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Siebenundzwanzigstes Capitel.

In der Anstalt galt das Wort, daß man Allen etwas vorlügen könne, nur dem Director nicht.

Der Director von Zehren hatte eine Art, diejenigen, mit denen er sprach, anzusehen, für welche, glaube ich, nur eine eherne Stirne unempfindlich bleiben konnte. Nicht, als ob man seinem Blicke die Absicht angemerkt hätte, möglichst viel und möglichst scharf zu sehen! Sein Auge hatte gar nichts Spürendes, gar nichts Inquisitorisches; im Gegentheil, es war klar und groß wie eines Kindes Auge, und gerade hierin lag seine für die meisten Menschen unwiderstehliche Kraft. Da er Jedem, mit dem er sprach, durchaus wohlwollte, da er für sein Theil nichts zu verheimlichen hatte, ruhte dies klare, große, dunkle Auge so fest auf Einem – mit dem Blicke der sonnenhaften Götter gleichsam, die nicht mit der Wimper zucken, wie der schwache, in Dämmerung und in Heimlichkeit aller Art lebende Mensch.

Und als er mich mit diesem Blicke nach dem Manne fragte, den er am Morgen zu mir geschickt habe, da sagte ich ihm, wer der Mann gewesen sei und was er gewollt. Und weiter sagte ich ihm, in welcher Stimmung mich der Mann getroffen und wie nahe die Versuchung an mich herangetreten, daß ich aber – auch ohne den Beistand und die Hilfe des guten Doctors – die Versuchung besiegt habe, ich glaubte sagen zu dürfen – für nun und immer.

Der Director hatte meiner Erzählung mit allen Zeichen lebhafter Theilnahme zugehört. Als ich zu Ende, drückte er mir die Hand, dann wendete er sich zu seinem Arbeitstische und reichte mir ein Schreiben, welches, wie er mir sagte, soeben eingetroffen sei und das er mich zu lesen bitte.

Das Schreiben war eine in höflichen, aber sehr bestimmten Ausdrücken abgefaßte Anfrage des Präsidenten, wie es sich betreffs einer gewissen, dem Präsidium zugegangenen anonymen Denunciation verhalte? eventualiter wurde der Director von Zehren aufgefordert, ein seine Stellung und Würde so compromittirendes Verhältniß sofort aufzugeben und den betreffenden jungen Menschen mit der Strenge zu behandeln, welche die Würde des Gesetzes, die Würde der Richter, schließlich seine eigene Würde erfordere.

Sie wünschen zu wissen, sagte der Director, als ich das Blatt mit einem fragenden Blick wieder hinlegte, wie ich mich nun zu verhalten gedenke? Gerade, als ob ich dies hier nicht empfangen hätte. Ich will nicht wissen, ob Doctor Snellius, den die Freundschaft in meinen Angelegenheiten oft schärfer sehen läßt als mich selbst, eine kleine Comödie gespielt hat, als er Sie uns gestern so Hals über Kopf entführte, aber ich bin ihm oder dem Zufall dankbar, daß es so gekommen ist. Es würde meinen Stolz doch verletzt haben, Sie, den ich so lieb gewonnen, einer elenden Chicane opfern zu müssen. Man ist ja äußerlich im Recht, wenn man behauptet, daß der Gefangene nicht der Hausgenosse des Directors sein könne, und darin hätte ich nachgeben müssen; aber ebenso entschlossen bin ich, nicht weiter nachzugeben, keinen Schritt. Zu bestimmen, für welche Art der Arbeit ein Gefangener sich qualificire und wie er seine Erholungsstunden zubringe, ist mein unbestreitbares Recht, von dem ich mir auch nicht eines Strohhalmes Breite rauben lasse, das ich durch alle Instanzen verfechten werde, und sollte ich bis an den König gehen. Schon deshalb ist es mir nicht leid, daß dies so gekommen ist, weil es uns Gelegenheit giebt, uns über unser gegenseitiges Verhältniß, über den Weg, den wir in Zukunft verfolgen müssen, klar zu werden. Sind Sie geneigt, zu hören, wie ich darüber denke, so wollen wir in den Garten gehen. Meine Lunge will heute wieder einmal in der Zimmerluft ihren Dienst nicht thun.

Wir traten aus seinem Arbeitszimmer in den Garten. Ich hatte ihm meinen Arm geboten – denn ich fühlte mich jetzt zu solchen Dingen ausreichend kräftig – und so wandelten wir schweigend zwischen den Beeten hin, von denen uns der warme Mittagswind den Duft der Levkoyen und Reseden in balsamischen Wolken zuführte, bis uns auf dem Platze unter den Platanen labender Schatten empfing. Der Director nahm auf einer der Bänke Platz, winkte mir, mich dicht an seine Seite zu setzen, und nach einem dankbar stillen Blicke in die Kühlung spendenden Wipfel der ehrwürdigen Bäume sprach er also:

Die Strafe ist das Recht des Unrechtes, wenn man den Rechtslehrern, auf deren Worte jetzt die Schüler aller Orten schwören, glauben darf. Die Definition empfiehlt sich durch ihre Einfachheit den Katheder-Logikern, aber ich glaube nicht, daß Christus sehr damit zufrieden gewesen wäre. Er hat nicht gefunden, daß gesteinigt zu werden das Recht der Ehebrecherin sei, im Gegentheil, indem er den, welcher sich ohne Schuld fühle, aufforderte, den ersten Stein auf das arme Weib zu werfen, angedeutet, daß unter der glatten, logischen Oberfläche des landesüblichen Rechtes ein tieferer Grund liege, der sich allerdings nur dem Auge offenbart, das sieht – ja, und dem Herzen, das fühlt. Einem solchen Auge, einem solchen Herzen aber wird es bald klar, daß jenes Unrecht, welches bestraft werden soll, damit es zu seinem Rechte komme, wenn nicht immer, so doch fast immer ein Unrecht aus zweiter, dritter, hundertster Hand ist, die Strafe deshalb fast nie den trifft, der sie möglicher Weise verdient hat, und der gerechteste Richter also im allerbesten Falle, er mag wollen oder nicht, dem blutigen Legaten gleicht, der den Zehnten zum Tode führen läßt, nicht, weil er schuldiger ist, als die anderen neun, sondern, weil er der Zehnte ist.

Das aber wird, wie gesagt, nicht dem Katheder-Logiker offenbar, der zufrieden lächelt, wenn er nur mit dem Satze der Identität und dem vom Widerspruche nicht in Conflict geräth; auch dem Richter nicht, dem der Fall in seiner Vereinzelung, aus dem Zusammenhange herausgerissen, vorliegt, und der nun urtheilen soll, wo er nicht einmal die Theile in seiner Hand hat, geschweige denn den sichtbar unsichtbaren Faden, auf den die Theile mit Notwendigkeit gereiht sind. Sie beide gleichen dem Laien, der ein Gemälde nur nach der Wirkung beurtheilt, nicht dem Kenner, der weiß, wie es entstanden ist, welche Farben der Maler auf der Palette hatte, wie er sie mischte, wie er den Pinsel führte, welche Schwierigkeiten er überwinden mußte und wie und wodurch er sie überwunden hat, oder weshalb er sein Ziel nicht erreichte. Und wie die wahre Kritik nur die schöpferische ist, welche aus den Geheimnissen der Kunst heraus urtheilt, und also auch nur der Künstler wahrhaft Kritik üben kann, so können die Handlungen der Menschen auch nur von Menschen beurtheilt werden, von denen das Wort des alten Weisen gilt, daß ihnen nichts Menschliches fremd sei, weil sie der Menschheit ganzen Jammer schaudernd an sich selbst und an ihren Mitbrüdern erfahren. Dazu aber gehört, wie gesagt, ein fühlend Herz und ein sehend Auge und dann das Dritte, ohne welches man auch mit fühlendem Herzen und sehendem Auge nicht viel erfährt, nämlich – Erfahrung, ich meine volle, reiche Gelegenheit, Herz und Auge zu erproben und zu üben.

Wer hätte diese Gelegenheit mehr aus erster Hand als der Vorsteher einer Anstalt, in welcher, nach den Worten des Philosophen, das Unrecht zu seinem Recht kommen soll? der Director einer Strafanstalt? er und der Arzt der Anstalt, wenn sie Freunde sind, wenn sie, von denselben Gesichtspunkten ausgehend, Hand in Hand nach demselben Ziele streben? Sie und nur sie allein erfahren, was kein noch so gewissenhafter Richter erfährt, wie der Mensch, den die Menschheit für immer oder eine zeitlang ausgestoßen, wurde, was er geworden ist; warum er, von solchen Eltern geboren, in solchen Verhältnissen aufgewachsen, in einer solchen kritischen Lage so und nicht anders handeln konnte. Dann aber, wenn der Director, der nothwendig der Beichtiger des Verbrechers wird, die Geschichte seines Lebens bis in die Einzelheiten erfahren, wenn der Arzt die Leberkrankheit, an der der Mensch seit Jahren litt, constatirt hat, dann sprechen Beide, wenn sie conferiren, nicht mehr von dem Rechte des Unrechtes, das hier geübt werden soll, dann sprechen sie nur noch davon, ob dem Aermsten noch zu helfen ist und wie ihm geholfen werden kann; dann sehen sie Beide in der sogenannten Strafanstalt abwechselnd nur noch eine Besserungsanstalt und ein Krankenhaus. Sind doch – und dies ist ein unendlich wichtiger Punkt, zu dessen Erkenntniß die Physiologie die Jurisprudenz noch einmal zwingen wird – sind doch fast Alle, die hierher kommen, krank im gewöhnlichen Sinne; fast Alle leiden sie an mehr oder weniger schweren organischen Fehlern, fast das Gehirn Aller ist unter dem Durchschnittsmaaß des Gehirns, welches ein normaler Mensch zu einer normalen Thätigkeit, zu einem Leben, das ihn nicht mit dem Gesetze in Conflict bringen soll, braucht.

Und wie könnte es anders sein? Fast ohne Ausnahme sind sie die Kinder der Noth, des Elends, der moralischen und physischen Verkommenheit, die Parias der Gesellschaft, welche in ihrem brutalen Egoismus an dem Unreinen mit zusammengerafften Kleidern und gerümpften Nasen vorüberstreift, und, sobald er sich ihr in den Weg stellt, mit grausamer Gewalt ihn von sich stößt! Recht des Unrechts! Hochmuth des Pharisäertums! Es wird die Zeit kommen, wo man diese Erfindung der Philosophen mit jener der Theologen, daß der Tod der Sünde Sold sei, auf eine Stufe stellt und Gott dankt, daß man endlich aus der Nacht der Unwissenheit aufgewacht ist, die solche Monstrositäten erzeugte!

Der Tag wird kommen, aber nicht so bald. Noch stecken wir tief in dem Schlamm des Mittelalters; noch ist nicht abzusehen, wann diese Sündfluth von Blut und Thränen verlaufen sein wird. Wie weit auch der Blick einzelner erleuchteter Köpfe hinein in die kommenden Jahrhunderte trägt – der Fortschritt der Menschheit ist unendlich langsam. Wohin wir in unserer Zeit sehen – überall die unschönen Reste einer Vergangenheit, die wir längst überwunden glauben. Unser Herrscherthum, unsere Adels-Institutionen, unsere religiösen Verhältnisse, unsere Beamtenwirthschaft, unsere Heereseinrichtungen, unsere Arbeiterzustände – überall das kaum versteckte, grundbarbarische Verhältniß zwischen Herrn und Sclaven, zwischen der dominirenden und der unterdrückten Kaste; überall die bange Wahl, ob wir Hammer sein wollen oder Amboß. Was man uns lehrt, was wir erfahren, was wir um uns her sehen, – Alles scheint zu beweisen, daß es kein Drittes giebt. Und doch ist eine tiefere Verkennung des wahren Verhältnisses nicht denkbar, und doch giebt es nicht nur ein Drittes, sondern es giebt dieses Dritte einzig und allein, oder vielmehr dieses scheinbar Dritte ist das wirklich Einzige, das Urverhältniß sowohl in der Natur als im Menschendasein, das ja auch nur ein Stück Natur ist. Nicht Hammer oder Amboß – Hammer und Amboß muß es heißen, denn jedwedes Ding und jeder Mensch in jedem Augenblicke ist Beides zu gleicher Zeit. Mit derselben Kraft, mit welcher der Hammer den Amboß schlägt, schlägt der Amboß wieder den Hammer; unter demselben Winkel, unter welchem der Ball die Wand trifft, schleudert die Wand den Ball zurück; genau so viel Stoff, als die Pflanze aus den Elementen zieht, muß sie den Elementen wiedergeben – und so in ewigem Gleichmaaß durch alle Natur in allen Zeiten und Räumen. Wenn aber die Natur unbewußt dieses große Gesetz der Wechselwirkung befolgt und eben dadurch ein Kosmos und kein Chaos ist, so soll der Mensch, dessen Dasein unter genau demselben Gesetze steht, sich dieses Gesetz zum Bewußtsein bringen, mit Bewußtsein ihm nachzuleben streben, und sein Werth steigt und fällt in demselben Maaße, als dieses Bewußtsein in ihm klar ist, als er mit klarem Bewußtsein in diesem Gesetze lebt. Denn obgleich das Gesetz dasselbe bleibt, ob der Mensch nun darum weiß oder nicht, so ist es doch für den Menschen nicht dasselbe. Wo er darum weiß, wo er die Unzerreißbarkeit, die Solidarität der menschlichen Interessen, die Unabwendbarkeit von Wirkung und Gegenwirkung erkannt hat, da blühen Freiheit, Billigkeit, Gerechtigkeit, welches Alles nur andere Ausdrücke für jenes auf die menschlichen Verhältnisse angewandte Natur-Gesetz sind; wo er nicht darum weiß, wo er in seiner Blindheit wähnt, ungestraft seinen Mitmenschen ausnützen zu können, da wuchern Sclaverei und Tyrannei, Aberglaube und Pfäfferei, Haß und Verachtung in giftiger Fülle. Welcher natürliche Mensch möchte nicht lieber Hammer als Amboß sein, so lange er glaubt, die freie Wahl zwischen beiden zu haben? Aber welcher vernünftige Mensch wird nicht gern darauf verzichten, nur Hammer sein zu wollen, nachdem er erkannt hat, daß ihm das Amboß-Sein nicht erspart wird und erspart werden kann, daß jeder Streich, den er giebt, auch seine Backe trifft, daß, wie der Herr den Sclaven, so der Sclave den Herrn corrumpirt, und daß in politischen Dingen der Vormund zugleich mit dem Bevormundeten verdummt. Möchte doch diese Erkenntniß endlich einmal in das deutsche Volksbewußtsein übergehen, dem es so dringend noth thut!

So dringend noth! Denn ich muß es aussprechen, daß in diesem Augenblick, kaum zwanzig Jahre nach unserem Befreiungskriege, jener Grundsatz alles Menschendaseins vielleicht von keiner der Cultur-Nationen so gründlich und so allgemein verkannt wird, als gerade von uns Deutschen, die wir uns so gern die geistige Blüthe der Nationen, das Volk der Denker, das wahrhaft humane Volk nennen. Oder wo würde mit unleidlicherer, schulmeisterlicher Pedanterie die junge Menschenpflanze in eine zu frühe, zu strenge und vor allen Dingen unglaublich bornirte Zucht genommen als gerade bei uns? Wo würde ihr freier, schöner Wuchs systematischer verhindert und verkrüppelt als gerade bei uns? Was wir mit Hilfe der Schul- und Kirchenbänke, des Exercierstockes, des Prokustesbettes der Examina, der vielsprossigen Leiter eines hierarchischen Beamtentums in dieser Beziehung freveln – es treibt den Einsichtigen unter uns die Röthe der Scham auf die Stirn und die Gluth des Zornes in die Wangen; es ist mit Recht das unerschöpfliche Thema des Spottes für unsere Nachbarn. Die Wuth, zu befehlen, die sclavische Gier, sich befehlen zu lassen – das sind die beiden Schlangen, die den deutschen Herkules umstrickt halten, die ihn zu einem Krüppel machen; sie sind es, die überall die freie Circulation der Säfte hemmen, hier hypertrophische, dort atrophische Zustände erzeugen, an denen der Körper des Volkes grausam krankt; sie sind es, die, indem sie ihr Gift in die Adern des Volkes spritzen, das Blut und das Mark des Volkes vergiften und die Race selbst deterioriren; sie sind es endlich, denen wir verdanken, daß unsere Zucht- und Arbeitshäuser die Zahl der Insassen nicht fassen. Denn es ist nicht übertrieben, wenn ich behaupte, daß neun Zehntel von Allen, die hierher kommen, niemals hierher gekommen sein würden, wenn man sie nicht mit Gewalt zum Amboß gemacht hätte, damit die Herren vom Hammer doch haben, woran sie ihr Müthchen kühlen können. So aber, indem man ihnen das natürliche Recht jedes Menschen, sich in einer, seinen Kräften und Fähigkeiten angepaßten Weise den Lebensunterhalt zu erarbeiten, möglichst erschwerte; indem man sie systematisch verhinderte, gesunde, kräftige, taugliche Glieder des Gemeinwesens zu sein, hat man sie schließlich bis hieher, bis in's Arbeitshaus gebracht. Das Arbeitshaus ist im Grunde weiter nichts als die letzte Consequenz unserer Zustände, als das Exempel unseres Lebens auf die einfachste Formel gebracht. Hier müssen sie eine ganz bestimmte Arbeit in einer genau vorgeschriebenen Weise verrichten, aber wann hätte man sie jemals sich frank und frei ihre Arbeit wählen lassen? hier müssen sie schweigen – aber wann hätten sie denn frei sprechen dürfen? hier müssen sie dem niedrigsten Aufseher unbedingt Gehorsam leisten – aber haben sie nicht immer, auch ohne Shakspeare gelesen zu haben, gewußt, daß man dem Hund im Amte gehorcht? hier müssen sie gehen, stehen, liegen, schlafen, wachen, beten, schaffen, müßiggehen auf Commando – aber sind sie zu dem Allen nicht trefflich vorbereitet? sind sie nicht Alle mehr oder weniger geborene Arbeitshäusler? Ach, mir thut das Herz weh, wenn ich daran denke, und wie sollte ich nicht daran denken, und besonders in diesem Augenblicke nicht daran denken, wo ich Sie hier vor mir sehe, wo ich mich frage: wie kommt dieser Jüngling mit dem Körper des gewaltigsten Mannes und den treuen blauen Augen eines Kindes in dieses Asyl des Verbrechens und des Lasters?

Lieber junger Freund, wenn mir doch die Antwort darauf schwerer würde! Wenn es nicht doch dieselbe Formel wäre, nach der ich auch die Gleichung Ihres Lebens ausrechnen kann! Wenn ich doch nicht wüßte, daß die Unnatur unserer Verhältnisse wie ein giftiger Samum ist, der das Gras verdorren macht und auch die Eiche entblättert!

Ich habe versucht, mir aus dem, was ich bereits von Ihnen wußte und was Sie mir mit solcher Treuherzigkeit aus Ihrem früheren Leben, von Ihren Familien-Verhältnissen, von Ihrer Umgebung, von dem Leben, den Gewohnheiten der Bürger Ihres Heimathsortes erzählt haben, einen Hintergrund zu schaffen, auf den ich mir Ihr Bild zeichnen könnte. Wie trostlos ist dieser Hintergrund! wie liegt er so ganz in dem trüben Lichte, in welchem ich unsere Zustände im Allgemeinen sehe! Ueberall Kleinlichkeit, Engherzigkeit, Beschränktheit, Kleben am Alten, Hergebrachten, schulmeisterliches Besserwissenwollen, pedantisches Hofmeistern; überall abgezirkelte Wege, überall der freie Blick in's Leben durch thurmhohe Mauern von Vorurtheilen verbaut! Sie haben mir gesagt, daß Sie Ihren Vater flehentlich gebeten haben, er möchte Sie zur See gehen lassen, und daß er mit Hartnäckigkeit darauf bestanden habe, Sie sollten ein Gelehrter, zum wenigsten ein Beamter werden. Es war gewiß nicht, wie Sie sich selbst anklagen, der bloße Hang des Müßigganges, die Sucht nach Abenteuern, was Sie wieder und immer wieder den Wunsch aussprechen ließ; und sicherlich hat Ihr Vater nicht wohlgethan, als er, aus welchem Grunde immer, die Erfüllung dieses Wunsches hartnäckig verweigerte. Er hatte bereits einen Sohn auf dem Meere verloren – nun wohl! Es giebt noch ein anderes Meer: das eines thatenfrohen, kräftigen Lebens in Handel und Wandel, in Kunst und Handwerk. Das hätte er Ihnen nicht verbieten sollen, und doch war es dies Meer, auf das Sie wollten, und für das Ihnen nur das wirkliche Meer mit seinen Stürmen, seinen Wogen das Abbild war, so daß Sie das Abbild mit dem Urbild verwechselten.

Ihr Vater hat nicht wohlgethan, und doch dürfen Sie mit ihm, dem von häuslichem Unglück Verdüsterten, vor der Zeit Vereinsamten, durch des Sohnes Widerspruch Gereizten, durch des Sohnes factischen Ungehorsam Beleidigten – nicht mit ihm dürfen wir rechten. Was aber sollen wir sagen von Ihren pedantischen Lehrern, von denen kein einziger ein Verständniß für einen Jüngling hatte, dessen Charakter die Offenheit selbst ist? was von den spießbürgerlichen guten Freunden, die nichts konnten, als Zeter schreien über den Frevler, der ihre Söhne zu tollen Streichen verleitete, und die es für ein gottgefälliges Werk hielten, Vater und Sohn noch mehr zu verhetzen? Ach, mein Freund, es ist Ihnen ergangen, wie manchem anderen ehrlichen deutschen Jungen, der in so verzweifelt ordentlichen bürgerlichen Verhältnissen aufwächst, daß er Gott dankt, wenn er hinten im Westen von Amerika unter den Bäumen des Urwaldes nichts mehr von bürgerlicher Ordnung sieht. Bis in den amerikanischen Urwald sind Sie nun freilich nicht gekommen auf Ihrer Flucht aus der erdrückenden Enge Ihres Vaterhauses, sondern leider nur bis in die Wälder der Zehrenburg, und das hat das Maaß Ihres Unglücks voll gemacht.

Denn dort trafen Sie auf Einen, zu dem Sie sich mit unwiderstehlicher Kraft hingezogen fühlen mußten, da seine Natur mit der Ihrigen in vielen Punkten eine wunderbare Aehnlichkeit hatte, der auch zum großen Theil an der Elendigkeit unserer Verhältnisse zu Grunde gegangen war, und der nun eine künstliche Wüste um sich her geschaffen hatte, in der er sich nach Willkür, die er für Freiheit hielt, bewegen konnte. Eine Wüste im eigentlichen und moralischen Sinne; denn nach Allem, was Sie mir von seinen Aeußerungen berichtet, und die Folge bewiesen, hatte er mit dem Vorurtheil auch das Urtheil, mit der Rücksicht auch die Umsicht, mit der Bedenklichkeit auch das Nachdenken, mit den Fehlern des deutschen Charakters auch die Tugenden des Deutschen und jedes sittlichen Menschen über Bord geworfen, und Alles, was ihm noch geblieben, war die Abenteuerlust, und eine Art von phantastischer Großmuth, die aber auch – Sie haben es erfahren – gelegentlich phantastischer sein konnte als großmüthig.

Wie dem aber auch sein mochte – er war ein Mann, der Ihnen schon dadurch imponirte, weil er das genaue Gegentheil von allen Menschen war, die Ihnen bis dahin auf Ihrem Lebenswege begegnet, und der noch genug von ritterlichen Eigenschaften besaß, daß Sie, der Unerfahrene, wohl in ihm Ihr Ideal sehen mußten. Dazu die freie Luft auf den weiten Haiden, den stolzen Uferhöhen, auf dem unendlichen Strande! Hätte sie Ihnen nicht zu Kopf steigen, nicht Ihr vom Schulstaube umnebeltes Gehirn verwirren sollen?

Aber diese Freiheit, diese Unabhängigkeit, dieses kraftvolle Leben – es war Alles nur eine schöne Spiegelung, die Fata morgana einer hesperischen Küste, die versinken mußte, und hinter der, als sie versank, ein Untersuchungsgefängnis und ein Arbeitshaus stand.

Daß Ihnen das Arbeitshaus ein Garten der Hesperiden werde – ich kann es nicht machen, mein Freund, und würde es nicht, wenn ich es könnte. Aber Eines hoffe ich bewirken zu können: daß Sie hier, wo die Mißerziehung, die man an Ihnen geübt hat, nicht weiter kann, hier, wo man Ihnen den letzten Rest der verhaßten Selbständigkeit zu nehmen dachte – zu sich selbst kommen, sich über sich selbst, über die Tendenz und das Maaß Ihrer Kräfte klar werden – daß Sie im Arbeitshaus arbeiten lernen.


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