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Zweiundzwanzigstes Capitel.

Es war an einem Abende im Mai, als der von zwei Gensdarmen zu Pferde begleitete Wagen, in welchem ich transportiert wurde, sich meinem Bestimmungsorte näherte. Links von der mit krüppelhaften Obstbäumen besetzten Landstraße sah ich viele Leute an der neuen Chaussee arbeiten, welche meine Vaterstadt mit der Hauptstadt des Regierungsbezirkes verbinden sollte; rechts breitete sich welliges Wiesenland aus bis zur See, von der ein breiter, dunkelblauer Streifen herübergrüßte. Jenseits des Wassers stiegen in sanfter Neigung grünende Felder von dem niedrigen Sandufer aufwärts zu mäßiger, von Wald gekrönter Höhe. Es war die Insel, die hier der Küste des Festlandes viel näher trat, als bei meiner Vaterstadt, und die ich jetzt zum erstenmale wiedersah. Vor mir, aber wohl noch eine halbe Meile entfernt, ragten ein paar Thürme mächtig über den Hügelrücken, den wir eben langsam hinauffuhren.

Mir war wunderlich zu Muthe. Ich hatte bisher den ganzen Weg nach nichts durch die Ritzen des kleinen Planwagens ausgeschaut, als nach einer Gelegenheit zur Flucht. Aber wie entschlossen ich auch war, jede noch so geringe sofort zu benützen, es hatte sich nicht die geringste geboten. Die zwei Gensdarmen, von denen der eine schon auf der Insel auf mich vergeblich Jagd gemacht, waren, ohne kaum ein Wort mit einander zu sprechen, rechts und links neben dem Wagen hergeritten, die schnauzbärtigen Gesichter fortwährend geradeaus über die Ohren ihrer Pferde auf den Weg oder seitwärts auf den Wagen gerichtet. Es war gar kein Zweifel, daß die Kolben ihrer Karabiner bei dem ersten Fluchtversuche des Gefangenen sofort mit den Schnauzbärten in Berührung gekommen sein würden. Mit zwei wohlbewaffneten, wohlberittenen, zum Aeußersten entschlossenen Männern aber anzubinden, hätte nicht die Freiheit, hätte den Tod suchen heißen.

Und auch sonst war keine von den Möglichkeiten eingetreten, die sich meine Phantasie ausgemalt hatte. Wir waren keine Brücke passirt, über deren Geländer ich dreißig Fuß hinab in einen reißenden Fluß hätte springen, wir waren über keinen von Menschen wimmelnden Marktplatz gekommen, wo ich mich hätte in einen Volkshaufen stürzen und an der Hand eines unbekannten Menschenfreundes entrinnen können. Nichts der Art war geschehen; wir hatten im Schritt oder kurzem Trabe die paar Meilen lange Strecke ohne einen Aufenthalt, ohne einen Zwischenfall irgend einer Art zurückgelegt, und dort vor mir ragten die Thürme, in deren Schatten mein Gefängniß lag!

Dennoch konnte ich in dieser entscheidenden Stunde nicht zornig und ingrimmig sein, wie ich es die ganze Zeit in der Untersuchungshaft gewesen war. Die paar Stunden in freier Luft hatten mir unsäglich wohl gethan. Vorhin hatte es eine zeitlang geregnet; ich hatte meine Hände hinausgestreckt, um die Tropfen zu fühlen; ich hatte den frischen Hauch, der durch den Wagen strich, mit Entzücken eingesogen. Jetzt war die Sonne wieder hervorgekommen und warf, kurz vor dem Untergehen, röthliche Streifen über die grünenden Saaten, über die schimmernden Wiesen. In den Bäumen an der Wegseite zwitscherten und sangen die Vögel; vor uns, gen Osten, auf dunklem Gewölk, stand ein glänzender Regenbogen, mit dem einen Fuße auf dem Festlande, mit dem andern auf der Insel. Es war so gar nichts von Haß und Zorn in dieser ruhigen, sanften Natur – im Gegentheile, ein so lieblicher Friede, eine so milde Schöne – und ich, der ich mich von Kindesbeinen Eines gefühlt mit der Natur, konnte mein Herz der süßen Lockung nicht verschließen. Es sang mit den Vögeln, es schwebte auf den feuchten Schwingen des sanften Windes segnend über die Wiesen, über die Felder; es schimmerte trostverheißend aus dem farbigen Bogen, der sich von der Erde in den Himmel und von dem Himmel wieder zur Erde spannte. Ich war das Alles: Vogelsang und Windeswehen und Regenbogenpracht, und in dem Gefühle, daß ich es war und dennoch hier im Gefangenen-Wagen als ein Gefangener saß, überkam mich ein seltsam Mitleid mit mir selbst, wie ich es nie zuvor empfunden. Ich verbarg mein Gesicht in den Händen und weinte und schluchzte vor Glück und Jammer, vor Lust und Schmerz.

Die Sonne war untergegangen und das Gewölk im Westen und Osten glühte in den wunderbarsten Farben, als der Wagen über die Brücken durch die Thore der Festung rollte, ein paar ziemlich schmale und sehr schlecht gepflasterte Straßen hinaufrumpelte und endlich vor einer Thorfahrt an einer hohen kahlen Mauer still hielt. Die Thorflügel thaten sich langsam auseinander, der Wagen setzte sich wieder in Bewegung und fuhr quer über einen weiten, von hohen, kahlen Mauern und großen unheimlichen Gebäuden ringsum eingeschlossenen Hof zum Portale des größten und unheimlichsten und hielt dort still; ich war da angelangt, wo ich sieben Jahre bleiben sollte, weil ich meinen Freund und Beschützer vor den Folgen eines Verbrechens hatte bewahren wollen, das ich selbst verabscheute.

Sieben Jahre! Ich war entschlossen, daß es nicht so lange dauere. Zwar der Graf von Monte-Christo schlummerte zu jener Zeit noch in dem erfindungsreichen Haupte seines Verfassers, und ich wußte also noch nichts von den Wunderthaten des Gefangenen auf Castell If; aber die Aventuren des Baron von Trenck hatte ich gelesen, und wie man es möglich mache, ellendicke Mauern zu durchbrechen und riesige Festungswälle zu unterminieren. Was ihm gelang, konnte mir, mußte mir auch gelingen.

So war denn mein Erstes, daß ich meine Zelle, als sich kaum die Thür hinter dem brummigen Aufseher geschlossen, so genau untersuchte, wie es eben das geringe noch vorhandene Tageslicht erlauben wollte. Wenn alle Gefangenen so gut untergebracht waren, gab es unter ihnen gewiß manche, die als freie Leute schlechter gewohnt hatten. Allerdings waren die Wände des eben nicht großen Gemaches einfach weiß; aber so war auch meine Dachkammer im väterlichen Hause gewesen. Dann war da eine eiserne Bettstelle mit einem, wie es schien, sehr guten Bette, eine Waschkommode, an dem einzigen Fenster ein großer Tisch mit einem verschließbaren Kasten, ein paar hölzerne Stühle und – was mich Wunder nahm – ein altertümlicher, mit Leder überzogener, sehr großer, bequemer Lehnstuhl, der mich auf das Lebhafteste an den in meiner Stube auf Schloß Zehrendorf erinnerte.

Nun ja, ich war ja wieder bei einem Zehren zu Gaste, wenn es diesmal auch blos ein Zuchthaus-Director war. Ich sollte die Zehren nun einmal aus meinem Leben nicht los werden. Sie hatten mir wenig Glück gebracht, und der ehrwürdige Glanz, der früher für mich auf dem Namen gelegen, war mittlerweile sehr verblichen. Der Steuerrath, in welchem der Knabe die Verkörperung höchster irdischer Autorität gesehen, was war er in den Augen des Gefangenen anders als ein Gleißner und Lügner, der das schlimme Loos von Leuten, die besser waren als er, zehnfach und hundertfach verdient hatte. Und der hier, welcher, aus solcher Familie entsprossen, sich zu einem solchen Amte hatte hergeben können – er mußte ja noch schlimmer als der Gleißner und Lügner sein. Aber ich wollte ihn meine ganze Verachtung fühlen lassen, sobald ich mit ihm zusammentraf; ich wollte ihm sagen, daß er, wenn er schon einmal Kerkermeister sei, wenigstens nicht den Namen seines edlen Bruders führen sollte, der lieber gestorben war durch eigene Hand, als daß er in die Gewalt derer fiel, die ihn hierher gebracht haben würden, hinter diese dreifach verriegelte Thür, hinter dieses mit zolldicken Eisenstangen vergitterte Fenster.

Das Fenster war bei weitem nicht so hoch angebracht, als die in der Custodie, und ich warf einen neugierig forschenden Blick durch die Eisenstangen. Die Aussicht hätte schlimmer sein können. Zwar hemmte eine hohe und ganz kahle Mauer nach links den Blick vollständig, dafür aber sah man nach rechts auf einen mit Bäumen bepflanzten Hof, auf welchem in nicht großer Entfernung ein zweistöckiges Haus mir seinen mit Weinspalieren bekleideten Giebel zuwendete. Hinter dem Hause schien ein Garten zu liegen; wenigstens schimmerten blühende Obstbäume herüber. Das sah sehr friedlich und lieblich aus in dem matten Lichte des Frühjahrsabends, und das schrille Zirpen der Schwalben, die vor meinem Fenster schaarenweise hinüber- und herüberschossen, hätte mich vergessen machen können, daß ich in einem Gefängnisse mich befand, wäre ich durch die scharfe Kante einer der Eisenstangen des Gitters, an die ich meine Stirn gelegt, nicht allzu schneidend daran erinnert worden.

Ich faßte mit beiden Händen hinein und rüttelte aus Leibeskräften. Die sechs Monate Gefangenschaft hatten die Kraft meiner Muskeln noch nicht zu brechen vermocht. Ich fühlte es wohl; mir war, als müßte ich das ganze Gitter mit einem Ruck herausreißen können. Aber vorsichtig! vorsichtig! Es war ja nicht das Gitter allein, welches mich zum Gefangenen machte. Und wäre das Fenster unvergittert gewesen – es lag mindestens dreißig Fuß über dem Steinpflaster des Hofes. Und wenn ich drunten war, so gab es jedenfalls andere und wieder andere Hindernisse zu überwinden, und ein mißglückter Fluchtversuch mußte meine Lage unberechenbar verschlimmern.

Ich hörte ein Geräusch auf dem Gange. Tritte näherten sich und kamen bis an meine Thür. Ich sprang von dem Fenster zurück und stand mitten in dem Gemach, als jetzt draußen Schlüssel klapperten, die Thür sich aufthat und an dem Aufseher vorüber die hohe Gestalt eines Mannes hereintrat, hinter der sich die Thür alsbald wieder schloß. Der, welcher eingetreten, blieb einen Augenblick an der Schwelle stehen und kam dann mit einem eigentümlich leisen Schritte auf mich zu. Von den Abendwolken fiel noch ein schwaches rosiges Licht in mein Gemach; in diesem rosigen Lichte sehe ich den Mann immer, wenn ich an ihn denke – und wie oft, wie oft denke ich an ihn! mit welchem stets gleichen Gefühle innigster Dankbarkeit und Liebe!

Da, über dem Tische, an welchem ich dies schreibe, hängt sein Porträt, von lieber Hand gemalt. Es ist von sprechender Aehnlichkeit; es könnte mir jeden Zug, den ich etwa vergessen, in's Gedächtniß rufen; aber ich habe keinen vergessen. Und wenn ich die Augen schlösse, so würde er vor mir stehen; wie er an jenem Abende vor mir stand, umflossen von dem rosigen Licht, und nicht minder deutlich würde ich seine Stimme hören, deren sanften, tiefen Klang ich da zum ersten Male vernahm und deren erstes Wort ein Wort des Mitleids und Erbarmens war:

Armer junger Mann!

Wie tief mußte die Gefängnißluft mein Herz vergiftet haben, daß mich dies Wort und der Ton, in welchem es gesprochen, nicht rührten. Ach! es gehört zu meinen schmerzlichsten Erinnerungen, daß dies möglich war, daß ich die Hand des edelsten Menschen so schnöde zurückstoßen, daß ich das beste Herz geflissentlich verwunden konnte! Aber da ich keinen Roman, sondern die Geschichte meines Lebens schreibe, die keinen Werth hätte, wenn sie nicht ganz treu und ehrlich wäre, darf ich auch dies nicht verschweigen. Und dann habe ich oft gedacht, ob ich ihn wohl so hätte lieben können, wenn ich weniger trotzig gegen ihn gewesen wäre, wenn ich ihm keine solche Gelegenheit gegeben hätte, die Fülle seiner Güte und Liebe über mich auszuschütten. Aber das ist wohl kaum richtig gedacht. Es giebt Steine von einem so hohen Werth, von einem so hellen Glanze, daß sie einer dunklen Folie nicht bedürfen.

Armer junger Mann! sagte er noch einmal und hob die weiße, durchsichtige Hand und ließ sie wieder sinken, als ich, anstatt sie zu ergreifen und ehrfurchtsvoll an meine Lippen zu drücken, wie ich es gethan haben würde, hätte ich ihn damals schon gekannt, meine Arme über der Brust verschränkte und, ich glaube, einen Schritt zurücktrat.

Ja, sagte er, und seine Stimme klang wo möglich noch milder als zuvor, es ist sehr hart, sehr grausam das Loos, welches Sie getroffen hat für ein Verbrechen, das, was es auch immer vor dem Richter ist, der nach dem starren Buchstaben seines Gesetzbuches richten muß, in den Augen Anderer einen so schlimmen Namen gewiß nicht verdient, am wenigsten in den meinen. Ich bin der Bruder des Mannes, dessen Schuld Sie büßen müssen.

Er schien eine Antwort von mir zu erwarten oder wenigstens ein Wort der Erwiderung, das ich ihm nicht gönnte. Ich wollte meinem Kerkermeister nicht den Gefallen thun, ihm bei dem Versuche zu helfen, sich in einem anderen Lichte zu zeigen, als in welchem ich ihn sah.

Es ist ein eigener Zufall, fuhr er nach einer kleinen Pause immer in derselben stillen, sanften Weise fort, daß der eine Bruder an Ihnen gewissermaßen sühnen soll, was der andere an Ihnen gesündigt hat – ein Zufall, für den ich dankbar bin und den ich im rechten Sinne aufzufassen glaube, wenn ich – doch darüber werden wir uns ein anderes Mal aussprechen. Heute liegt der trübe Schatten des ersten schlimmen Eindrucks, den dieser Ort auf ein Gemüth, wie das Ihre, nothwendig machen muß, zu schwer auf Ihnen; ich würde, und wenn ich mit Engelszungen redete, vergeblich nach einem Eingange zu Ihrem Herzen suchen, das Zorn und Haß verschlossen halten. Ich bin nur gekommen, eine Pflicht zu erfüllen, die mir mein Amt und, ich darf wohl sagen, mein Herz vorschreibt. Und auch dies ist meine Pflicht, und Sie dürfen mir also frei antworten, ohne fürchten zu müssen, daß Sie Ihrem Stolze etwas vergeben; haben Sie Wünsche, die zu erfüllen in meiner Macht steht?

Nein, sagte ich mit Ironie, denn einen Jagdtag auf den Haiden von Zehrendorf könnten Sie mir doch wohl nicht gestatten.

Ein schwermüthiges Lächeln spielte um die feinen Lippen des Zuchthaus-Directors.

Ich habe gehört, sagte er, daß Sie mit meinem unglücklichen Bruder viel auf der Jagd und selbst ein ausgezeichneter Jäger gewesen sind. Die Jägernatur ist eine eigene Natur. Ich glaube sie zu kennen, denn ich bin auch wohl eine. Aber auf den Höfen des Gefängnisses und selbst in den Gärten giebt es nichts zu jagen. Urlaub habe ich selten und benütze ihn noch seltener; ich habe nach dieser Seite vor meinen Gefangenen wenig voraus und will auch nichts voraus haben. Da wäre ich nun übel daran, wenn zu der alten Leidenschaft die alte Kraft noch reichte; und so ist es denn fast ein Glück für mich, daß sie mich 1813 in der Schlacht bei Leipzig in die Lunge geschossen haben und mir die weitesten und reichsten amerikanischen Jagdgründe nichts mehr helfen könnten. Ich habe seitdem gelernt, auf einem engeren Felde in meiner Weise thätig zu sein. Meine liebste Erholung ist an der Drehbank. Es ist eine leichte Arbeit und doch wird sie dem Invaliden jetzt manchmal schon schwer. Wahrscheinlich werde ich in kurzer Zeit auch darauf verzichten und mir noch eine bescheidenere Handtierung wählen müssen. Nur gänzlich möchte ich nicht zur Unthätigkeit verurtheilt werden. Sie wissen es jetzt noch nicht, aber Sie werden es noch lernen, ein wie großer Segen für den Gefangenen eine mechanische Beschäftigung ist, die seine schweifenden Gedanken auf ein Naheliegendes, leicht Erreichbares, unter seinen Augen, unter seinen Händen Fertigwerdendes bannt und seine stockenden Säfte in heilsame Circulation bringt. Und nun will ich Sie verlassen. Ich habe noch ein paar Besuche und meinen allabendlichen Rundgang durch die Anstalt zu machen. Und noch Eines: der alte Mann, der Sie bedienen wird, ist trotz seiner rauhen Manieren ein grundguter Mensch, den ich seit vielen Jahren kenne und der mir im Leben die wichtigsten Dienste geleistet hat. Sie können ihm unbedingt vertrauen. Schlafen Sie wohl und träumen Sie von der Freiheit, die Ihnen hoffentlich früher werden wird, als Sie glauben.

Er nickte freundlich mit dem Kopfe und verließ mit dem leisen, langsamen Schritt, in welchem er hereingekommen war, das Zimmer. Ich blickte ihm mit starren Augen nach und strich mit der Hand über die Stirn; es war mir, als ob es plötzlich dunkel geworden wäre in dem stillen Gemach.

Ich stand noch auf demselben Fleck, unfähig, einen bestimmten Gedanken zu fassen, ja kaum mich zu regen, als die Thür sich abermals öffnete und der alte Schließer, der mich vorhin in Empfang genommen, mit einem brennenden Lichte hereintrat, das er auf den Tisch setzte. Dann wieder bis zur Thür gehend, nahm er dort einer weiblichen Person, die nur eben sichtbar wurde, ein Präsentirbrett ab, auf welchem ein treffliches Abendbrot bereitet war.

Auch an einer Flasche Wein fehlte es nicht. Er deckte eine Ecke des großen eichenen Tisches mit einer schneeweißen Serviette, stellte und legte Alles säuberlich und ordentlich zurecht, trat einen Schritt zurück, warf erst einen wohlgefälligen Blick auf sein Werk, dann einen, der bös genug aussah, auf mich und sagte mit einer Stimme, die auffallend dem tiefen Knurren glich, das aus der breiten Brust einer mächtigen Dogge aufsteigt: Will man es sich nun schmecken lassen!

Es scheint, daß dies für mich sein soll! sagte ich in gleichgiltigem Tone.

Wüßte nicht, für wen sonst, knurrte der Alte.

Der Braten auf dem Teller duftete sehr verführerisch; ich hatte seit einem halben Jahre keinen Tropfen Wein getrunken, und, was die Hauptsache war, gegen den groben Schließer fühlte ich nicht die Erbitterung, wie gegen den sanft sprechenden, höflichen Director; aber ich war entschlossen, an diesem Orte und von diesen Menschen keine Wohlthaten anzunehmen.

Ich verdanke dies der Güte des Herrn Direktors? sagte ich, indem ich vom Tische zurücktrat.

Dies und noch Mehreres, sagte der Alte.

Zum Beispiel? sagte ich.

Zum Beispiel, daß man hier die beste Zelle bekommen hat mit der Aussicht auf den Wirthschaftshof, anstatt eine nach dem Gefängnißhofe, in den weder Sonne noch Mond scheint.

Verdanke ich ihm, sagte ich, vielleicht sonst noch etwas?

Und daß man seinen schönen Stadtanzug tragen darf, anstatt eines Anzuges aus ungebleichtem Drillich, der auch sehr gut kleidet.

Verdanke ich ihm, sagte ich, sonst noch etwas?

Und daß man den Wachtmeister Süßmilch zum Aufseher bekommen hat.

Mit dem ich die Ehre habe?

Mit dem man die Ehre hat.

Sehr verbunden.

Viel Ursach'.

Ich blickte auf, mir den Mann genauer anzusehen, dessen Gegenwart für mich so ehrenvoll und verbindlich sein sollte. Es war ein Mann in Mittelgröße, mit einem unverhältnißmäßig großen Oberkörper, der die Fünfzig wohl schon weit überschritten hatte, aber noch auffallend fest auf seinen kurzen und, wie ich jetzt sah, stark nach außen gebogenen Beinen zu stehen schien. An den breiten Schultern hingen ein Paar sehr lange Arme mit großen, braunen, behaarten Händen, die gewiß noch kräftig genug zufassen konnten. Aus seinem von tausend Falten und Fältchen durchfurchten Gesicht, das vor Jahren einmal schön gewesen sein mochte, blickten unter buschigen grauen Brauen ein paar helle freundliche Augen, die sich vergeblich Mühe gaben, wild und grausam dreinzuschauen. Ein kurzes, krauses, graues Haar umstand noch dicht genug die braune Stirn und ein mächtiger, grauschwarzer Schnurrbart hing unter einer großen Adlernase bis weit über das energische Kinn herab. Der Wachtmeister Süßmilch ist mir lange Jahre ein treuer Freund gewesen; er hat mir in schweren Stunden unschätzbare Dienste geleistet, er hat meine beiden ältesten Buben noch reiten gelehrt und als wir ihn vor fünf Jahren zu seiner letzten Ruhe trugen, haben wir Alle um ihn von Herzen geweint; aber in diesem Augenblicke überlegte ich, einen wie großen Widerstand er mir wohl in einem Falle, den ich für wahrscheinlich hielt, würde entgegensetzen können, und daß es mir leid thun sollte, wenn ich dem alten Kauz, der so köstlich grob war, an's Leben müßte.

Wenn man den Wachtmeister Süßmilch nun genug angesehen hat, würde man gut thun, sich an das Abendbrot zu machen, das durch Stehen nicht besser wird, sagte er.

Für mich kann es noch lange stehen, erwiderte ich. Ich habe keinen Appetit auf des Herrn Direktors Braten und Rothwein.

Das hätte man gleich sagen können, meinte Herr Süßmilch, indem er anfing die Sachen wieder auf das Präsentirbrett zu stellen.

Ich weiß den Kukuk, was hier der Brauch ist, sagte ich trotzig.

Hier ist sonst der Brauch, daß man erst gearbeitet haben muß, wenn man essen will.

Das ist nicht wahr, sagte ich. Ich bin kein Arbeitshäusler und kein Zuchthäusler, ich bin zu sieben Jahren Gefängniß verurtheilt und hätte eigentlich auf die Festung kommen müssen, wohin anständige Leute gehören.

Womit man sich meint, sagte Herr Süßmilch.

Womit man sich meint, sagte ich.

Und doch irrt man sich, erwiderte Herr Süßmilch, der mittlerweile vollständig abgeräumt hatte. Im Gefängniß muß man arbeiten, wenn man keinen Vater oder sonst Jemanden hat, der für den Unterhalt aufkommt. Man hat freilich einen Vater und durch seinen Vater zehn Silbergroschen täglich.

Herr Süßmilch! rief ich, indem ich dicht vor den Alten trat, ich nehme an, daß Sie mir die Wahrheit sagen, und da gebe ich Ihnen mein Wort: lieber will ich verhungern wie eine Ratte im Loch, ehe ich von meinem Vater einen Pfennig nehme.

Man wird morgen anderer Meinung sein.

In alle Ewigkeit nicht.

Dann wird man eben arbeiten müssen.

Das wird sich finden.

Jawohl, das wird sich finden.

Süßmilch ging, blieb aber an der Thür stehen und sagte, über den Rücken gewendet:

Man will also die gewöhnliche Kost, die Jeder bei seiner Ankunft hier erhält?

Man will gar nichts, sagte ich, indem ich an das Fenster trat.

Also auch kein Licht, denn das ist ebenfalls extra.

Ich antwortete nicht. Ich hörte wie der Alte an den Tisch ging, das Licht nahm, es auf den Präsentirteller stellte und nach der Thür schritt. Dort blieb er stehen, vermuthlich um abzuwarten, ob ich mich nicht noch eines Anderen besinnen würde. Ich regte mich nicht. Der Alte hustete, ich rührte mich nicht. Im nächsten Augenblick war ich im Dunkeln – allein.

So ist's recht, murmelte ich, geht zum Teufel ihr Alle mit eurer Freundlichkeit und Grobheit; ich brauche den Einen so wenig wie den andern; ich will Keinem verpflichtet sein, Keinem! Keinem!

Ich lachte laut und dann griff ich wieder in die Eisenstangen des Fenstergitters und rüttelte daran und lief hin und her durch das fast dunkle Gemach wie ein wildes Thier. Mein Blut kochte, meine Pulse schlugen, meine Schläfen hämmerten, ich glaubte, ich müsse wahnsinnig werden. Endlich warf ich mich angekleidet auf das Bett und lag da, den Ellnbogen aufgestemmt, in dumpfer Verzweiflung, brütend über mein Loos, das mir nie so entsetzlich erschienen war; mich in wilden Haß hineinredend gegen die Menschen, die mir dies angethan hatten: gegen meine Richter, gegen meinen Vertheidiger, gegen meinen Vater, gegen alle Welt, mich in dem Entschluß bestärkend, nicht von meinem Trotz zu lassen, Keinem ein bittendes Wort zu gönnen, Keinem dankbar sein zu wollen und vor Allem mir die Freiheit zu verschaffen, es koste was es wolle.

So lag ich da – lange Stunden. Endlich schlief ich ein und träumte von blühenden Wiesen, über welche bunte Schmetterlinge flogen, die ich haschen wollte und nicht haschen konnte, weil, wenn ich sie berührte, sie zu rothen Rosen wurden. Und die rothen Rosen, als ich sie brechen wollte, fingen an zu leuchten und zu klingen und stiegen klingend und leuchtend hinauf in den Himmel, von wo sie als blühende Mädchengesichter auf mich herablächelten. Das war so lieblich und so drollig, daß ich mich in toller Lustigkeit auf der Wiese herumwarf. Aber als ich erwachte, lachte ich nicht. Als ich erwachte, stand Süßmilch vor meinem Bette und sagte: Man wird nun doch arbeiten müssen.


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