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Fünfundzwanzigstes Capitel.

In dem schattigen Garten, der ausschließlich für den Director und seine Familie bestimmt ist, befindet sich in der äußersten Ecke ein Gartenhäuschen, das auf der alten Stadtmauer steht und in der Familie den pompösen Namen »Belvedere« führt, weil man aus den Fenstern einen reizenden Blick über die Stadtwälle auf ein großes Stück der Meerenge und auf ein noch größeres der Insel haben würde, wenn man die Fenster öffnen könnte. Aber die Fenster sind sehr alt und sehr morsch und verquollen; überdies sind sie sehr schmal, und die kleinen, in Blei gefaßten Scheiben sind von buntem Glase und haben einstmals, als sie noch der integrirende Theil der Fenster einer benachbart gewesenen, längst zerstörten Capelle waren, jedenfalls ein bestimmtes Muster gehabt, das jetzt kaum noch zu erkennen ist. Ueberhaupt ist das Häuschen einigermaßen in Verfall, da auch das Holz, aus dem es gebaut ist, den Einflüssen der Sonne, des Regens und des Seewindes in den langen Jahren nicht ganz hat widerstehen können, und es wird daher nur selten benutzt, viel seltener als der Platz vor dem Häuschen, der so recht eigentlich die Sommerwohnung der Familie ist, wo sie jede gute Stunde der guten Jahreszeit verbringt.

Der Platz verdient diesen Vorzug im vollsten Maße. Auf gleicher Höhe mit dem Gartenhäuschen und dem Rande der Stadtmauer, bedeutend höher also als der übrige Theil des Gartens, trifft ihn der erfrischende Hauch des nahen Meeres, während durch das dichte Laub der alten Platanen, die ihn rings umgeben, nur selten ein vereinzelter Strahl der Mittagssonne den Boden streift. Die Zwischenräume der Baumstämme sind mit der grünen Wand einer lebendigen Hecke ausgefüllt, die das Trauliche, Lauschige des Platzes noch vermehrt und von der sich sechs Hermen aus Sandstein vortrefflich abheben. Zwei runde Tische aus grün angestrichenem Tannenholz rechts und links mit den nöthigen Stühlen laden zum Träumen und Arbeiten ein.

Von den zwei Personen, die etwa vierzehn Tage, nachdem ich zum ersten Male das Zimmer verlassen durfte, an einem schönen Augustabende hier saßen, war die eine mit dem Ersteren beschäftigt – wenn Träumen eine Beschäftigung genannt werden kann – die andere arbeitete wirklich sehr eifrig. Der Träumer war ich selbst, und eine leichte Decke, die trotz der Wärme des Tages über meinen Knieen lag, schien andeuten zu wollen, daß ich mich noch in dem Stadium der Reconvalescenz befand, wo Träumen erlaubt und Arbeiten verboten ist; die andere war ein junges Mädchen von vierzehn Jahren und ihre Arbeit bestand darin, daß sie meinen Kopf à deux crayons in Lebensgröße auf einem Reißbrett zeichnete. Dabei mußte sie natürlich oft ihre Augen über den Rand des Reißbrettes zu mir erheben, und wenn ich sagen soll, was der Gegenstand meiner Träume war, so muß ich gestehen, daß es eben diese Augen waren.

Und wahrlich, man brauchte nicht eben zwanzig Jahre und Reconvalescent und derjenige zu sein, auf welchen sich diese Augen oft mit jenem eigentümlichen, zugleich festen und zweifelnden, zugleich nach Außen und nach Innen gekehrten Blick richteten, den der Künstler auf sein Modell heftet – man brauchte, sage ich, weder das Eine, noch das Andere, geschweige denn alles Dreies auf einmal zu sein, um von diesen Augen gefesselt zu werden. Sie waren groß und blau und tief, von jener Tiefe, die eine Oberfläche hat, auf welcher sich jede Regung des Gemüthes, jedes Licht, das darüber hingleitet, jeder Schatten, der vorüberzieht, wiederspiegelt und doch noch immer ein Etwas bleibt, das unergründlich ist. Schon einmal – vor nicht sehr langer Zeit – hatte ich in Augen geschaut, die unergründlich waren – wenigstens für mich – aber wie anders waren diese hier! Ich fühlte wohl den Unterschied, ohne daß ich damals im Stande gewesen wäre, ihn zu definiren. Ich wußte nur, daß diese Augen mich nicht verwirrten, beunruhigten, heute entflammten, morgen in Eiswasser tauchten, sondern daß ich wieder und immer wieder hinein schauen konnte, wie man voll seliger Ruhe in den Himmel schaut und kein Wunsch, kein Verlangen sich in uns regt, außer vielleicht, daß man Flügel haben möchte.

Was diese großen, tiefen Augen des Mädchens noch größer und tiefer erscheinen ließ, war vielleicht der Umstand, daß sie weitaus das Schönste in dem Gesichte waren. Einige sagten: das einzige Schöne; ich konnte mich nie zu dieser Ansicht bekennen. Die Züge waren allerdings nicht regelmäßig und ganz gewiß nicht, was man frappant nennt, aber Unedles war nichts darin; im Gegentheil Alles fein und eigen, und klug und sinnig, von sanften und doch bestimmten Linien umschrieben. Fein und eigen und klug und sinnig – besonders der Mund, der zu sprechen schien, selbst wenn die keuschen Lippen, wie es meist der Fall, fest geschlossen waren. Und für dies kluge, sinnige, etwas bleiche Gesicht bildeten zwei dicke Flechten des reichsten, aschblonden Haares, die nach der Mode jener Zeit in der Höhe der Schläfen ansetzten und unter den Ohren weg nach hinten verliefen, einen köstlichen Rahmen. Der wunderschön geformte, feine Kopf war meistens etwas nach vorn oder zur Seite geneigt. Diese Haltung, verbunden mit dem gewöhnlichen Ernst des Gesichtes, ließen das Mädchen um mehrere Jahre älter erscheinen. Aber Arbeit und Sorgen verwischen bald den Schimmer der Jugend, und sie, die fast noch Kind war, kannte die Arbeit nur schon zu gut, und in ihr junges Leben hatte die Sorge nur schon zu düstere Schatten geworfen.

In diesem Augenblick aber zog ein Lächeln über das ernste Gesicht. Sie blickte über den Rand des Reißbrettes und sagte: Wenn Sie wollen, können Sie aufstehen.

Sind Sie fertig? erwiderte ich, indem ich sofort von der Erlaubniß Gebrauch machte und hinter ihren Stuhl trat. Aber Sie sind ja immer noch bei den Augen? Wo nehmen Sie nur die Geduld her?

Und Sie die Ungeduld? antwortete sie, indem sie ruhig weiter zeichnete. Sie machen es gerade wie unser kleiner Oskar. Wenn der eine Bohne gepflanzt hat, gräbt er sie nach fünf Minuten wieder aus und sieht zu, ob sie schon gewachsen ist.

Dafür ist er auch erst sieben Jahre.

Also alt genug, um zu wissen, daß die Bohnen nicht in so kurzer Zeit wachsen können.

Sie schelten immer auf Oskar, und doch ist er Ihr Liebling.

Wer sagt das?

Benno hat es mir gestern in aller Heimlichkeit vertraut. Ich sollte es Ihnen aber nicht wieder sagen.

Dann hätten Sie es auch nicht thun sollen.

Aber Recht hat er doch.

Nein, er hat nicht Recht; Oskar ist eben der Kleinste, und so muß ich mich seiner am meisten annehmen; Benno und Kurt werden schon eher ohne mich fertig.

Bis auf die Arbeiten, die Sie ihnen corrigiren.

Nun setzen Sie sich wieder.

Aber sprechen darf ich doch?

Gewiß.

Ich hatte mich wieder gesetzt, aber es vergingen mehrere Minuten, während welcher ich stumm dem Arbeiten des Mädchens zusah. Ein Strahl der Abendsonne, der sich durch das dichte Laub der großen Bäume stahl, traf ihr Haupt und webte um dasselbe eine Aureole.

Fräulein Paula, sagte ich.

Paula, sagte sie, ohne aufzublicken.

Also Paula.

Was ist's?

Ich möchte, ich hätte eine Schwester gehabt, wie Sie.

Sie haben ja eine Schwester.

Sie ist so viel älter, als ich und hat sich nie sehr um mich bekümmert, und jetzt wird sie vollends nichts mehr mit mir zu schaffen haben wollen.

Wo sagten Sie, daß Sie lebt?

An der polnischen Grenze. Sie ist an einen Steuerbeamten verheirathet – seit zehn Jahren; sie hat viele Kinder.

Da wird sie mit denen genug zu thun haben; Sie dürfen ihr nicht bös sein.

Ich bin ihr nicht bös, ich kenne sie kaum mehr, ich glaube, ich würde an ihr vorübergehen, wenn ich ihr auf der Straße begegnete.

Das ist nicht gut; Geschwister müssen zusammenhalten. Wenn ich dächte, ich begegnete Benno oder Kurt oder gar meinem kleinen Oskar nach zehn oder zwanzig Jahren auf der Straße und sie kennten mich nicht mehr – ich würde sehr unglücklich sein.

Sie werden Sie schon kennen, und wenn funfzig Jahre darüber vergangen wären.

Dann wäre ich eine alte Frau, aber so alt werde ich nicht.

Weshalb nicht?

Dann sind die Knaben längst Männer und der Vater und die Mutter sind gestorben, was soll ich dann auf der Welt?

Aber Sie werden doch heirathen?

Nie, sagte sie.

Das klang so ernsthaft, und die großen, blauen Augen, die sie über das Reißbrett weg auf meine Stirne heftete, an welcher sie gerade zeichnete, blickten so ernsthaft, daß ich gar nicht lachen konnte, wozu ich einige Lust verspürt hatte.

Warum? fragte ich.

Bis die Knaben so weit sind, daß sie meiner nicht mehr bedürfen, bin ich zu alt.

Aber Sie können ihnen doch nicht immer die Arbeiten corrigiren.

Ich weiß nicht, mir ist, als müßte ich das immer.

Auch wenn sie Latein und Griechisch lernen?

Ich lerne jetzt schon Latein mit ihnen, warum sollte ich nicht auch Griechisch lernen?

Griechisch ist verzweifelt schwer; ich sage Ihnen, Paula, die unregelmäßigen Verben – da kommt kein Mensch durch, außer etwa Gymnasiallehrer, die ich aber meinerseits nie für richtige Menschen gehalten habe.

Das ist wieder so eine von Ihren Spöttereien, die Sie Benno nicht hören lassen dürfen – er will Lehrer werden.

Ich denke, das werde ich ihm noch ausreden.

Thun Sie es nicht! Weshalb soll er nicht Lehrer werden, wenn er Lust und Geschick dazu hat? Ich weiß mir nichts Lieberes, als Jemanden etwas zu lehren, wovon ich glaube, daß es gut und für ihn zu wissen nützlich ist. Und dann ist es auch ein schickliches Fach für einen Knaben in Benno's Verhältnissen. Ich habe mir sagen lassen, daß, wenn Jemand keine großen Ansprüche mache, er es darin bald zu einer bescheidenen Existenz bringe. Der Vater ist anderer Ansicht; er wünscht, Benno möchte Mediciner oder Naturforscher werden. Das soll ein kostspieliges Studium sein, und wenn der Vater auch immer guten Muthes ist – aber ich weiß nicht, ob er es immer ist.

Paula beugte den Kopf auf das Reißbrett und zeichnete eifriger als je; nur sah ich, daß sie sich ein oder zweimal mit dem Tuche schnell über die Augen fuhr. Die Bewegung schnitt mir in's Herz, ich wußte, welche Sorgen Paula – und gewiß nicht ohne Grund – um die Gesundheit ihres Vaters trug, den sie über Alles liebte.

Fräulein Paula, sagte ich.

Sie corrigirte mich diesmal nicht, vielleicht hatte sie mich gar nicht gehört.

Fräulein Paula, sagte ich noch einmal, Sie müssen sich nicht solche trübe Gedanken machen. Ihr Vater ist gewiß nicht so krank, und dann glauben Sie gar nicht, was die Zehren für eine Race sind. Der Steuerrath, sagte Herr von Zehren, sei immer ein Schwächling gewesen, und kann sich trotzdem noch immer neben Anderen, die für kräftige Männer gelten, sehen lassen; aber Herr von Zehren selbst – der war von Stahl, und sagte doch einmal, sein jüngster Bruder hätte es mit Zweien so wie er aufgenommen. Und sehen Sie, so eine kräftige Natur, das ist Alles, sagt Doctor Snellius, und ich sage es auch.

Freilich, wenn Sie es sagen –

Paula blickte auf und ein melancholisches Lächeln spielte um ihren reizenden Mund.

Sie meinen so ein Jammerbild, wie ich hier sitze, dürfe nicht von Kraft sprechen?

O nein, ich weiß, wie stark Sie waren, ehe Sie krank wurden, und wie bald Sie es wieder sein werden, wenn Sie sich ordentlich in Acht nehmen, was Sie nicht immer thun – Sie sollen zum Beispiel nie ohne Decke sitzen, und da haben Sie sie schon wieder fallen lassen; aber –

Aber, sagte ich, indem ich gehorsam die Decke wieder über die Kniee zog.

Ich meine nur, es sei doch wohl nicht ganz richtig, daß eine kräftige Natur Alles sei. Kurt ist gewiß der kräftigste von den Knaben und doch schreibt und liest und rechnet Oskar so fließend wie Kurt, trotzdem Kurt neun Jahre und Oskar erst sieben Jahre ist.

Dafür ist auch Oskar Ihr Liebling.

Das war nicht hübsch von Ihnen, sagte Paula.

Sie sagte es so sanft und freundlich, ohne eine Spur von Bitterkeit, und doch fühlte ich, wie mir das Blut in die Wangen schoß. Mir war, als hätte ich ein wehrloses Kind geschlagen.

Nein, es war nicht hübsch von mir, sagte ich eifrig, gar nicht hübsch; es war recht häßlich; ich weiß selbst nicht, wie ich gegen Sie so häßlich sein kann; aber die fleißigen Knaben sind mir von jeher so oft als Muster vorgehalten worden, und ich habe dann stets so viel böse Worte mit in den Kauf bekommen, daß mir das Blut zu Kopfe steigt, wenn ich dergleichen höre. Ich muß dann immer daran denken, wie dumm ich selbst bin.

Das ist auch nicht hübsch, daß Sie sagen, Sie seien dumm.

Nun denn, daß ich so wenig weiß, daß ich so wenig gelernt habe!

Dafür können doch aber nur Sie selbst – wenn es wirklich der Fall ist.

Ja, es ist der Fall, entgegnete ich. Es ist schrecklich, wie wenig ich weiß. Von dem Griechischen ganz zu schweigen, von dem ich behaupte, daß es zu schwer und nur von den Lehrern erfunden ist, um uns zu quälen, so ist es mit meinem Latein auch nicht weit her, und das ist wohl meine Schuld, denn ich habe gesehen, daß Arthur, der, glaube ich, auch nicht klüger ist, als ich, ganz gut damit zurechtkam, wenn er wollte. Ihre englischen Bücher, in denen Sie so viel lesen, könnten für mich Griechisch sein, und Französisch – ich weiß wirklich nicht, ob ich noch avoir und être kann. Und gestern, als Benno nicht mit seinen Exempeln zurecht kommen konnte und mich fragte, und ich ihm sagte: er müsse selbst fertig werden – ich will es Ihnen nur gestehen: ich hatte keine Ahnung, wie er es anfangen müsse, und als er hernach wirklich selbst fertig wurde, habe ich mich im Stillen vor dem elfjährigen Jungen geschämt – wie ich mich in meinem Leben vor Doctor Busch, unserem Mathematiker, nicht geschämt habe, wenn er einmal, wie allemal, unter meine Arbeiten: grundschlecht oder ganz ausgezeichnet schlecht, oder sehr gut abgeschrieben oder sonst eine ähnliche maliciöse Censur setzte.

Paula hatte mich, während ich so reumüthig meine Sünden beichtete, immerfort mit großen Augen angesehen und manchmal mit dem Kopfe geschüttelt, als traue sie ihren Ohren nicht.

Wenn das wirklich wahr ist –

Warum sagen Sie immer Wenn! Paula? So wenig ich gelernt habe, so habe ich doch wenigstens die Wahrheit zu sagen gelernt, und Ihnen könnte ich schon gar nichts vorlügen.

Das Mädchen erröthete bis in die blonden Flechten hinauf.

Verzeihen Sie mir, sagte sie, ich wollte Sie nicht kränken, obgleich ich kaum glauben kann, daß Sie so – daß Sie Ihre Zeit auf der Schule so schlecht angewendet haben; ich wollte nur sagen, Sie müssen das wieder gut machen; Sie müssen das Alles recht schnell nachholen.

Das ist leicht gesagt, Paula! Wie soll ich das anfangen? Benno weiß mehr Französisch und Geographie und Mathematik als ich und ist elf Jahre, und ich werde im nächsten Monate zwanzig.

Paula schob das Reißbrett vor sich auf den Tisch und stützte die Stirn in die Hand, augenscheinlich, um besser über einen so verzweifelten Fall nachzudenken. Plötzlich hob sie den Kopf und sagte schnell und leise:

Sie müssen es dem Vater sagen.

Was soll ich ihm sagen?

Alles, was Sie mir gesagt haben.

Er würde mir auch nicht helfen können.

Ganz gewiß, Sie glauben nicht, wie viel der Vater weiß. Er weiß Alles, er versteht Alles.

Ich glaube es gern, Paula; aber was ist damit geholfen? Er kann mir von seinem Wissen nichts abgeben, wenn er auch gut genug wäre, es zu wollen.

Das kann er freilich nicht; Sie müssen eben selbst arbeiten; aber wie man am besten arbeitet, wie man am schnellsten arbeitet, das kann er und das wird er Ihnen sagen, wenn Sie ihn darum bitten. Wollen Sie?

Freilich will ich, aber –

Nein, nicht Aber! Ich will nicht Wenn! sagen, da dürfen Sie auch nicht Aber! sagen. Wollen Sie?

Ja.

Ich hatte das Ja, weil es mich einige Anstrengung kostete, laut und kräftig gesagt. Paula faltete die Hände, neigte den Kopf gerade als ob sie betete, daß mir mein Ja gesegnet sein möge. Es war so still auf dem Platze; nur ein Vögelchen zwitscherte und die rothen Abend-Sonnenstrahlen spielten durch die Zweige. War es nur ein Ausfluß der weichen Stimmung, die mir von meiner Krankheit her noch anhaftete – aber mir wurde eigen zu Muthe. Es war mir, als befände ich mich in einem Tempel und hätte eben ein feierliches Gelübde abgelegt, durch das ich mit meiner Vergangenheit gebrochen und mich einem neuen Leben, neuen Verpflichtungen geweiht hätte. Und dabei blickte ich starr auf das liebe Mädchen, das noch immer, das sinnige Haupt gebeugt, die Hände gefaltet, dasaß – blickte so starr, daß mir die Thränen in die Augen kamen und der Platz mit den hohen Bäumen, durch deren Zweige die Sonnenstrahlen spielten, und das junge Mädchen mit den gefalteten Händen – daß Tempel und Priesterin meinen Blicken hinter einem Schleier verschwanden.

Da ertönten aus dem Garten helle Stimmen; es waren Paula's Brüder, die im Hause ihre Schularbeiten gefertigt hatten und jetzt frohen Sinnes ihrem Lieblingsplatz zueilten, wo sie die Schwester zu finden sicher waren. Paula legte ihre Zeichnen-Materialien zusammen und war im Begriff, einen Bogen Seidenpapier über mein Conterfei zu breiten, als die Knaben in vollem Lauf den Hügel herauf zu uns gerannt kamen.

Ich bin der Erste! rief der kleine Oskar, indem er der Schwester stürmisch in die Arme flog.

Weil wir Dich zuerst haben kommen lassen, sagte Kurt, sich mit der Gewandtheit eines Equilibristen auf meine Kniee schwingend.

Zeig' mal, Paula, sagte Benno, indem er Paula die Hand auf den Arm legte.

Paula schlug das Papier wieder zurück; Benno blickte eifrig auf die Zeichnung und erhob den Blick prüfend zum Original; Kurt glitt eiligst von meinen Knieen herab, sich das Werk der Schwester ebenfalls zu besehen; selbst Oskar steckte seinen Lockenkopf unter der Schwester Arm hindurch, er wollte auch wissen, um was es sich handelte. Es war eine reizende Gruppe: die drei kleinen Knaben, wie sie, dicht um die Schwester zusammengedrängt, alle die glänzenden Augen bald eifrig auf mich richteten, bald auf das Bild senkten.

Das ist der Onkel Doctor! sagte Oskar.

Paula lächelte und strich dem lieben Buben sanft mit der Hand über die blonden Locken.

Du bist dumm, sagte Kurt, der hat ja eine Brille.

Es wird gut, Paula, sagte Benno mit der Miene eines Kenners.

Meinst Du? fragte Paula.

Ja, sagte Benno, nur daß er nicht so hübsch ist.

Nun habt Ihr es gesehen, sagte Paula in entscheidendem Tone, da, Benno, trag' es in das Belvedere.

Ich will es tragen! sagte Kurt.

Nein, ich! rief Oskar.

Habt Ihr nicht gehört, daß ich es tragen soll! sagte Benno, Ihr seid zu klein.

Ja, Du bist der Große! rief Kurt höhnisch.

Still, Ihr! sagte Paula. Ihr sollt nicht immer darüber streiten. Wer älter ist, ist größer, dafür kann er nichts, und wer jünger ist, ist kleiner, und kann auch nichts dafür.

Nein, Paula! sagte Kurt, das ist nicht wahr; Georg ist jünger als Vater und ist doch größer als Vater.

Da kommt Vater, sagte Paula, und auch Mutter, und nun haltet Euch still.

Der Director kam den Weg herauf; er führte seine Gattin am Arme, langsam, wie es für die fast Erblindete, deren Gesicht ein breiter grüner Schirm verdeckte, bequem war. Hinter ihnen, bald auf der rechten, bald auf der linken Seite des Weges, den unbedeckten Kopf bald nach oben, bald nach unten wendend, den Stock bald in der rechten und den Hut in der linken, bald den Stock in der linken und den Hut in der rechten Hand tragend, kam eine kleine, untersetzte Gestalt mit einem unförmlichen großen Kopf, dessen gänzlich kahler Schädel in der Abendsonne erglänzte.

Es war Dr. Willibrod Snellius, Hausarzt und Hausfreund der Familie und zugleich Gefängnißarzt.

Ich hatte mich erhoben und war den Ankommenden ein paar Schritte entgegengegangen.

Nun, wie befinden Sie sich? fragte der Director, mir die Hand reichend; hat Ihnen der erste längere Aufenthalt im Freien gut gethan?

Wollen morgen früh wieder anfragen! hm, hm, hm!

Doctor Snellius begleitete seine Aeußerungen gern mit einigen eigentümlichen Nasenlauten, die halb Brummen, halb Summen und immer genau eine Octave tiefer waren, als seine Stimme, die sehr dünn war und eine ungemein hohe Lage hatte. Diese seine Stimme – Fistelstimme nannte er sie – war dem Doctor, der viel Geschmack hatte, ein Gräuel. Mit den eine Octave tieferen Brummtönen suchte er sich – nach seiner eigenen Aussage – davon zu überzeugen, daß er wirklich ein Mensch und kein Hahn sei, wofür er sich, falls er sich nur nach seiner Stimme zu classificiren hätte, nothwendig halten müsse.

Sie haben es ihm aber doch selbst verordnet, Doctor, sagte der Director.

Weiß ich deshalb, ob es ihm bekommen wird, hm, hm, hm! sagte Dr. Snellius. Es war eine Medizin, wie andere auch. Wenn ich immer wüßte, wie meine Recepte anschlügen, würde ich als Baron Willibrod Snellius auf Snelliusburg sterben, hm, hm, hm!

Wenn man Sie hört, sollte man glauben, Eure ganze Wissenschaft sei eitel Lug, sagte Frau von Zehren, auf einem Stuhle, den ihr Paula zurechtgerückt hatte, Platz nehmend.

Sie haben am wenigsten Ursache, uns für Hexenmeister zu halten, gnädige Frau!

Eben weil ich Euch nicht dafür halte, verlange ich auch nichts von Euch, was vielleicht unmöglich ist.

Frau von Zehren nahm den entstellenden Schirm ab und hob die müden Augen dankbar zu den Kronen der Bäume, die das noch immer starke Licht des Tages freundlich dämpften. Wie schön mußten diese Augen gewesen sein, als sie noch in Glück und Jugend strahlten! Wie schön dieses Gesicht, ehe Krankheit die lieblichen Züge verwüstete und lange vor der Zeit – denn Frau von Zehren war jetzt kaum vierzig Jahr alt – das lockige Haar grau färbte! Ja, die bleiche Dame war noch schön – für mich wenigstens, der ich, so kurze Zeit ich auch erst in ihrer Nähe weilte, doch bereits erfahren, wie engelhaft gut sie war, wie sie trotz der unendlichen Liebe, mit der sie an Gatte und Kindern hing, doch ihr Herz offen gehalten und Mitleiden mit Allem hatte, was da litt.

Wir werden nächstens den Besuch Ihres Freundes Arthur haben, sagte der Director zu mir, mich etwas auf die Seite ziehend; aber freilich, Sie sagten mir ja, daß er sich nicht eben freundschaftlich gegen Sie benommen.

Nein, sagte ich, ich hätte sonst lügen müssen. Wie kommt er hierher?

Er hat Ostern sein Examen gemacht und ist nun als Fähnrich zu unserem Bataillon commandirt. Wir werden dann auch wohl seine Eltern bei uns sehen und vermuthlich auch den Commerzienrath, wenn er sich herbeiläßt, seine Sache in eigener Person zu führen. Es handelt sich um die Nachlassenschaft meines Bruders, soweit sie nicht dem Gerichte oder seinen Gläubigern bereits verfallen ist, unter denen, wie Sie wissen, der Commerzienrath die erste Stelle einnimmt. Die Sache ist deshalb etwas schwierig, weil bei dem Schloßbrande Alles, was etwa an Papieren vorhanden gewesen, verloren gegangen ist. Dafür hat Konstanze aus Neapel einen notariellen Verzicht auf die Hinterlassenschaft eingesendet, und so restiren eigentlich nur mein Bruder und der Commerzienrath, denn ich für meinen Theil möchte am liebsten ganz aus dem Spiele bleiben; ja, ich kann sagen, daß, wenn man nicht das Unvermeidliche mit Würde tragen müßte, ich der Zusammenkunft mit großem Widerwillen entgegensehen könnte. Was wird da nicht Alles zur Sprache kommen? Was wird da nicht Alles aus dem Grabe aufgewühlt werden? – Was willst Du, mein Kind?

Oskar mußte dem Vater einen unglücklichen Käfer zeigen, der ihm über den Weg gelaufen; ich blieb in dem Gartenhaus sitzen – in peinlichen Gedanken, wie sie mir, seitdem ich vom Krankenbette erstanden, nie wieder gekommen waren. Arthur – Konstanze! Arthur, der mich so schnöde verleugnet, Konstanze, die mich so schmählich genasführt! Der Steuerrath, der Commerzienrath! – der Steuerrath, von dem ich wußte, daß er der feige Helfershelfer seines tapferen Bruders gewesen; der Commerzienrath, der mit dem Leichtsinne des Wilden gewuchert und sehr wahrscheinlich den Fall desselben, wenn nicht allein veranlaßt, so doch – ich war davon überzeugt – geflissentlich beschleunigt hatte! Welches Chaos von Empfindungen, unter denen ich nur schon zu viel gelitten, regten diese Namen in mir auf! wie häßlich erschien mir meine Vergangenheit, in deren Geschichte diese Namen, diese Menschen für immer verflochten waren! Häßlich, wie mir die Insel drüben erschien durch eine schmutzig-schwefelgelbe Scheibe des Fensters, an welchem ich stand. Und nun, als ich mich seufzend umwendete, fiel mein Blick durch die weit offenstehende Thür auf den Platz unter den Platanen, der von dem reinen, schönen Abendlichte erfüllt war, und auf die guten Menschen, die sich in diesem Lichte hin und her bewegten. Der Director und der Doctor promenirten, der Letztere bald links, bald rechts neben dem Ersteren, in eifrigem Gespräche auf und ab; die beiden älteren Knaben spielten um die Kniee der Mutter, die, in ihrem Lehnstuhle sitzend, mit ihnen lachte und scherzte; Paula hatte dem Dienstmädchen die Sachen abgenommen und bereitete den Abendtisch, denn es sollte, wie immer an schönen Tagen, im Freien gegessen werden. Wie zierlich sie das that; wie geräuschlos, damit die Herren nicht in ihrem Gespräche gestört würden, damit das Klappern der Teller das krankhaft reizbare Ohr der Mutter nicht beleidigte! Und wie sie dabei noch immer Zeit hatte, mit dem kleinen Oskar zu plaudern, der sie auf Tritt und Schritt begleitete, und sich nach mir umzusehen, ob ich auch nicht im Zuge stand! Ja, sie war schöner als meine dunkle, stürmische Vergangenheit, die helle, friedliche Gegenwart; aber mir war, als ob ein Schatten aus jener in diese fiele. Wenn Arthur hieherkam, wenn er, wie voraussichtlich, als ein Mitglied der Familie in dieselbe aufgenommen wurde, wenn er mit seiner glatten Zunge sich in das Vertrauen dieser harmlosen Menschen hineinzulügen, mit seinen glatten Manieren sich in ihre Gunst zu schmeicheln wußte – wenn er, der schon als unreifer Knabe ein Mädchenjäger gewesen war, es wagte – und was würde der Freche nicht wagen! – Paula in seiner bekannten Weise den Hof zu machen – der Cousin der Cousine! – ich mußte wohl noch sehr schwach sein, denn ich zitterte bei diesem Gedanken vom Kopf bis zu den Füßen und erschrak heftig, als jetzt Jemand, den Gartengang heraufkommend, sich dem Platze unter den Platanen näherte. Ich meinte, es müßte schon der einst so heißgeliebte und jetzt so verhaßte Freund sein.

Aber es war kein Porte-Epée-Fähnrich in dem Glanze seiner neuen Uniform, sondern ein hagerer, schwarzgekleideter Herr, der eine sehr schmale weiße Halsbinde und einen flachen Hut mit sehr breiter Krämpe trug und dessen schlichtes, dunkles, unmodisch langes Haar, als er jetzt den breitkrämpigen Hut, höflich grüßend, abnahm, in der Mitte gescheitelt und hinter beide Ohren zurückgekämmt war. Ich kannte den Herrn wohl; ich hatte ihn oft genug langsamen Schrittes und gesenkten Hauptes über die Gefängnißhöfe gehen, in diese oder jene Thür eintreten und vielleicht später – immer in derselben demüthigen Haltung – herauskommen sehen. Auch war mir das Glück seiner persönlichen Bekanntschaft bereits zu Theil geworden, indem er eines Tages unvermuthet in meinem Krankenzimmer erschien und von dem Heile meiner Seele zu sprechen anfing; und ich würde dies Glück noch öfter gehabt haben, wenn Dr. Snellius, der dazu kam, sich diese Concurrenz nicht verbeten hätte, indem er andeutete, daß es sich vorläufig weniger um das Heil meiner Seele als um das meines Körpers handle, für welches so aufregende Gespräche nichts weniger als dienlich wären. Ja, diese Meinungs-Differenz hatte vor der Thür meines Zimmers zu einem ziemlich lebhaften Dispute geführt, bei dem es, wie mir schien, zu recht ärgerlichen Worten kam, und es war deshalb gewiß ein Beweis der versöhnlichen Gesinnung des Herrn Diaconus und Gefängnißpredigers Ewald von Krossow, daß er jetzt, nachdem er der Familie Guten Abend gesagt, den Doctor ebenso zuvorkommend begrüßte und mir, den er alsbald ausfindig gemacht hatte, sogar die Hand reichte.

Wie geht es Ihnen, mein Lieber? fragte er mit seiner leisen Stimme. Aber wie sollte es Ihnen anders als gut gehen, da ich Sie, trotzdem es bereits etwas kühl wird, noch hier draußen finde. Das soll kein Einspruch gegen Ihr besseres Wissen sein, verehrter Herr Doctor! Ich weiß gar wohl: Praesente medico nihil nocet.

Der Doctor kratzte mit dem rechten Fuße wie ein Hahn, der sich zum Kampfe rüstet, und krähte in den höchsten Tönen. Da ist es Jammer und Schade, daß, als Adam den verhängnißvollen Apfel aß, kein Arzt zugegen war. Der Arme lebte vielleicht heute noch. Hm, hm.

Er stierte den Pastor durch seine Brillengläser wüthend an, ob der Hieb getroffen habe; der Pastor lächelte mild.

Ei, ei, Herr Doctor, immerdar auf der Bank, wo die Spötter sitzen?

Ich muß wohl bleiben, wo ich einmal bin; ich gehöre nicht zu den Leuten, die nie um einen guten Platz verlegen sind.

Aber zu denen, die immer eine scharfe Antwort bereit haben.

Scharf nur für die butterweichen Seelen.

Sie wissen, daß ich ein Diener des Friedens bin.

Sie können ja die Herrschaft wechseln.

Und daß es mein Amt ist, zu vergeben.

Wenn Sie es von Gott haben, wird ja wohl auch der Verstand dazu nicht vergessen sein.

Herr Doctor!

Herr von Krossow!

Die Unterhaltung zwischen den beiden Herren war wohl kaum für meine Ohren bestimmt gewesen, wenigstens von dem Prediger nicht, der fortwährend und selbst noch das letzte: Herr Doctor! im leise abwehrenden Tone der beleidigten Unschuld sprach und sich auch jetzt mit einem mitleidigen Achselzucken abwendete und zu den Uebrigen trat.

Der Streithahn von Doctor, dem sein Gegner so unversehens weggelaufen war, blickte noch ein paar Momente starr vor sich, brach dann in ein heiser krähendes Gelächter aus, schüttelte die Arme wie ein paar Flügel und wendete sich zu mir, als hätte er die größte Lust, den unterbrochenen Kampf mit mir fortzusetzen.

Sie thäten auch gescheidter, sich auf Ihr Zimmer zu bemühen.

Ich habe nur auf Ihre Ordre gewartet.

Die Ihnen hiermit wird, und ich werde selbst für pünktliche Ausführung Sorge tragen.

Er nahm meinen Arm und zog mich so schnell fort, daß ich kaum Zeit behielt, den Zurückbleibenden Gute Nacht zu sagen. Sein Zorn war noch nicht verraucht; er schnaufte, er zischte, er schnalzte mit der Zunge und murmelte zwischendurch: Lump, Lump, Lump!

Sie scheinen keine große Meinung von unserem Herrn Prediger zu haben? sagte ich.

Werden Sie nicht auch noch ironisch, junger Mensch! rief der Doctor, indem er zu mir hinaufblickte. Hohe Meinung! hoher Unsinn! Wie kann man von dem Kerl eine hohe Meinung haben!

Und doch ist der Direktor immer freundlich gegen ihn.

Weil er gegen Jedermann freundlich ist und nicht bedenkt, daß dies gar kein Mann und überhaupt kein Mensch, sondern eine Schlange ist, die auf dem Bauche kriecht und Staub frißt, und den Busen sticht, der dumm genug ist, das kaltblütige Ungeheuer erwärmen zu wollen. Freundlich! ja wohl! das ist sehr leicht, wenn man anderen ehrlichen Leuten dafür die Mühe überläßt, desto gröber zu sein.

Das ist ja keine große Mühe für Sie, Doctor.

Junger Mensch, ärgern Sie mich nicht! Ich sage Ihnen, die Sache ist gar nicht spaßhaft, denn, wenn ich den Kerl nicht wegbeiße, beißt er über kurz oder lang uns Alle weg, seinen freundlichen Freund, den Director, zu allererst. Und Ihnen hat er auch schon etwas eingebrockt.

Mir?

Ihnen, allerdings Ihnen, dem Director, mir – der Kerl schlägt gern drei Fliegen mit einer Klappe.

Aber so sagen Sie doch, Doctor, ich bitte Sie!

Ich würde es Ihnen sagen, auch wenn Sie mich nicht bäten. Setzen Sie sich da in den Lehnstuhl und machen Sie sich's bequem; es ist vermuthlich das letzte Mal, daß Sie darin sitzen.

Wir waren in mein Zimmer gelangt; der Doctor drückte mich in den Lehnstuhl, indem er selbst vor mir stehen blieb (bald auf dem einen, bald auf dem andern Beine, selten auf beiden zu gleicher Zeit), und also sprach:

Die Situation ist einfach, aber klar. Dem pietistischen, hocharistokratischen, bettelarmen geistlichen Schluckspecht, der sich nur zum Gefängnißprediger hat machen lassen, den Glanz seiner christlichen Demuth leuchten zu lassen vor den Leuten, sind der humanistische Director und der materialistische Doctor ein Gräuel. Humanität ist so einem Gauch eine demokratische Schwachheit und die Materie respectirt er nicht, außer, wenn er sie essen kann. Wir führten mit dem verstorbenen Pastor Michaelis, noch Einem aus der alten, guten, rationalistischen Schule, ein Leben wie im Paradiese; er und Herr von Zehren, oder vielmehr Herr von Zehren und er – sie haben während ihrer fast zwanzigjährigen gemeinsamen Wirksamkeit die Anstalt zu dem gemacht, was sie ist, das heißt zu einer Musteranstalt in jedem Sinne des Wortes, und ich habe die fünf Jahre, die ich hier bin, gethan, was ich konnte, mich in den Geist dieser Männer einzuleben, und ich glaube, daß es mir so ziemlich gelungen ist. Nun, seit dem halben Jahre, daß Michaelis todt und diese pietistische Schlange in unser Paradies geschlüpft, ist der Friede zum Teufel; die Schlange kriecht in alle Winkel, und wohin sie gekrochen, läßt sie die Spur ihres schleimigen Daseins. Die Beamten werden demoralisirt, die Sträflinge aufgewiegelt. Ein förmliches Complot, wie das, welches der Katzen-Caspar angestiftet hatte – Gott sei Dank, daß wir den Kerl los sind – er ist heute glücklich nach N. transportirt, wohin man ihn gleich hätte bringen sollen – wäre früher unmöglich gewesen. Der Katzen-Caspar war ein Liebling des Herrn Predigers, der in ihm ein unsauberes, aber kostbares Gefäß erblickte, dessen Reinigung ihm vorbehalten sei, und den Hallunken aus der Einzelhaft losbettelte, zu welcher ihn der Director vorsichtig verurtheilt hatte. So geht das fort: Gottesdienst publice, Betstunden privatim, seelsorgerische Bemühungen privatissime. Der Judas intriguirt gegen uns, wo und wie er kann, schmeichelt dem Director in's Gesicht, steckt meine Grobheiten ein und denkt: Ich kriege euch schon, wie der Uhu, als er die beiden Gimpel um die Ecke pfeifen hörte. Und er glaubt uns schon beim Flügel zu haben! Sie wissen, der Regierungs-Präsident, der gerade so ein Mucker, ist sein Onkel; Onkel und Neffe sind Hand und Handschuh. Der Präsident, des Directors unmittelbarer Vorgesetzter, hätte ihn schon längst beseitigt, wenn der Minister von Altenberg, eine der letzten Säulen aus der großen Zeit der Erhebung und Herrn von Zehren's Freund und Gönner, ihn nicht hielte – freilich nur noch mit schwacher Hand; denn Altenberg ist hoch bei Jahren und krank und kann jeden Tag sterben. Unterdessen wirkt man, wie man kann, und sammelt Material, das hoffentlich Wasser auf die Mühle der nächsten Excellenz ist. Und nun hören Sie: Der Assessor Lerch, mein guter Freund, ist gestern bei dem Präsidenten. Lieber Lerch, sagt der Präsident, Sie können mir wohl eine Relation über diesen Fall machen. Es ist wieder einmal eine Denunciation gegen den Director von Zehren. – Wieder einmal, Herr Präsident? fragt Lerch. Leider, wieder einmal! ich lasse das Meiste ungerügt, wenn auch nicht unbeachtet; dieser Fall ist aber so eclatant, daß ich ihn in die Hand nehmen, respective Sr. Excellenz Bericht erstatten muß. Denken Sie sich, lieber Lerch, da hat der gute von Zehren die (wie soll ich gleich sagen?) Sottise begangen, den jungen Menschen, der aus dem Contrebande-Proceß in Uselin sich einen so traurigen Namen gemacht hat – und nun kommt es: daß der Director Sie nach der Katastrophe, aus der natürlich der Denunciant die schönste Seide gesponnen, nicht in das alte, vom Schwamm zerfressene Krankenhaus, in welchem Sie unfehlbar gestorben wären, sondern hierher in seine Wohnung hat schaffen lassen; daß er Sie hier behalten hat und behält, trotzdem Sie bereits seit drei Wochen in der Reconvalescenz sind; daß er mit Ihnen wie mit seines Gleichen verkehrt; daß er Sie in seine Familie eingeführt, ja, daß Sie so zu sagen ein Mitglied der Familie geworden. Was brauche ich deutlicher zu sein? Hm, hm, hm!

Der Doctor hatte sich in die höchsten Töne des höchsten Registers hinaufgekräht und mußte mindestens zwei Octaven tiefer brummen, um sich die tröstliche Gewißheit zu verschaffen, daß er kein Hahn sei.

Und Sie halten wirklich jenen Menschen für den Denuncianten? rief ich, indem ich, meinen Reconvalescenten-Zustand ganz vergessend, zornig aufsprang.

Ich brauche nichts zu halten, denn ich weiß es. Würde ich sonst heute so grob gewesen sein?

Ich mußte unwillkürlich lachen. Als ob Phylax einer besonderen Provokation bedurft hätte, um Lips Tullian in die Waden zu fahren! Aber die Sache hatte ja auch ihre sehr ernste Seite. Der Gedanke, daß Herr von Zehren, dem ich so unendlichen Dank schuldig war, den ich so hoch verehrte, meinetwegen in noch dazu so ernste Ungelegenheiten kommen könnte, war mir unerträglich.

Rathen Sie, helfen Sie, Herr Doctor, bat ich dringend.

Ja, rathen, helfen! – Nachdem ich immer gesagt, daß Euch dies nicht so hingehen werde! Indessen, das haben Sie richtig gerathen: geholfen muß werden. Und zwar giebt es nur einen Ausweg. Wir müssen der Natter zuvorkommen, dann ist ihr für diesmal der Giftzahn ausgebrochen. Ich kenne unsern Director. Wenn er eine Ahnung davon hätte, daß man Sie ihm nehmen will – er würde sich eher die Hand abhacken lassen, als Sie hergeben. Deshalb klagen Sie noch heute Abend über Kopfschmerzen und morgen Abend um dieselbe Zeit wieder. Ihr Zimmer liegt zu ebener Erde; ein anderes ist für den Augenblick nicht vacant. Intermittens – Chinin – höhere, luftige Wohnung – übermorgen sitzen Sie wieder in Ihrer alten Zelle – lassen Sie mich nur machen!

Und ich ließ den Doctor Willibrod Snellius machen, und zwei Tage später schlief ich wieder, wenn nicht hinter Schloß und Riegel, so doch hinter den Eisengittern meiner alten Zelle.


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