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So oft ich an die Ardennen denke, sehe ich nicht die hellgrauen Sandsteinfelsen – mit üppig grüner Bekleidung und großen Wäldern am Fuße – nicht schäumende Bäche, die in mutwilligen Sprüngen von Stein zu Stein setzen und sie triefend naß bespritzen, nicht kleine Rinnsale, die sich mit einem leise klingenden, ruhigen Plätschern zwischen den bebenden, feinen Farren herniederschlängeln … auch nicht einen Fluß – in breitem und glänzendem, unendlich geduldigem Gleiten, einen Fluß, auf dem große Barken langsam dahinfahren – mit einer Art seiner eigenen unverwüstlichen Geduld …
Alles dieses gehört zwar auch zu den Ardennen, aber es kommt erst in zweiter Linie.
Das erste, was vor meinen Gedanken flimmert, ist ein Schein von großen, weißen Winden … So viele, so große und so weiße Winden, wie ich dort unten fand, erinnere ich mich nicht, irgend wo anders gesehen zu haben. Vielleicht sind dort garnicht so viele, nur daß sie mir ins Auge fielen.
Ich pflückte eine derselben. Sie liegt nun braun, trocken und ganz platt zwischen den Blättern eines Buches – hat keine Spur mehr von der reinen, lebhaften Weiße, die mir aus der Waldestiefe entgegenleuchtete, wo sie aus dem schattigen Dunkel der breiten Eichenkronen wie ein plötzliches Lächeln mitten im tiefen Ernst hervorbrach.
Dieses weiße Flimmern der Winden vor meinen Gedanken begleitet beständig eine Erinnerung – die übrigens nichts mit ihnen zu tun hat – eine ganz kleine Erzählung, die ich dort unten hörte.
Und ich bin im Grunde bedenklich, sie nun auch zwischen die Blätter eines Buches niederzulegen. Denn so, wie ich sie hörte, als sie in lebendiger Anmut in meine Gedanken hineinglitt, kann ich sie doch nicht wiedergeben. Ich fürchte, es wird mit ihr gehen wie mit der Winde.
* * *
In alter, alter Zeit, als der große Ardennerwald noch viel größer war, und »Arduenna Silva«, von dem schon Caesar erzählt hat, seinen dunklen Mantel über das ganze Land zwischen Rhein und Schelde schlug, kam eines Abends ein alternder Wanderer zum Kloster Ardain, das tief in dem großen Walde lag.
In der Klosterkirche wurden die sterblichen Überreste des heiligen Hubertus und sein wundertätiger Chorrock aufbewahrt, dessen Berührung die Tollwut heilen und gegen andere schlimme Krankheit schützen konnte, und die Spuren vieler frommer Pilger zogen sich aus diesem Grunde durch den großen, pfadlosen Wald und endeten vor des Klosters Tor.
Nicht weit von den grauen Mauern desselben jagte einst Hubertus, der wilde Jäger, an einem heiligen Sonntag, und ein schneeweißer Hirsch kam ihm – aus dem tiefsten, bläulich dunklen Schatten der Eichen – mit einem flammenden Goldkreuz zwischen seinem Geweih entgegen.
Andere wollen allerdings wissen, daß es der heilige Eustachius war, der dieses Wunder erlebt, und daß Hubertus keine solche Begegnung gehabt habe. Vielleicht war es auch etwas ganz anderes, das er sah – vielleicht nur Sonnenreflexe, die kreuzweise durch die Eichenzweige fielen und sich in goldigem Glanz auf große, weiße Winden legten …
Denn es war wohl zu der gelegenen Stunde, wo eine Menschenseele erschlossen ist, und wo der geringste Lichtschimmer von oben sie emporziehen kann. –
Soviel steht fest, daß der wilde Jäger aus dem Walde als ein heiliger Mann zurückkehrte.
Später hielt er sich gern in dem Kloster auf, das so nahe bei der Stätte seiner Bekehrung lag. Es war denn auch ganz natürlich, daß die Mönche die Reliquien des Heiligen nach dessen Tode ausgeliefert bekamen.
Dort wohnte eine Schar brauner, abgehärteter Brüder im Kloster Ardain unter Leitung eines gebieterischen Abtes. Das Leben war streng und voll täglicher Gefahren in der Tiefe des meilenweiten Waldes. Der Bär kam brassend aus dem Dickicht hervor, das Wildschwein schlenderte schnüffelnd umher, Räuber und Wegelagerer hatten ihre finsteren Höhlen darin, und in langen Winternächten wetteiferte das Heulen des Wolfes mit dem Brausen des Sturmes um die Mauern des Klosters.
Es war in dem gesegneten Christmonat, ja am heiligen Weihnachtsabend selbst war es, als der alte Pilger an das Tor klopfte. Alle die knorrigen Eichenbäume standen schwarz und nackend da gegen die ungeheure Schneedecke, die die toten Blumen des Ardennerwaldes verbarg. Auf die bunten, bleigefaßten Scheiben der Klosterkirche ritzte der Frost seine Blumen wie mit einem Diamantstift – große, glitzernde weiße Winden.
Der Wanderer nannte seinen Namen nicht, er sagte nur, daß er von weit her komme, um an dieser heiligen Stätte zu beten. Daß er ein Geistlicher war, konnte man leicht an seiner Tracht und Tonsur erkennen; jedenfalls aber hatte er als Gast ein heiliges Recht auf offene Arme und Obdach, so lange er es begehrte.
Der Abt umarmte ihn, setzte ihn bei Tisch obenan, und die beste Zelle wurde ihm eingeräumt.
Um zwölf Uhr versammelten sich alle zur Mitternachtsmesse in der Klosterkirche. Die Töne des Engelsgesanges von Judäas Sternenhimmel über den taghellen Hürden der Hirten klangen wieder aus der Tiefe des nachtschwarzen Ardennerwaldes, und die Botschaft, die an die schweigsamen Männer erging, welche die Herden hüteten, wurde wieder lebendig für die Herzen, die sich ihr öffneten.
Darauf zogen sich die Mönche in ihre Zellen zurück, und auf dem langen Klostergang hörte man bald von Tür zu Tür das tiefe, eintönige Schnarchen der müden, kräftigen Männer. In den Stunden, die den Brüdern zur Nachtruhe eingeräumt waren, mußte auf strengen Befehl unverbrüchliche Stille im Kloster herrschen – denn die kurze Schlafenszeit sollten sie ungestört haben.
Der alte Gast konnte nicht so leicht einschlummern. Möglicherweise störte es ihn, daß aus dem Walde mancherlei Laute in seine Zelle drangen. Der beißende Frostwind jagte heulend um die Klostermauern, und die raschelnden trockenen Zweige der Eichen schlugen wie mit Knochenfingern gegen die Holzluke. Es sauste durch die entblätterten Wipfel, ächzend, als jage ein Schwarm friedloser Geister vorbei …
Der Alte lächelte. Für ihn lösten sich alle Laute der Nacht zu einem Wiederhall der großen Engelsbotschaft auf – so, wie sie sich einst in die Seele des wilden Jägers hineinsang, als er hier im Walde seine Christnacht erlebte und als ein stiller Mann wieder herauskam, dessen schonungsloses Vorwärtsstürmen von der Sanftmut abgelöst worden war, die nur bei dem einen gelernt wird, welcher von seinem Königsthron auf zarten Kinderfüßen in die große Mitternachtsstille herniedertrat …
So wunderbar bewegten die heiligen Erinnerungen des Alten Seele, daß sie sie hoch hinauf über die Müdigkeit des Leibes trugen. Und er beschloß, aufzustehen vom Lager, um zu beten.
Er steckte die Fußspitze in den einen von seinen schweren, nägelbeschlagenen Wanderschuhen und erhob den Fuß, um den Schuh anzuziehen und zuzubinden. Aber bevor er ihn erfaßte, glitt der Schuh wieder ab und fiel polternd auf den Steinboden nieder.
Der ganz ungewohnte Lärm unterbrach die Nachtstille wie ein Trompetenstoß und pflanzte sich in Wellenringen von Zelle zu Zelle fort. Die tiefen, regelmäßigen Atemzüge stockten überall mit einem Ruck, und ein Mönch nach dem anderen fuhr von dem Lager empor.
Da hörte man die strenge, gebieterische Stimme des Abtes auf dem Gange:
»Der Bruder, der rücksichtslos die Nachtruhe der anderen gestört hat, soll barfuß zum großen Kreuz im Hofe hinuntergehen und zehn ›Ave‹ und drei ›Paternoster‹ als Buße beten.«
Eine Tür wurde geöffnet und geschlossen, – leise, ganz leise – ein lautloser Fuß glitt die Fliesen des Klosterganges entlang zum Hof hinunter, wo der Schnee glitzerte – und die Brüder legten sich wieder zur Ruhe. –
Lange bevor der Dämmerung erster, matter Schein über dem Ardennerwald graute, versammelten sich die Mönche zum ersten Morgengebet. Einer von ihnen klopfte an die Tür des Gastes und trat ein, um ihn zu holen. Aber die Zelle war leer; nur die schweren Wanderschuhe standen vor dem Bett als stumme Zeugen seiner Anwesenheit.
Bestürzt kam der Bruder und teilte dem Abt mit, daß der ehrwürdige Gast verschwunden sei. Alle Mönche starrten einander verständnislos an, bis der Abt mit plötzlichem Erschrecken in seinem Antlitz sie fragte: »Wer von euch mußte heute Nacht hinunter, um beim Kreuze Buße zu tun?«
Niemand antwortete. Sie schüttelten alle schweigend die Köpfe.
Da eilte der Abt mit den Brüdern in den Hof hinunter.
Und im Schnee bei dem großen Kreuz lag der ehrwürdige Gast auf den Knieen, mit geschlossenen Augen, starren, bläulichen Gliedern, bewußtlos – anscheinend ohne Leben.
Die strenge Nachtkälte hatte seine schwachen Kräfte übermannt. Er hatte sich nicht vom Gebet erheben können …
Sie trugen ihn unter lauten Klagerufen ins Refektorium und fingen an, ihn mit wollnen Tüchern zu reiben, während sie versuchten, warmen Wein zwischen seine geschlossenen Lippen zu träufeln.
Aber lange schienen alle ihre Anstrengungen vergebens sein zu sollen.
Da sagte der Abt, der seine starken Hände rang, und dem die Tränen in breiten Strömen über die braunen Wangen rannen, daß sie den Chorrock des seligen Heiligen holen und den ohnmächtigen Alten damit bedecken sollten.
Und während sie ihn über seine kalten, unbeweglichen Glieder breiteten, knieten alle Mönche mit dem Abte an der Spitze nieder und beteten, daß die Sünde doch nicht auf ihnen bleiben möchte, einem teuren, ehrwürdigen Gaste den elenden Tod sogar in der hochheiligen Nacht verursacht zu haben!
Da schien es, als ob das Blut anfange, wieder in den Adern des Alten zu rollen, der Pulsschlag, der kaum zu fühlen war, wurde stärker. Mit erneutem Eifer nahmen sie ihre Bestrebungen auf – und endlich öffnete der bleiche Gast mit einem tiefen Seufzer seine Augen.
Mit stummer Verwunderung sah er sich ringsum und gab sich unverkennbar Mühe, seine Gedanken zu sammeln.
Der Abt und alle Mönche knieten vor ihm mit gefalteten Händen – und endlich konnten sie an dem Ausdruck seines Antlitzes erkennen, daß die Erinnerung zurückkehrte.
Und in demselben Augenblick – bevor noch jemand von ihnen zu Worte kommen konnte, streckte der Alte seine gefalteten Hände gegen sie aus und bat leise und innig:
»Lieben Brüder, vergebt mir alle! Der Friedensstörer in der Nacht – das war ich.« –
Er war Bischof von Lüttich, der alte Mann – und später wurde er ein großer Kirchenheiliger. So ist sein Name gesichert gegen das Vergessen auf dem Erdreich, das die Sanftmütigen besitzen sollen. – –
» Arduenna Silva« – das ist für mich beständig ein Glanz von großen, leuchtenden, weißen Winden – und die Erinnerung an diesen Sanftmütigen.