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Dornröschens Villa

Es war so glühend heiß am Genfer See. Die sonnenfunkelnde Wasserfläche lag da und stach einem mit all den weißen Säufern und den staubweißen Wegen um die Welle in die Augen. Zweiunddreißig Grad Reaumur im Schatten – einem Schatten, der fast nicht aufzutreiben war. Der ganze lange, glühende Tag war wie ein einziges heißes Luftschnappen. Und wenn die Nacht kam – nicht des Nordens kühle, helle Nacht, sondern die südländische, dunkle Sommernacht – brachte sie keine Linderung. Man saß da und blickte hinunter in den kleinen, schwarzen, schwülen Garten, wo Glühwürmchen umherschwirrten, oder hinauf zum schwarzen, schwülen Himmel, der die Wärme wie ein Schachteldeckel abschloß – und es war kein anderer Unterschied als der, daß die Glühwürmchen dort oben ruhig saßen und leuchteten, jedes auf seinem bestimmten Platz.

In solchen Perioden schließen sich die Einheimischen hinter verschlossenen Fenstern und Läden ein. Wir Nordländer, die wir uns so schwer daran gewöhnen können, Kühlung außer in Verbindung mit frischer Luft zu suchen, probieren es zuerst, das System der Absperrung zu vermeiden, und enden in der Regel damit, es anzunehmen.

Von meinem Fenster aus sah ich auf die Sträucher des Gartens und den sonnenheißen Weg an einem versengten Feld, das ein Pfad wie ein schmales, weißes Band durchschnitt. Der Pfad verlor sich unter grünen Schatten – eine recht ansehnliche Baumgruppe begrenzte das Feld. Ich fragte sofort, ob die Baumgruppe ein Park und der Zutritt zu demselben gestattet sei. »Ja, er gehört zur öden Villa,« war die Antwort, »und man darf hineingehen.«

Eines Tages beschloß ich, der kleinen Sahara, die mich von den hohen Bäumen trennte, zu trotzen und zu versuchen, ob es nicht möglich sei, die Mittagsstunden im Freien zuzubringen – ohne in stillem Wahnsinn zu enden, wie die anderen mir prophezeit hatten.

Als ich mitten auf dem Pfad war, bereute ich es. Mir war, als ob die Luft mir wie flüssiges Gas das Gesicht versengte. Und die Baumgruppe blieb in gleicher Entfernung, so oft ich nach ihr hin blinzelte …

Dann war sie mit einem Male da … Es führte kein Steig zwischen den Bäumen hindurch, und die Zweige hingen so weit herunter, daß ich sie beiseite biegen mußte, um vorwärts zu kommen, und das Gefühl hatte, als wenn sie sich hinter mir wie eine Tür schlössen. Es waren hübsche Bäume darunter, Platanen mit tigergefleckten Stämmen, einzelne Eichen und Kastanien mit blanken, fein gezackten Blättern. Eine grünlich goldene, mittagsheiße Dämmerung ruhte darin, – so unbeweglich still, daß der Laut meiner eigenen Schritte auf dürren Zweigen, die niemand beiseite geschafft hatte, mich fast erschreckte.

Ich blieb einen Augenblick bei einem gewölbten Sandsteinbassin – mit moos-grünem Grund – stehen, das noch einen kleinen, dünnen Wasserstrahl einige Zoll in die Höhe sandte; dieser gab einen wunderbar traurigen Ton von sich, indem er ins Bassin zurückfiel. In der tiefen Stille klang es, als ob jemand weinte – leise und unaufhörlich.

Dann erhoben sich weiße Mauern hinter den Bäumen – dort lag eine Villa mit verschlossenen Läden, dicht umspannt von Weinranken, deren lange, wilde Schößlinge hin und her wehten und leicht gegen die Läden schlugen – wie einer, der mit behutsamem Finger anklopft, voll Sehnsucht, hineinzukommen, aber ängstlich, jemanden dadrinnen zu wecken.

Ich ging rund um das Haus. Das leichte Knirschen des Kieses unter meinen Füßen berührte mich wieder unangenehm. Vor der Villa führten drei weiße Marmorterrassen zum Garten hinunter. Aber die Treppen zu beiden Seiten, das Marmorgeländer, ja selbst die Terrasse, auf der ich stand, waren unter einer Flut von Rosen und echtem Jasmin verborgen. Von dem Boskett an den Seiten des Kaufes hatten sie sich mit langen, verschlungenen Ranken vorgestreckt, bis sie sich vor demselben begegneten, und dort hatten sie sich in einander verwickelt und kreuz und quer um sich gegriffen, so daß die feinen, duftenden Sterne des Jasmin vor dem Auge flimmerten, wohin man sich auch wandte, während die Rosen – die groß und weiß, aber einfach wie wilde Rosen waren und deshalb wie fremdartige, märchenhafte Blumen aussahen – überall ihre hellen Blätter herumstreuten.

Aus der untersten Terrasse war ein großes Marmorbassin, dessen Springbrunnen längst verstummt war, und unterhalb desselben senkte sich der Garten ganz zum blauen See nieder. Don allen Beeten hatten sich die Blumen über den Rasen ausgebreitet – ich erinnere mich eines mit großen, weißen, krausen Päonien – und alle Gänge waren unter einem flaumigen Überzug von feinem Gras versteckt. Ich versuchte, mir durch das zähe Flechtwerk der Rosen und Jasminzweige einen Weg zu bahnen, um in den Garten hinunterzukommen, mußte es aber auf der zweiten Terrasse aufgeben, wo der Abstieg absolut versperrt war. Wenn man sich zum Hause wandte, sah es aus, als ob ein ganzer Wasserfall von Blumen über die Terrasse hinausgestürzt sei …

Ich ging wieder hinten um die Villa und setzte mich unter die Bäume, dort, wo der kleine Wasserstrahl in dem großen Bassin weinte – unaufhörlich und im Takt mit meinen eigenen Gedanken, die mich unwillkürlich in eine schwermütige Märchenstimmung wiegten …

Die wilden Rosen blühen,
Auf der Wiese spielt die Sonn' …
Nach Dornröschen ziehen
Meine Gedanken voller Wonn'.

Sie schläft, in holdem Verlangen
Ersehnt sie des Tages Schein.
Sie schläft mit bleichen Wangen
In ihrem Kämmerlein.

* * *

Ich fragte Madame Bernard, die Wirtin in unserem Pensionat, wem die Dornröschenvilla gehöre, und warum der Besitzer sie verfallen lasse? »Madame, so hat sie seit den sieben Jahren, wo wir hier gewohnt haben, dagelegen. Ich habe sie nie anders gekannt und den Besitzer nie gesehen. Aber ich weiß, daß es ein junger, reicher Franzose war, über den sich alle Welt amüsiert hatte – und der sich hier mit einer Schwester, einer kleinen Halbschwester von sieben oder acht Jahren, die er verhätschelte, und mit der er den Tag vergeudete, niedergelassen hatte. Dann starb sie durch ein Unglück – sie wurde von einer Schaukel im Garten im Nacken getroffen – und dann reiste er Hals über Kopf von hier fort und ließ alles verfallen, daß es ein Jammer ist, mit anzusehen. Ja, das ist alles, Madame – das ist gar nicht romantisch! Und soviel Wesens zu machen – nur weil ein kleines Mädchen gestorben ist! Das ist meine Ansicht!« –

Ich hatte mich daran gewöhnt, einen Teil des Vormittags bei der Villa zu sitzen. Der tiefe, grünliche Schatten und der Laut des kleinen Wasserstrahles riefen Illusionen von Kühlung hervor, und die Stätte selbst märchenhafte Empfindungen – die die Wirtin mir nun zerstörte.

Das Ganze war gar nicht romantisch! Nein, – es war keine Prinzessin, die hinter den Banken und den geschlossenen Läden lag und schlief und darauf wartete, daß der Prinz sie mit einem Kuß wecken sollte – es war nur ein kleines Mädchen, das gestorben war und nicht wieder geweckt werden konnte …

Während ich ganz allein in der einschläfernden Stille der heißen Stunden dort saß und an die Enttäuschung und das kleine, tote Mädchen dachte – ich weiß nicht recht, wie es kam – – – da wurde sie allmählich so wunderbar lebendig vor mir – –

– – Der Kies um die Villa raschelte ganz leicht – es war kein Vogel, der umher hüpfte, oder eine kleine Feldmaus, die darüber hinlief – nein, es tanzten dort kleine Schuhe mit glänzenden Spangen – – es war eine, die hervorschlüpfte – und in demselben Augenblick um die Ecke verschwand – wie man sie recht ansehen wollte – und die lachte – lachte, weil sie gar nicht zu fassen war – – –

– – Oder es strich durch das Laub wie ein plötzliches Säuseln des Windes – – es war eine, die mit drei – vier großen, bellenden Hunden hinter sich zwischen den Zweigen hervorstürmte – –

Es flimmerte ganz hell bei dem Wasserbassin – ein zarter Nacken – plötzlich war langes, krauses, blondes Haar wie ein breiter Strohhut darüber niedergeglitten – beugte sich über den Rand – – es war eine, die zu trinken versuchte, aber nicht viel mehr erreichte, als daß sie ihr Näschen ganz nah machte, und die dann plötzlich Wasser in die hohlen Ländchen nahm und auf die Hunde goß, welche sich mit einem kurzen Gebell schüttelten, so daß es wie Diamantstaub um sie spritzte … Und das Lachen wurde wieder in die Lust hinausgeschleudert – wie in glänzenden Tropfen.

– – Oder es sprang eine in kurzem, weißem Kleide mit behenden, dünnen Beinen in Seidenstrümpfen die Marmorstufen der Terrasse hernieder – in ausgelassenem Haschen – mit einem großen Bruder hinter sich – eine, die mit beiden Länden Rosen auf ihrem Wege abriß und sie ihm ins Gesicht warf, so oft er sie greifen wollte.

– – Der rosige Nacken – der rosige Nacken – schließlich guckte er überall hervor wie ein Sonnenfleck zwischen dem Laub – – und dazwischen war ein Strahl von lachenden Augen, der in meine hineinleuchtete … – Es flog hin und her zwischen den Bäumen, das blonde Haar in langem Sonnenstreif – – die große Schaukel schwebte aus und nieder – – Was war das? – sprang sie hinaus? – … Ein Jubelruf, weil es geglückt war – – … Ach, der dumpfe Stoß gegen den kleinen, rosigen Nacken – – der lautlose Fall ins Gras – – des Bruders weißes, erschrecktes Gesicht, als er sie aushob – – die eine jammernde Klage – und das plötzliche, schlaffe Zusammensinken der zarten Gestalt in seinen Armen: – – – –

Es war nur ein kleines Mädchen, das starb … Vielleicht – war eine Welt für einen Menschen mit gestorben. – –

Ich verstand es im Grunde so gut. Mir schien, als ob ich selbst dem kleinen Mädchen zugetan sei, als würde sie ein süßeres Dornröschen, als irgend eine liebliche Märchenprinzessin – und als sei es in Ordnung, daß es öde und leer war, wo sie umhergesprungen war und gelacht und eine Welt lebendig gehalten hatte – und wo sie auf einmal still lag, ohne wieder erweckt werden zu können …

* * *

Das Jahr darauf kam ich aus der Durchreise nach dem Ort zurück.

»Hat Madame die Villa gesehen? Nun ist Leben hineingekommen.«

Ich fragte wie das zugegangen sei.

»Das erfährt man nicht so recht,« sagte Madame Bernard. »Aber ich glaube, es kam so, daß der reiche Herr am vorigen Weihnachtsabend in Paris umherschlenderte und darauf verfiel, in die Mitternachtsmesse zu gehen. Und als er aus der Kirche kam, stand ein kleines Mädchen da und bettelte. Er gab ihr Geld und sagte: »Geh doch nach Hause, – es ist so spät.« Aber sie antwortete, daß sie kein Heim habe. Das hatte er sich nie gedacht, daß es ein kleines Mädchen geben könne, welches kein Heim hatte. Nun bitte ich Sie! Ja, reiche Leute haben keinen Begriff davon. Er hatte nur daran gedacht, daß es ein Heim gebe, welches kein kleines Mädchen hatte – nicht, daß es umgekehrt sein könne. Er wollte sich denn nicht darein finden und nahm sie mit ins Hotel. Aber dort konnte sie ja nicht bleiben. So schrieb er hierher an den Notar, der den Schlüssel zu der Villa hatte, an den Gärtner, den Maurer und Tischler, ob sie das Haus in Stand setzen wollten. Aber es wurde zu groß für ein kleines, armes Mädchen, das sah er selbst ein – sie füllte es ja nicht wie eine Reiche – und so mußte er sich nach anderen heimatlosen Kleinen umsehen. Na, daran ist ja kein Mangel. Nun sind zehn drüben, und es kommen noch mehr. Zwei barmherzige Schwestern pflegen sie, und sie sollen wohl von dem Gelde der kleinen Schwester erhalten werden. Das hat er nie anrühren wollen. Ja, so ist ihr Tod doch gut und nützlich gewesen. Madame kann ganz gut hinübergehen. Die guten Schwestern zeigen es gern!«

Bevor ich reiste, ging ich über den Pfad nach dem Park, der nun eingefriedigt war, blieb aber doch etwas wehmütig über die Veränderung draußen stehen. Die Sonne spielte aus den bunten Stämmen der Platanen und auf dem blanken Laub der Kastanien – und es klang ein Summen von munteren Kinderstimmen, das den kleinen, klingenden Wasserstrahl übertönte, zu mir heraus. Ich konnte nicht hören, ob er noch weinte.

Plötzlich kam ein blonder Kinderkopf durch das Laub zum Vorschein, zwei fröhliche, neugierige Augen blinzelten in die meinen – – und verschwanden in demselben Nu, während der kleine Kopf zwischen den Blättern wie ein flammender Sonnenfleck wieder niederschlüpfte … Und es lachte – es lachte von drinnen – – –

Da meinte ich, daß sie erwacht sei – daß sie doch wieder erwacht sei, mein kleines Dornröschen, und daß nun ihre Sonnentage in der Villa weiter verflössen … Und ich konnte mich darüber freuen, daß die Welt wieder aufgelebt war.


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