein ganz ungewöhnlich kräftiger Mann – ein Herkules im Vergleich mit mir armen Invaliden – und die eingeschlossene Luft eines Gefängnisses ist Gift für Ihre Konstitution. Nicht blos für Ihren Körper, auch für Ihre Seele. Sie sind durch die lange Untersuchungshaft, die über alle Gebühr streng gewesen zu sein scheint, auf's tiefste verbittert. Sie werden, ich bin es überzeugt, wieder der großherzige, gutmüthige, brave Mensch werden, der Sie von Haus aus waren, der Sie in meinen Augen noch sind, wenn Sie erst einmal wieder die breite Brust in freier Luft haben lüften können und die stockenden Säfte bei schwerer Arbeit wieder munter kreisen. Auch brauchen Sie vielleicht für die Leidenschaften, die in Ihnen wühlen, ein mächtiges Gegengewicht. So bin ich denn, Alles in Allem, gern geneigt, Ihrem Wunsche zu willfahren; Süßmilch soll Ihnen Ihren Posten anweisen. Ich sage Ihnen aber vorher: es ist Sträflingsarbeit und Sie werden in sehr schlechte Gesellschaft kommen; um so eher werden Sie sich darauf besinnen, daß Sie ein guter Mensch sind.

Er winkte mir freundlich mit Hand und Augen und ich war entlassen. Mir waren, ich weiß nicht wie, die Thränen in die Augen gekommen, als ich mich von ihm nach der Thür wendete, aber ich zerdrückte sie zwischen den Wimpern und sagte bei mir: das ist Alles sehr schön, aber ich will nicht gut sein – ich will frei sein.

In der äußersten Ecke der Ringmauer der Anstalt, auf einem etwas erhöhten Platze wurde ein neues Krankenhaus erbaut. Anschlag, Pläne, Zeichnungen, Alles war von dem Director, der ein vollkommener Baumeister war, selbst gefertigt. Die Arbeit, vor Allem die erste grobe, sollte von den Zuchthäuslern gethan werden. Man war dabei, das Fundament auszuheben. Es war eine sehr schwere Arbeit. Auf dem Platze hatte ehemals ein alter Thurm der Stadtmauer gestanden, dessen durch die Jahrhunderte zu Schutt zerriebene und durch die Verwitterung wieder zu einer compacten Masse zusammengewachsene Trümmer mit der Spitzaxt losgebrochen werden mußten, bis man auf die Grundmauern kam, die man zum Theil noch für das neue Gebäude verwerten zu können hoffte.

Bei dieser Arbeit waren ungefähr zwanzig Leute beschäftigt. Die Oberaufsicht führte der Wachtmeister Süßmilch, der, da ich zur Zeit der einzige Gefangene der Anstalt und jetzt hier auf dem Platze war, nichts Besonderes zu thun hatte; für die Zuchthäusler waren noch zwei Aufseher vorhanden.

Von diesen, welche meist jüngere, jedenfalls kräftige, zu solcher Arbeit taugliche Männer waren, sahen – in meinen ungeübten Augen wenigstens – die Meisten aus, wie andere Leute auch aussehen würden, wenn man sie in einen Drillichanzug steckte, sie unter der Aufsicht von zwei handfesten Wächtern arbeiten ließe und ihnen verböte, zu rauchen, zu pfeifen, zu singen und leise untereinander zu sprechen. Das letztere fiel mir erst auf, als Süßmilch Einem oder dem Anderen, der mit seinem Nachbar eine private und vertrauliche Conversation anzuknüpfen versuchte, in sehr bestimmtem Tone die Weisung gab: Man hat hier keine Geheimnisse vor einander; man kann hier Alles laut sagen; man kann es auch für sich behalten.

Besonders an einen der Zuchthäusler erging diese Mahnung wiederholt, mit dem Zusatze, daß er alle Ursache habe, sich in Acht zu nehmen.

Es war dies ein Kerl von herkulischem Körperbau, der Einzige, der wirklich das hatte, was man eine Galgen-Physiognomie zu nennen pflegt, und der sein kostbares Leben auch nur dem Umstande verdankte, daß eine Mordthat, deren er dringend verdächtig gewesen, in den Augen seiner gelehrten Richter nicht hinreichend hatte bewiesen werden können. Er hieß Caspar – seinen sonstigen rühmlichen Namen habe ich vergessen – die Gefährten nannten ihn Katzen-Caspar, weil er das Geheimniß verstehen sollte, im Dunkeln zu sehen wie am lichten Tage und trotz seiner gewaltigen Schultern durch Löcher kriechen zu können, durch die sonst nur eine Katze schlüpfen mochte.

An diesem, mit so vortrefflichen Gaben ausgestatteten und in so nützlichen Künsten bewanderten Menschen hatte ich vom ersten Tage an eine Eroberung gemacht. Während die Andern mich mit mißtrauischen Blicken von der Seite ansahen, mich sichtlich mieden und nie ein Wort an mich richteten, suchte der Katzen-Caspar, so oft es sich irgend machen ließ, in meine Nähe zu kommen, winkte mir verstohlen mit den Augen, sah dann nach den Aufsehern hinüber und gab mir auf alle Weise zu verstehen, daß er mit mir in intimere Beziehungen zu treten, vor Allem natürlich zu sprechen wünsche.

Ich kann nicht anders sagen, als daß ich ein geheimes Grauen vor dem Kerl empfand, den freilich das tief in die niedrige Stirn gewachsene Haar, ein Paar böse, giftige Augen und ein großer thierischer Mund deutlich genug zeichneten und vor dem sich wohl Jeder gehütet haben würde, auch wenn er nicht gewußt hätte, daß schnöde vergossenes Blut an diesen plumpen Händen klebte. Aber ich überwand das Grauen, denn ich sagte mir, daß dieser Mensch die Entschlossenheit zu einem Wagniß habe, und Verschlagenheit und Kraft genug, das Beschlossene auszuführen. So suchte ich denn auch meinerseits wieder in seine Nähe zu kommen, und das war mir – am vierzehnten Tage, seitdem ich auf dem Platze arbeitete – kaum gelungen, als ich die Entdeckung machte, daß der Katzen-Caspar außer den anderen mir bereits durch Hörensagen bekannten Künsten noch eine besaß, die, wie ich mich überzeugt habe und wie sich Jeder, der den Versuch anstellt, überzeugen kann, auch gelernt sein will. Diese Kunst bestand nämlich darin, daß er, mit zum Munde erhobener Hand, die Miene eines Gähnenden täuschend nachahmend, während er den Mund öffnete und schloß, mit Hülfe von Zunge und Zähnen gehauchte Laute zu bilden verstand, die, wenn man genau hinhörte, sich, man wußte selbst kaum wie, zu Worten formten. So hörte ich zu meiner nicht geringen Ueberraschung aus dem natürlichsten Gähnen von der Welt deutlich heraus: Der große Stein! helft mir!

Was das zu bedeuten hatte, erfuhr ich wenige Minuten später.

Es waren gerade in den letzten Tagen Steine zum Fundament angefahren worden; ein besonders großer war durch die Ungeschicklichkeit der Leute vom Wagen herab in die Fundamentgrube gerollt; es schien unmöglich, den Coloß ohne besondere Vorrichtungen von dem Platze, auf welchen er keineswegs gehörte, hinauszuschaffen.

Wachtmeister Süßmilch fluchte sehr über die verhenkerte Dummheit. Das gäbe nun wieder ein paar Stunden ganz überflüssige, nutzlose Arbeit. Katzen-Caspar, nachdem er mir die geheimnißvollen Worte hatte zukommen lassen, erhob plötzlich sehr laut seine Stimme, die so leise zu sprechen verstand, und sagte:

Was ist denn das Großes, Herr Süßmilch? den bringe ich ganz allein wieder herauf.

Wenn es mit dem großen Maule gethan wäre, brummte Herr Süßmilch.

Die Anderen lachten. Katzen-Caspar sagte, sie wären Maulaffen, und es sei eine rechte Kunst, über einen ehrlichen Kerl Witze zu machen und zu lachen, der nicht zeigen dürfe, was er könne.

Katzen-Caspar kannte seinen Mann. Des ehrlichen Wachtmeisters Gesicht wurde roth, er strich seinen langen Schnurrbart und rief: Erstens raisonnire man nicht, und zweitens wird man jetzt zeigen, was man kann.

Katzen-Caspar ließ sich die Erlaubniß nicht zum anderen Male geben. Eine mächtige Stange ergreifend, sprang er in den Graben hinab.

Der Stein lag an dem mit Brettern bedeckten Wege, auf welchem der unten losgebrochene Schutt heraufgekarrt wurde. Eine Riese hätte ihn also mittelst eines Hebebaums nach und nach heraufwuchten können; Katzen-Caspar bewies, daß er wenigstens mehr als gewöhnliche Kraft besaß.

Die Stange unter den Stein schiebend, brachte er denselben so weit in Bewegung, daß nur noch wenig zu einem einmaligen Umschwung fehlte. Es war wirklich eine so erstaunliche Leistung, daß die Leute Hurrah schrieen, und selbst das Interesse des Wachtmeisters und der beiden anderen Aufseher höchlichst erregt war. Plötzlich aber schien dem Katzen-Caspar die Kraft auszugehen; er sah aus, als ob er jeden Augenblick von dem wieder zurückstrebenden Stein gegen die Erdwand gequetscht werden könnte.

Einer muß noch her, schrie er.

Ich dachte nicht daran, daß das Ganze eine Kriegslist des schlauen Menschen war. Einen zweiten Hebebaum ergreifend, und ohne die Erlaubniß des Wachtmeisters abzuwarten, sprang ich mit Einem Satze hinab, schob den Hebebaum unter den Stein, stammte die Schulter mit aller Macht dagegen; der Stein schlug nach der andern Seite.

Hurrah! schrieen die Leute.

Langsam, Kamerad! sagte Katzen-Caspar, als ich an seiner Seite mich an dem Stein abmühte, langsam, sonst sind wir zu bald oben.

Er brauchte jetzt nicht zu gähnen, die Aufregung unter den Leuten und Aufsehern war zu groß, als daß die Arbeitsordnung nicht für die Zeit hätte suspendirt sein sollen; auch befanden wir uns mindestens zwölf Fuß tiefer; man sah von oben nur unsere Rücken. Katzen-Caspar wußte diese Gelegenheit trefflich auszubeuten. Während wir Schulter an Schulter den Stein hinaufwuchteten, wechselte er mit denen oben unfeine Witze und zwischendurch sprach er zu mir schnell in abgerissenen Sätzen: Wollt Ihr mithalten, Kamerad? so gut kommt es uns nicht wieder – es gehören aber mindestens zwei Kerle dazu, so wie Ihr und ich – es sind noch ihrer zehn – aber zwei müssen anfangen – Keiner hat außer mir den Muth – und nun hoffentlich Ihr – morgen ist der letzte Tag – durch die Pforte über die Brücke, über den Wall an den Außenhafen, an den Strand – folgt mir nur – will Euch schon durchbringen – wer uns in den Weg tritt, den schlagen wir todt – den schuftigen Süßmilch zu allererst. – Wenn Ihr uns verrathet –

Man arbeite und schwatze nicht! rief der Wachtmeister.

Ich kann nicht mehr! sagte der Katzen-Caspar, den Hebebaum zur Erde werfend.

Er hatte seinen Zweck erreicht; es lag ihm nichts daran, seine Kraft zu vergeuden.

Man komme herauf! commandirte der Wachtmeister, sehr zufrieden, daß er schließlich doch Recht und doppelt Recht behalten hatte, da die zwei stärksten Männer der Brigade nicht hatten vollbringen können, was der Katzen-Caspar sich allein vermessen.

Die Ordnung war wieder hergestellt, die Arbeit nahm ihren geregelten Fortgang. Ich arbeitete für zwei, die Aufregung zu verbergen, in welche mich die Mittheilung des Raubmörders versetzt hatte. Sein Plan war mir von vornherein ziemlich einleuchtend gewesen und wurde mir vollends klar, als ich eine Gelegenheit benutzte, mich auf dem höchsten Punkte des Bauplatzes, von wo man über die Mauer sehen konnte, umzublicken. Unmittelbar an dem Bauplatze war ein Thor in der Mauer, das während des Baues wiederholt benutzt worden war, und zu welchem der Wachtmeister den Schlüssel in der Tasche trug. Von dem Thore führte eine kurze Brücke, die wiederum auf der Mitte eine mit spanischen Reitern verwahrte Pforte trug, über einen breiten Graben, der ehemals der Wallgraben der Stadt gewesen war, wie unsere Gefängnißmauer an dieser Stelle nur ein Theil der alten Stadtmauer. Jenseit des Grabens war eine hohe Bastion, an deren Fuße sich die mit Wallnußbäumen besetzte Wallpromenade hinzog und auf der oben ein paar Kanonen standen, ohne daß ich jemals eine Schildwache dort bemerkt hätte. Rechts von der Bastion lag ein bedeutend niedrigerer Wall, über den man von meinem Standpunkte aus bequem wegsehen konnte. Jenseit des Walles sah ich die Wimpel von Schiffen, es mußte dies der Außenhafen sein, von welchem der Katzen-Caspar gesprochen. Zwischen den Wimpeln schimmerte ein Stück blaues Meer; ja ich hatte einen flüchtigen Blick auf die Insel, deren niedrige Kreide-Ufer in der Abendsonne erglänzten.

Ich hatte genug gesehen und beeilte mich, herabzusteigen, um keinen Verdacht zu erregen. Gleich darauf ertönte die Abendglocke. Die Arbeit war zu Ende; ich trat in Begleitung des Wachtmeisters den mir nun wohlbekannten Weg an den Gärten entlang über den Wirthschaftshof nach meiner Zelle an.

Diese Nacht kam kein Schlaf in meine Augen. Ich überlegte fortwährend in meiner Seele die Möglichkeiten der Flucht. Daß des Katzen-Caspar's Plan Hand und Fuß habe, davon war ich jetzt überzeugt, und nicht weniger, daß ein so schlauer, kühner Geselle ganz der geeignete Mann sei, das Beschlossene durchzuführen. Das Local konnte nicht günstiger sein: ein hoher Wall, ein Außenhafen mit Booten, Fahrzeugen aller Art, ein weiter menschenleerer Strand, und drüben die Insel, die ich schlimmstenfalls schwimmend zu erreichen sicher sein konnte. Und war ich erst drüben – ich wußte jetzt, wie man von dort wieder fortkam, wie leicht es war, fortzukommen. Noch waren meine Kleider bei der alten Frau im Stranddorf und meine Flinte war da und meine Jagdtasche. Dann lebe wohl Untersuchungshaft und Gefängniß, lebe wohl preisliches Richter-Collegium und Vertheidigung, Zuchthaus-Director und Scherge! Ich war ein freier Mann und konnte eurer spotten; und eurer, ihr guten Bewohner meiner Vaterstadt, die ihr mir ein so schlechtes Zeugniß ausgestellt! Und der Vater – nun ja, der Vater mochte sehen, wie er sich mit seinem Gewissen abfand gegen den Sohn, den er durch seine Härte von sich gestoßen, den er – und er allein – zum Verbrecher gemacht hatte.

Ich war es bis jetzt nicht gewesen; ich wußte, ich würde es jetzt werden; ja ich fühlte mich schon als solcher. Oder machte die Gemeinschaft, die bloße Berührung eines Menschen, wie dieser Katzen-Caspar, nicht schon zum Verbrecher? Und das war ja klar, daß es ohne ein wirkliches, eigentliches Verbrechen, daß es ohne Mord und Todtschlag nicht abging. Der Wachtmeister hatte die Schlüssel zu dem Thore und zu der Brückenpforte in der Tasche; der Wachtmeister sah wahrlich nicht aus wie Einer, der gutwillig nachgiebt und hergiebt, noch dazu in einem solchen Falle. Dann waren noch die beiden anderen Aufseher da, die ebenfalls keine Hasenherzen zu sein schienen. Die Drei würden sich widersetzen, so lange sie sich regen könnten. Sie mußten zu Boden geworfen werden, und im ersten Anlauf, und womöglich so, daß sie nicht wieder aufstanden; denn zur Verwirrung mußte sich der Schrecken gesellen, wenn die Flucht gelingen sollte!

Ich richtete mich von meinem Lager auf, das Herz schlug mir wild gegen die Rippen. Auf mich rechnete der Katzen-Caspar in erster Linie; er hatte vollkommen recht: nur wenn Zwei zu gleicher Zeit losbrachen, war eine Möglichkeit des Erfolges; ein Einzelner würde ganz gewiß keine Nachfolger finden, so mußte also einer der Aufseher, vielleicht der Wachtmeister selbst, durch meine Hand fallen.

Durch meine Hand!

Wie leicht war das gedacht, gesagt; aber würde mir in dem Augenblicke der That der Muth nicht fehlen? Es ist wahr, ich hatte auf den Zollwächter geschossen, aber damals galt es nicht blos meine, es galt vor Allem meines Beschützers, meines Wohlthäters, meines Freundes Freiheit, und wie hatte ich dem Himmel aus der Tiefe meines Herzens gedankt, daß meine Kugel ihr Ziel verfehlt. Jetzt war nicht der bewunderte, ja ich möchte sagen, angebetete Mann mein Genosse, sondern der Katzen-Caspar; jetzt handelte es sich nicht darum, in einem Momente der Ueberraschung auf eine dunkle Gestalt, die sich plötzlich drohend in den Weg stellt, eine Pistole abzudrücken; es war ein wohlüberlegter Mord auszuführen, es war ein relativ Wehrloser zu erschlagen mit einem Spaten, einer Spitzaxt, einem Hebebaum, dem ersten besten gemeinen Werkzeug, das dem Mörder in die Hand kam! Und schließlich, ich hatte mir alle Mühe gegeben, meinen Schließer zu hassen, ich hatte es nicht vermocht. Durch all' seine Grobheit klang so viel echte Güte hindurch, daß mir schon manchmal vorgekommen war, als habe er sich nur, weil er wußte, wie weich er war, in dieses stachelige Kleid gehüllt. Und wenn ich nicht auf dem besten Fuße mit ihm stand, an wem lag es, als an mir, der ich sein Entgegenkommen so schnöde zurückgewiesen? Er hatte es mich nicht entgelten lassen; er hatte sein rauhes, gewiß ehrlich gemeintes Wohlwollen keinen Augenblick verleugnet; er hatte mich, wenn ich von seiner sonderbaren Ausdrucksweise absah, stets behandelt nicht wie ein Wächter seinen Gefangenen, sondern, ich möchte sagen, wie ein alter treuer Diener, der sich Manches herausnimmt und herausnehmen darf, seinen ihm anvertrauten jungen Herrn, der nicht gut gethan hat und den er auf gute Manier zur Raison bringen soll. Und manchmal während der Arbeit ruhten seine hellen blauen Augen mit einem so sonderbaren Ausdruck auf mir, als sage er immerfort vor sich hin: Armer Junge, armer Junge! und als hätte er am liebsten seinen Zollstock aus der Hand gelegt und statt dessen meine Spitzaxt ergriffen und für mich die Arbeit gethan. Ja, schon ein paar Mal hatte er, wenn wir zusammen zurückgingen, zu mir gesagt: Nun, hat man es noch nicht bald satt? und dann wieder: Man sollte nicht über Gebühr eigensinnig sein und dem Herrn Rittmeister – der Wachtmeister nannte seinen ehemaligen Offizier nur im äußersten Nothfalle Director – und sich selbst das liebe Leben sauer machen. – Wie so dem Herrn Rittmeister? hatte ich gefragt. – Man will es nicht verstehen, hatte der Alte geantwortet und hatte dabei ganz melancholisch ausgesehen.

Ich wollte es nicht verstehen! das war nur zu richtig. Aber, weil man sich die Mühe gibt, etwas nicht verstehen zu wollen, versteht man es darum weniger?

Welches immer der Grund oder die Gründe sein mochten, aus denen die Theilnahme des Directors an mir und meinem Schicksale hervorgingen – konnte ich mich dagegen verschließen, daß diese Theilnahme vorhanden, daß sie in der herzlichsten, gewinnendsten Weise an den Tag gelegt wurde? Noch klangen seine Worte, noch klang der Ton, in welchem er sie gesprochen, in meinem Ohr, und dieser Ton hatte mich so lebhaft an den Klang der Stimme des Mannes erinnert, der nun einmal mein Held gewesen und noch war. Ja, je öfter ich den Director sah – und ich sah ihn jetzt fast täglich – um so mehr fiel mir die Aehnlichkeit auf, die er mit seinem unglücklichen Bruder hatte. Es war dieselbe hohe Gestalt, nur daß Krankheit und angestrengteste Arbeit, vielleicht Kummer und Sorgen die stolze Kraft gebrochen; es war dasselbe Gesicht, nur viel edler, viel milder; dieselben großen dunklen Augen, nur daß sie so viel ernster, schmerzensreicher blickten. Und diese Augen hatten mich, wenn der Mund auch seitdem geschwiegen, jedesmal so freundlich gegrüßt – und diese Augen blickten mich an in dieser schrecklichen Nacht, in welcher ich mit dem Versucher rang; sie blickten mich an sanft und traurig und fragten: Das könntest Du thun? das auszudenken hättest Du das Herz? das auszuführen die Hand?

Aber ich will frei sein, ich muß frei sein, schrie es in mir. Was kümmert mich der Wahnsinn eurer Gesetze! Habt ihr mich zur Verzweiflung gebracht, nun wohl, so könnt ihr von mir auch nur die Thaten eines Verzweifelten erwarten. Aus der Schule hierher – aus einem Gefängnisse in das andere! Ich habe die eine Tyrannei abgeschüttelt, weil sie mir unerträglich war; soll ich mir diese gefallen lassen, die so viel schwerer auf mir lastet? Und ich sollte der Gewalt nicht mit Gewalt begegnen dürfen? Was würde der wilde Zehren thun, wenn er noch lebte und seinen Liebling – denn das war ich – im Kerker wüßte? Er würde mich zu befreien suchen, und sollte er das Gefängniß und sollte er die ganze Stadt an allen Ecken anzünden, wie sie einst seinen Ahn aus dem Thurme holten, die guten Gesellen! Was er thun und wagen würde, ich werde es thun und wagen! Es kann mich doch höchstens das Leben kosten, und daß man sein Leben lassen muß, wenn es nicht mehr werth ist, gelebt zu werden – der Wilde hat es mich gelehrt!

So wühlte und tobte es in mir, als wäre eine Hölle in meiner Brust entfesselt. Noch heute, nach so vielen Jahren, heute, wo ich freudigen und, so viel an mir ist, reinen Herzens jeder Sonne danke, die sich über mir erhebt und mir wiederum einen Tag ernster Arbeit und stillen Glückes im Kreise der Meinen verspricht – noch heute bebt mir das Herz und zittert mir die Hand, mit der ich diese Zeilen schreibe, die mir so lebhaft die Schrecken jener Nacht und jener Zeit vergegenwärtigen, da der Jüngling einen Ausweg aus dem Labyrinth suchte, in welchem er trostlos – verzweifelt umherirrte.

Und werfe doch keiner einen Stein auf ihn, daß er so weit vom rechten Wege abirren konnte! Wohl Dir, wer Du auch immer seist, dessen Stirn sich, indem Du dies liest, in richterliche Falten zieht – wohl Dir, wenn eine glückliche Mischung Deines Blutes Dich vor der blinden Wuth tobender Leidenschaften schützte, wenn eine weise Erziehung Dir frühzeitig einen klaren Blick in das wirre Leben gab, den Weg Deines Lebens freundlich ebnete. Auch dann – und dann gewiß! danke Deinem guten Stern, der Dir dies Alles gnädig gewährte, und außerdem vielleicht selbst die Möglichkeit einer großen Verirrung von Dir fernhielt! Und wo gäbe es eine solche Möglichkeit nicht? Sie ist schließlich immer vorhanden. So bete denn aus frommem Herzen, daß Du nicht in Versuchung geführt werdest, daß Dir keine Nacht komme, wie die, welche ich damals durchlitten; eine Nacht, in welcher es dunkel ist um Dich her und in Dir selbst; eine Nacht, an die Du noch nach dreißig Jahren schaudernd denkst!

Der Morgen, der nach dieser Nacht in meine Zelle graute, fand mich mit brennenden Schläfen, während kalte Fieberschauer mich schüttelten. Ich mochte wohl sehr verstört und bleich aussehen, denn des Wachtmeisters erstes Wort, als er mich erblickte, war: Man ist krank, man muß heute von der Arbeit bleiben.

Ich war krank, ich fühlte es nur zu wohl; so war mir noch nie im Leben gewesen. War dies ein Wink des Schicksals? Wollte es nicht zulassen, was ich beschlossen? Wenn ich heute nicht zur Arbeit ging, kam das Complot nicht zum Ausbruch. Der Katzen-Caspar rechnete auf mich, auf meine Kraft, auf meinen Muth, auf meine Verwegenheit. Mein Beispiel, das Beispiel Eines, der gewissermaßen freiwillig unter ihnen war, von dem sie wußten und fühlten, daß er nicht ihresgleichen sei, mußte überwältigend auf sie wirken, mußte sie in stürmischer Wuth mit fortreißen. Das hatte der Katzen-Caspar vollkommen begriffen; er konnte und er würde ohne mich nichts wagen.

Man bleibe heute von der Arbeit, sagte der Wachtmeister noch einmal. Man sieht ja hundeteufelmäßig jämmerlich aus. Man hat sich gestern übernommen; man hat nicht sieben Sinne wie ein Bär.

Ich wußte nicht, was der Wachtmeister mit den letzten geheimnißvollen Worten, die er oft anwendete, sagen wollte; aber seine Meinung konnte nur eine freundliche sein, denn seine blauen Augen ruhten derweilen mit einem Ausdruck ernster Sorge auf mir.

Nicht doch, sagte ich, ich hoffe, daß mir draußen besser wird; ich kann nur die Gefängnißluft nicht vertragen.

Verträgt Keiner besonders, brummte der Wachtmeister.

Und ich besonders schlecht, so schlecht, daß ich große Lust habe, nächstens von hier fortzugehen.

Ich blickte dem Alten starr in die Augen; ich wollte, er sollte in meinen Augen lesen, was ich vorhatte. Aber er lächelte nur und meinte:

Würden nicht Viele hierbleiben, wenn Alle fortgingen, die Lust dazu hätten; man würde selbst fortgehen.

Warum thun Sie es nicht?

Man ist mit dem Herrn Rittmeister nun zusammengewesen an die fünfundzwanzig Jahre; man wird bei ihm bleiben, bis man mausetodt stirbt.

Was Einem alle Tage passiren kann.

Und wieder blickte ich dem Alten starr in's Gesicht. Diesmal fiel ihm der Ausdruck meiner Züge doch auf.

Man sieht ja drein wie ein Bär mit sieben Sinnen; man sieht ja ganz raubmördergalgenmäßig drein, sagte er.

Was man noch nicht ist, kann man ja noch werden, sagte ich. Wenn ich Ihnen zum Beispiel hier die Kehle zuschnürte; ich bin dreimal so stark wie Sie.

Man mache keine schlechten Witze, rief der Wachtmeister, man ist kein Bär, und ein alter Soldat ist kein Zahnstocher.

Damit hatte der ehrliche Herr Süßmilch die Sache erledigt; wir gingen nach dem Bauplatze, da ich durchaus nicht in meiner Zelle bleiben, noch weniger nach dem Gefängniß-Arzt geschickt haben wollte.

Auf dem Wege mußte ich einmal stehen bleiben, denn es wurde mir schwarz vor den Augen und ich glaubte zu sterben. Derselbe Zustand wiederholte sich noch mehrmals während des Tages, der ungewöhnlich heiß war. Im Uebrigen habe ich nur eine wüste, verworrene Erinnerung dieses entsetzlichen Tages. Ein wildes Fieber wüthete in meinen Adern; eine schwere Krankheit kam in fürchterlicher Schnelle heran, ja war schon zum Ausbruch gekommen. Doctor Snellius sagte mir später und hat es mir erst vor einigen Tagen, als er bei mir zu Tische war, über der Flasche wiederholt, daß er es bis heute nicht begreifen könne, wie ein Mensch in dem Zustande, in welchem ich mich nothwendig befunden haben müßte, nicht nur einen ganzen Tag lang sich auf den Füßen halten, sondern eine schwere Arbeit habe leisten können. Er meinte, es sei ihm der merkwürdigste Beweis, wie weit es der bis zum Uebermaß angespannte Wille contra naturam, gegen den Lauf der Natur vermöge. Freilich, fügte er mit einem Lächeln hinzu, indem er mir die Schulter berührte, es geht nur bei Schmieden, Schneider sterben daran.

Was habe ich aber auch gelitten! Wenn mir ein hämischer Asmodeus einmal einen recht bösen Streich spielen will, führt er mich im Traume an eine tiefe Grube, in welche eine mitleidslose Sonne brennt, und drückt mir eine Spitzaxt in die Hand, mit der ich wüthende Streiche gegen eine felsenharte Erde führe, nur daß die felsenharte Erde mein eigener Kopf ist und jeder Schlag mir in's Gehirn dringt, und dann füllt er die Grube mit Teufeln in Menschengestalt, die ebenso wie ich mit Spitzäxten oder Spaten und Schaufeln oder einer Karre arbeiten, und diese Teufel haben brutale, stumpfe Gesichter und böse Augen, die sie immerfort auf mich gerichtet halten und mit denen sie mir zuwinken: sie wüßten Bescheid und ich würde das Teufelswerk schon vollbringen. Und unter ihnen taucht von Zeit zu Zeit ein Kopf aus, der bösere Augen hat, als die anderen alle, und der Kopf sperrt den gräßlichen Mund auf, und wie aus einem Höllenrachen gähnt es mich an: Kurz vor Sonnenuntergang! Frisch Kamerad! ich Rollmann nehmen, Du Wachtmeister. Schlag' Schädel ein!

Weg du entsetzlicher Traum!

Aber das Entsetzlichste ist noch übrig.

Es ist eine halbe Stunde vor Sonnenuntergang; in einer halben Stunde wird die Glocke ertönen, die Arbeit eingestellt werden. Nicht blos für heute; die Ausgrabung ist beendet, die Fundamentsteine sind herbeigeschafft. Morgen werden ordentliche Maurer an die Arbeit gehen, Einzelne von den Zuchthäuslern werden noch helfen; Andere aber anderswo beschäftigt werden; es ist der letzte Abend, wo die Elf, deren Zwölfter ich sein soll, beisammen sind. Jetzt oder nie ist der Augenblick gekommen und bereits ist das Signal gegeben.

Es besteht darin, daß der Katzen-Caspar mit seinem Nachbar einen Streit beginnt, an dem sich nach und nach die Anderen betheiligen, während die Aufseher, der Wachtmeister an der Spitze, die scheinbar Wüthenden auseinander zu bringen suchen und den auf so unerhörte Weise gegen die Ordnung Frevelnden mit Wasser und Brod und Einzelhaft drohen. Aber Jene lassen sich nicht bedeuten, kommen im Gegentheil von Worten zu Thätlichkeiten, indem sie dabei, einander stoßend und schlagend, in immer dichteren Knäuel zusammendrängen und die Aufseher in den Knäuel zu verwickeln suchen.

Das Vorspiel hat nur einige Minuten gedauert, und länger darf es auch nicht dauern, wenn der ungewöhnliche Lärm in der stillen Anstalt nicht andere Aufseher herbeirufen und so den ganzen Plan vereiteln soll.

Hat man mich in den wüsten Knäuel hineingezogen? Habe ich mich selbst hineingestürzt? – ich weiß es selbst nicht; aber ich bin mitten drin. Helfe ich den Aufsehern die Leute auseinanderhalten? suche ich nur die Verwirrung zu vermehren? – ich weiß es nicht, aber ich tobe lauter als Alle, ich schreie, jauchze, ergreife ein paar im Nacken und schleudere sie auf den Boden, als wenn es Puppen wären; ich bin wie wahnsinnig; ja, ich bin wahnsinnig, ohne es zu wissen, ohne daß ein Anderer es weiß, es merkt auch der Katzen-Caspar nicht, der sich an mich herandrängt und mir laut zuruft: Jetzt Kamerad!

In diesem verhängnißvollen Augenblicke nähert sich, aus der Pforte des nahen Gartens kommend, eilenden Schrittes die hohe Gestalt eines Mannes dem Orte des Schreckens. Es ist der Director; ein junges Mädchen von vierzehn Jahren, deren schlanken Wuchs ich schon öfter durch das Gitter des Gartens bewundert, faßt ihn an der Hand und scheint ihn zurückhalten oder auch die äußerste Gefahr mit ihm theilen zu wollen. Ein paar Knaben von zehn, zwölf Jahren zeigen sich in der Gartenpforte; sie rufen Hurrah! Sie haben wohl keine Ahnung von dem Ernste der Situation.

Und da ist der Mann, den Jeder hat kommen sehen, dicht vor uns. Er macht die Linke sanft aus der Hand des jungen Mädchens los und drückt sie gegen die kranke, von der Anstrengung des eiligen Laufes keuchende Brust. Die andere hat er beschwichtigend erhoben, da er noch nicht zu reden vermag. Seine sonst so bleichen Wangen sind von einer fieberhaften Röthe übergossen; seine großen braunen Augen blitzen; sie müssen sprechen, da sein Mund es nicht vermag.

Und die Tobenden, Wüthenden haben diese Sprache verstanden. Sie haben seit länger oder kürzer gelernt, in scheuer Ehrfurcht zu dem bleichen Manne empor zu sehen, der immer ernst und immer freundlich ist, auch wenn er strafen muß, und den noch Keiner ungerecht hat strafen sehen. Sie sind auf Alles gefaßt; darauf nicht, daß ihnen im letzten Augenblicke dieser Mann entgegentreten würde. Sie fühlen, daß ihr Spiel verloren ist, ja sie geben es verloren.

Nur Einer nicht; Einer ist entschlossen, es dennoch zu gewinnen oder doch sein Letztes auf eine blutige Karte zu setzen. Ja, vielleicht steht das Spiel besser als je. Liegt jener Mann zu Boden, wer oder was könnte ihn, könnte die Andern dann noch halten?

Ein Geheul ausstoßend, wie es so gräßlich aus eines wilden Thieres Brust nimmer schallen kann, stürzt er mit hochgeschwungner Spitzaxt auf den wenige Schritte nur Entfernten zu. Das junge Mädchen wirft sich vor den Vater, den Todesstreich aufzufangen. Aber ein Anderer, der besser im Stande ist, den Herrlichen zu schützen, ist schneller noch. Mit Einem Satze ist er zwischen Jenem und dem Caspar und fällt dem Rasenden in den Arm. Zwar streift die herabschmetternde Axt seinen eigenen Kopf; was ist das im Vergleiche zu den Schmerzen, die ihm im Kopfe schon seit Stunden wüthen?

Hund, verfluchter! brüllte der Katzen-Caspar, hast Du uns verrathen! und abermals holt er mit der Axt aus. Er bringt sie kaum noch in die Höhe, da liegt er bereits am Boden und auf seiner Brust kniet Einer, dessen Kraft der Wahnsinn des Fiebers zum Ungeheuren angespannt hat, dem in diesem Augenblicke kein einzelner Mensch zu widerstehen vermöchte.

Aber es ist auch nur ein Augenblick. Was er noch sieht, ist das gräßlich verzerrte Gesicht des Katzen-Caspar. Dann versuchen andere Hände seine Hände von dem Halberwürgten wegzureißen und dann versinkt Alles um ihn her in tiefe, schwere Nacht.


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