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Marguerite

Sie hieß Margreth und war des Pastors Tochter, und sie konnte es selbst mit einer Wichtigkeit sagen, die bewies, daß sie vollkommen verstand, welche bedeutungsvolle Stellung sie dadurch unter den anderen Kindern des Kirchspiels einnahm. Worte waren nicht weiter nötig, es zu bestätigen, denn sie glich ihrem Vater auffallend, viel mehr als der Mutter, nach der sie genannt war – mit Veränderung ihres französischen Namens Marguerite.

Der Pastor war einer der größten Männer in seinem Kirchspiel, und niemand hätte es ratsam gefunden, seine Kräfte an ihm zu versuchen. Stark im Geist war er auch. Wie seine Stimme die Mauern der Kirche erschüttern konnte, so vermochten seine Worte das stumpfste Gewissen aus dem Schlafe aufzuschrecken. Die Leute waren alle etwas bange vor ihm – draußen im Kirchspiel und drinnen in seinem Hause. Die einzige, die hier eine unbedingte Ausnahme machte, war Margreth. Vielleicht lag eine unwillkürliche Sicherheit in ihrer äußern und innern Ähnlichkeit mit ihm. Soviel stand fest, daß nur ein Mensch bei Margreth ein Gefühl hervorzurufen vermochte, das der Ängstlichkeit glich, und dieser eine war nicht der Pastor. Sonderbarerweise war es die, welche sich am meisten von allen vom Vater erschrecken ließ, und die selbst niemanden erschreckte: ihre Mutter.

Mutter war anders als alle anderen Menschen, die Margreth kannte, viel schlanker und feiner, und sie hatte so schmale Hände, daß ihr Trauring auf Margreths achtjährige Finger paßte. Sie war auch ein »adeliges Kind«, wie Hellesen, die alte Haushälterin, erzählte, die Mutters Amme gewesen war. Dann fiel auch ein Glanz auf die Mutter von dem Bilde des Großvaters, der lebensgroß in prächtiger Uniform und mit neun Orden auf der Brust in der Wohnstube hing und so vornehm und streng aussah, und von dem Hellesen sagte, daß er über alles in der Welt, sogar über sein eigenes Fleisch und Blut die Tugend und die Ehre zuerst und dann seinen alten Namen geliebt habe. – – Auch bewegte sich die Mutter so leicht und leise und konnte mitten in der Stube stehen – wie ein Gespenst – ohne daß man begriff, wie sie hereingekommen war, und ihr Antlitz – obgleich stets freundlich – war ohne Lächeln wie eine Blume im Schatten.

Hatte Margreth irgend etwas verbrochen, so achtete sie es für ein Geringes, daß der Vater es erfuhr, aber die Mutter – –

Einer ihrer ernstesten Fehler war die Unruhe während der Andacht. Mutter, deren Gedanken bei dem ersten Psalmton zu Gott emporflogen, war dann so völlig fern von ihnen allen, daß sie selten wußte, was um sie vorging; aber wenn ihre Augen zufällig Margreth streiften und mit peinlicher Verwunderung bei ihrer mangelhaften Haltung stehen blieben, dann war dieser eine Blick genügend, das Kind zum Weinen zu bringen.

Im Übrigen war sie nicht für viele Tränen; sie war an einem strahlenden Sommertage geboren und wuchs wie ein Sonnenscheinkind auf, lachend, unbefangen und rot von Wangen. Und licht war auch das Kindheitsleben, das sie führte. Das Pfarrhaus war so geschützt und sonnig in allen Ecken, umgeben von dem großen Garten, voll von Blumen und Beeren – außer Rosen, mit denen es nur dürftig bestellt war. Dann stieß der Garten oben an den Kirchhof, und man konnte durch die Pforte zu dem Grab des kleinen Bruders gehen, der gestorben war, als Margreth noch klein war, und der so mild und still und der Mutter so ähnlich gewesen war, daß es ganz natürlich erschien, daß er nicht hatte leben können.

So wuchs Margreth im Sonnenschein auf, ohne einen andern Schatten als den, der auf sie fiel aus jedem vorwurfsvollen Schmerz in Mutters Augen – und von dem Grafen auf dem Schloß. Wenn er ein dunkler Punkt in ihrer Kindheit war, so konnte es in hohem Grade eine Wirkung aus der Ferne genannt werden, denn seiner Anwesenheit konnte sie sich nicht erinnern. Eine Viertelmeile vom Pfarrhause lag das große, weiße Schloß mit emporragenden Türmen, aber stets vorgeschobenen Riegeln, und gerade vor Mutters und Margreths Plätzen in der Kirche war der gräfliche Stuhl mit dem geschnitzten Wappen und den roten Polstern, aber stets gähnend leer. Doch lag gerade in dieser beständigen Abwesenheit etwas, das die Fantasie reizte, und dazu kam, daß diese Wirkung zu Hause auf mehr als eine unangenehme Weise unterstrichen wurde. So oft Margreth als kleines Kind unartig und ihre Mutter nicht zugegen war, brauchten die Mädchen nur zu sagen: »Nun kommt der Graf vom Schlosse und holt dich,« – und jedesmal, wenn man ihn nannte, wurde eine kleine, unschuldige Falte in Vaters Stirn zu einer tiefen Furche, und sein Gesicht bekam eine Unbeweglichkeit, die es sonst nur auf der Kanzel oder bei der Bibel annahm. Und als einst ein anderer Pastor zugegen war, hatte er gesagt: »Ich weiß kaum, ob ich das Ärgernis des Kirchspiels – den Grafen dort oben – fern oder nah wünschen soll; ob es schlimmer ist, daß man einen Mann nie findet, wo er sein müßte, oder daß er die Greuel des Sündenlebens, von denen man sonst nur hört, vor unseren Augen aufführte. Ja – das letztere wäre doch wohl am schwersten zu ertragen.«

Die Worte konnte Margreth nicht recht begreifen, aber den Tonfall verstand sie; es war der drohendste, den der Vater besaß. – Außerdem hatte ihr der Graf die erste richtige Schelte von der Mutter verschafft, die sonst nie zu schelten brauchte.

Eines Tages nach der Hausandacht, bei welcher der Vater die Artikel von der Entsagung und dem Glauben zu sprechen pflegte, und wo Margreths Gedanken bei dem Wesen des Teufels hängen geblieben waren, rief sie mit ihrer gewohnten Unbefangenheit:

»Ich denke mir nun, daß der Graf aus dem Schloß – daß er leibhaftig wie der Teufel aussieht.«

Und der Vater, der eben die Stube verlassen wollte, hatte gesagt: »Gewiß – man kann ja dem ähnlich werden, mit dem man täglich zusammenlebt.«

Aber dann hatte die Mutter sie an ihren Nähtisch gerufen.

»Margreth, komm mal hierher – du darfst es nie wiederholen, hörst du, niemals, daß du glaubst, ein Mensch könne dem Teufel gleichen. Dann bist du garnicht Mutters Mädchen.«

Mutters Stimme war sehr leise, aber zitterte vor Gemütsbewegung.

»Es ist das Schlimmste, was du sagen kannst. – Ich werde dir erklären, warum. Menschen sind nach Gottes Bild geschaffen – sie sind Gott ähnlich – und solange eine Spur von dieser Ähnlichkeit übrig ist, können sie nicht dem Teufel gleichen. – Aber was Gottes Bild in uns ist, muß ich dir zu allererst sagen – das ist die Liebe; daß wir lieben können, macht uns Gott ähnlich. Gott ist die Liebe, und die Liebe ist unsere liebe Ähnlichkeit mit ihm. Darum ist sie auch das Größte, – ja, alles in allem genommen, das Einzige, was wir besitzen. Denk daran, Margreth, daß, wie geschickt und klug du auch werden magst – du nichts erreichst, das so viel wert ist, als daß du Vater und Mutter lieb haben kannst. – Und nehmen sie dir eines Tages die ganze Welt, all dein Glück und dein ganzes Leben, – daß du liebst, können sie nicht nehmen, und so hast du doch das Beste behalten.«

Hier brach die Mutter plötzlich in Tränen aus, und erst nach einer Weile begann sie wieder:

»Wenn es einen Menschen gäbe, der garnicht mehr lieben könnte, dann wäre Gottes Bild auch tot in ihm – dann könnte er nicht mehr erlöst werden, und dann würde er dem Teufel gleichen; – aber solange nur ein einziger liebevoller Gedanke in einem Menschen entstehen kann, ist Gottes Bild lebendig in ihm, hat er Ähnlichkeit mit seinem Vater im Himmel, kann er noch erlöst werden, – – ach, das dürfen wir nicht einem anderen wegzunehmen versuchen – das ist, als ob wir versuchten, seine Seele totzuschlagen.«

Dann erhob sich die Mutter ganz erschöpft und ließ die Hände des Kindes los. »Nun soll Margreth mit der Mutter singen: »»Die Liebe Gottes ist das größte Gebot,«« und dann niemals, niemals wieder etwas so häßliches wie heute sagen.«

Von dem Tage an stand der unsichtbare Graf in einem wunderlich gemischten Schimmer vor ihr – halb in Licht durch die Ermahnungen der Mutter und halb im alten Schatten, sogar dadurch verdunkelt, daß er Mutters Zorn gegen sie erregt hatte. Und kurze Zeit darauf vervollständigte sich die Wirkung, die er, dessen Spur ihr durchs Leben folgte, auf ihre Kindheit in Licht und Schatten ausübte. –

Eines Morgens Anfang Juli, als Margreth wohl neun Jahre alt sein mochte, sagte ihre Mutter: »Willst du mit in den Schloßgarten hinaufgehn und Rosen für die Frau des Schullehrers holen?«

Während der Abwesenheit seiner Herrschaft verkaufte der Gärtner Blumen und Früchte aus dem Schloßgarten, und nun sollte des Schullehrers Frau Rosen haben, meinte die Mutter, weil sie krank sei – sie habe einen kleinen Jungen bekommen.

So ging Margreth in hellem Sonnenschein an der Hand ihrer Mutter und machte auf dem Wege zum Schloß hinauf die Bemerkung, daß es doch sonderbar sei, daß die Lehrersfrau immer krank sein müsse, wenn sie ein kleines Kind bekomme; das sei ebenso gewesen, als Johanne kam, ja, sie erinnere sich, daß dasselbe bei vielen anderen Frauen geschehen sei. Und die Mutter antwortete, daß das nicht wunderbar sei. So oft ein recht großes Geschick in Freude oder Schmerz zu den Menschen komme, sei es Gott, der zu ihnen so eindringlich und deutlich spreche, daß es sie wohl durchschüttern und angreifen könne, denn wir seien ja nur Staub und Asche vor seinem Angesicht. Und Margreth grübelte etwas darüber nach und kam durch eine plötzliche Gedankenverbindung auf den Schluß, daß vielleicht deshalb Mutter an ihrem Hochzeitstage so krank gewesen sei, wie Hellesen einmal erzählt habe; denn Hochzeit zu feiern, müsse doch eine der größten Freuden von Gott sein – meinte Margreth schon damals.

Dann kamen sie zum Schloß. Gärtner Larsen war an diesem Morgen sehr in Anspruch genommen und schwer zu sprechen, denn zum ersten Mal seit zehn Jahren war der Graf am Abend vorher nach Hause gekommen und hatte seine Ankunft nur einen Tag vorher gemeldet. Der Gärtner und ein paar Knechte hatten die ganze Nacht im Garten gearbeitet, und im Schlosse waren sie wohl ebenso tätig gewesen. Er war nicht sehr geneigt, Blumen abzugeben, aber da niemand zu der Mutter Nein sagen konnte, ging er darauf ein, einige von den niedrigsten und dürftigsten Rosen abzuschneiden – der Graf sei ja in der ersten Stunde doch nicht auf – so könne er die Büsche gleich mit nachsehen.

Und während er von einem Stock zum anderen ging, fuhr er fort, sich darüber auszusprechen, wieviel es hier nun zu tun gebe, während Margreth allen seinen Schritten folgte und die Mutter draußen auf dem Wege stand.

»Denn es gibt niemanden, der so schwierig und genau sein kann, wie der Graf; was kein anderer zu entdecken vermag, sieht er mit halbem Auge, und Ordnung verlangt er aufs äußerste. Heute Abend erwarten wir schon eine ganze Menge Fremde, da muß alles klipp und klar sein – –, na, da stehst du und meinst, daß du die Erlaubnis hast, dich auszubreiten, ja, dich werden wir bald aus dem Wege bekommen.«

Die letzten Worte waren an einen großen Priesterkragen – wie Margreth ihn nannte – oder Marguerite – wie die Mutter ihn nannte – gerichtet, der wohl zwanzig blühende Stengel von einem der Rosenbeete in die Luft reckte.

Margreth streckte unwillkürlich die Hand aus, um das Messer des Gärtners, das das hübsche Unkraut bedrohte, zurückzuhalten, aber in demselben Augenblick ertönte eine selten klangvolle Stimme dicht neben ihr:

»Ach, laß die Margueriten stehen, Larsen; rühre sie nicht an – es wäre Sünde! Sie sehen ja aus, als ob sie ihres Lebens froh wären.«

Margreth sah den Gärtner sich aufrichten und mit der Hand an den Hut fahren – dann wandte sie sich um, und – etwas so Herrliches, wie den großen Herrn, der neben ihr stand, hatte sie nie gesehen. Eine Menge verwirrter Gedanken fuhren ihr durch den Kopf, während sie fortwährend hinaufstarrte, bis des Herrn Augen sich senkten und den ihrigen begegneten.

»Wer bist du, mein liebes Kind?« sagte er und faßte sie unter das Kinn.

»Ich bin des Pastors Tochter,« sagte sie, und selbst in diesem Augenblick ließ sie das Selbstgefühl in der Antwort nicht im Stich.

Der Herr zog seine Hand zurück, und Larsen erklärte:

»Herr Graf müssen entschuldigen, sie kam mit ihrer Mutter, um Rosen für eine Kranke zu holen. Jetzt pflücke ich nur einige für sie.«

Die Augen des Grafen gingen plötzlich suchend umher, und zugleich sah Margreth sich nach allen Seiten um, denn – Mutter – ja, wo war sie denn geblieben? Nicht mehr im Wege, wo sie vorher stand, sondern – nun entdeckte sie sie – weit fort im Schatten der Linden.

Die Mutter mußte den Grafen haben kommen sehen und fort gegangen sein, um dem nicht zu begegnen, der so wenig gut mit dem Vater stand. Aber dadurch habe sie im Grunde sie im Stich gelassen, meinte Margreth.

Als sie den Grafen wieder ansah, hatte die vornehme Blässe des Gesichts einen Unterton von Röte bekommen. Vielleicht war es auch ihm zuwider, jemanden aus dem Pfarrhause zu treffen – zumal in seinem Bereich.

Er sagte nur: »Ja so,« aber gleich darauf fügte er hinzu, und das deutete nicht auf Zorn: »Aber die Rosen sind nicht schön, Larsen, nun werde ich selbst das Pflücken besorgen.«

Dann zog er ein Taschenmesser heraus und ging von Busch zu Busch und suchte die allerherrlichsten aus, während Larsen sich im Stillen grämte. – Er nahm die roten, die dunklen wie Herzblut, die gelben wie Gold, und die weißen – wie der Mutter Gedanken, wenn sie zu Gott emporstiegen; und als er ein großes Bukett gesammelt hatte, kam er wieder zu Margreth.

»Hebe nun deine Schürze auf und nimm sie,« sagte er, und während er den bunten Reichtum zu ihr niederwarf, fuhr er fort: »Hier hast du Rosen, und wenn du mehr brauchst, so komme nur wieder – – du sollst sie haben, so lange noch eine einzige in meinem Garten ist – und grüße« – hier fiel eine weiße mit reinen Blättern – » nicht deinen Vater – das wäre kaum ratsam – und leb wohl, du kleine Pastorstochter.«

Er hatte sich schon abgewandt, als er zurückkam und sie abermals unter das dralle Kinn faßte. »Du bist ja deiner Mutter nicht ein bischen ähnlich,« sagte er. Dann streichelte er ihr die Wange und ging fort.

Sie vergaß ganz, Larsen Lebewohl zu sagen, so sehr war sie in Anspruch genommen. Sie eilte nur fort, ihrer Mutter nach, und als sie diese bei der Gitterpforte erreichte, war sie vollständig atemlos vom Lauf und von dem vielen, das sie zu erzählen hatte.

»Mutter, Mutter – nun sollst du hören – willst du nur sehen – hier sind Rosen – was gibst du mir für diese Menge? – und der Graf selbst hat sie gepflückt – hattest du ihn kommen sehen, Mutter? – und wir können ganz gut mehr bekommen, und ich mochte den Grafen so gern leiden, Mutter; als er kam, sagte er zu Larsen, daß er den Priesterkragen, den du noch sahst, nicht abreißen solle, denn das sei Sünde, und war das nicht schön, Mutter? – dann sagte er auch, daß ich dir nicht ähnlich sei.«

Die Mutter antwortete nur auf eine der Bemerkungen, auf die vom Priesterkragen. »Ja, das war schön, Margreth; das war ein liebevoller Gedanke – so ein liebevoller Gedanke,« aber sonst sagte sie gar nichts und ging mit gebeugtem Kopfe im Schatten ihres hellen Sonnenschirms, und ihre Hand war durch den Handschuh ganz kalt anzufühlen, als Margreth sie schließlich nahm, müde von ihrem Lauf und ihrem Geplauder.

Mit einem Male rief das Kind in plötzlichem Erstaunen: »Aber Mutter, du gehst ja heimwärts – und die Schullehrerfrau!«

Nun blieb die Mutter stehen und sah auf die Rosen nieder.

»Ja – mir scheint, es sind zu viele; sie wird nicht einmal all den Duft ertragen können – aber nun werde ich einige für sie herausnehmen, dann kannst du mit den anderen nach Hause gehen.«

»Mutter,« sagte das Kind, während sie sie aussonderten, »ich glaube, ich werde eine zu Vater hineinsetzen, dann hat er etwas zu riechen, während er an seiner Predigt schreibt.«

»Ja, tue das,« sagte die Mutter und wählte ein herrlichen Zweig von denen, die rot wie Herzblut waren, »setze diesen auf seinen Schreibtisch, dann kannst du die anderen liegen lassen, bis ich komme.«

Dann eilte die Mutter über das Feld nach dem Hause des Schullehrers. Margreth ging heim, legte die weißen Rosen auf den Nähtisch der Mutter, damit diese sie später ordnen könne, setzte die rote in ein hohes Glas und ging damit zum Vater hinein.

Es war sonst niemand, der des Pastors Stube am Sonnabend zu betreten wagte, aber Margreth klopfte nicht einmal an die Tür.

»Wer da,« erklang eine sehr strenge Stimme vom Schreibtisch. »Na – – du bist es, Margreth – was willst du?«

»Nur dir etwas zu riechen bringen, während du schreibst,« sagte sie, und der Vater lachte.

Während sie die Rose auf den Schreibtisch setzte, schlug er nach einer Fliege, die um ihn summte, so daß sie tot neben dem Glase liegen blieb.

»Uh,« rief Margreth, »das war Sünde.« Und plötzlich fügte sie hinzu: »Sie sah aus, als ob sie des Lebens froh wäre.«

»Ja, du mußt entschuldigen, darauf kann ich keine Rücksicht nehmen, wenn sie mich stört, – aber geh nun, liebes Kind, und wirf nicht die Tür ins Schloß.«

Margreth lief hinaus, um Hellesen ihr Abenteuer anzuvertrauen. Dem Vater gegenüber es zu erwähnen, konnte ihr nicht einfallen, und doch mußte sie sich aussprechen.

Im Laufe des Tages wurde es übrigens bei ihr selbst von anderen Eindrücken verdrängt; aber als sie am Abend ins Bett gekommen war, stand es wieder ganz deutlich vor ihr. Ihr letzter, klarer Gedanke, bevor sie einschlief, war der, wo die Rosen geblieben sein mochten, die sie auf Mutters Nähtisch gelegt hatte. Sie erinnerte sich jetzt, daß sie sie nirgends aufgestellt gesehen hatte.

Am nächsten Morgen hatte Margreth sich gerade in der Kirche neben der Mutter auf ihren Platz gesetzt, als eine plötzliche Bewegung durch die ganze Versammlung ging. Sie wandte sich sofort um und sah den Grafen, von mehreren Herren und Damen umgeben, durch die Kirche kommen. Die Seide raschelte auf dem Fußboden, und in dem gräflichen Stuhl knackte es nachdrücklich, als die Gesellschaft Platz nahm. Margreth schielte eifrig auf die Mutter, um zu sehen, welchen Eindruck das große Ereignis auf sie machte; aber der Mutter Gedanken waren heute noch schneller als sonst zu Gott emporgeflogen; denn der Schullehrer hatte noch nicht mit dem Eingangsgebet begonnen, und doch saß sie schon da, den Kopf ganz gebeugt und die Augen tief gesenkt auf ihre gefalteten Hände. Das war aber auch ärgerlich; wenn sie doch nur ein ganz klein Bißchen in die Höhe sehen wollte; denn der Graf saß gerade vor ihr und wandte ihr sein Profil zu.

Dann begann der Gottesdienst. Die Mutter hielt ihr Gesangbuch vor Margreth, damit sie mit einsehen sollte, aber das tat sie heute nur mit halbem Auge; es war so verführerisch, die Gesellschaft vorn zu beobachten.

Nun drehte sich der Vater am Altar um. Es gab einen Ruck in ihm, als sein Auge schnell, aber bestimmt über den gräflichen Stuhl flog; – ob er wohl auf der Kanzel etwas Schlechtes über den Grafen sagen würde? – nein, die Predigt war ja gestern ausgeschrieben, als er noch nichts wußte.

Margreth folgte dem Evangelium in dem Buch der Mutter; es war der vierte Sonntag nach Trinitatis: »Darum seid barmherzig, wie auch euer Vater im Himmel barmherzig ist,« und es schloß mit dem Wort vom Splitter und Balken, das die Mutter so oft erwähnte. Das Kind konnte gewöhnlich nicht recht dem Gang der Predigten seines Vaters folgen und freute sich in der Regel, wenn er zu allen Königlichen kam, weil sie wußte, daß er dann bald fertig war. Aber in ihrer Weise hatte sie doch eine Art Begriff von seiner Predigt, und außerdem fand sie, daß alles, was der Vater heute sagte, ungewöhnlich mild ausfiel; ganz unwillkürlich mußte sie an die rote Rose denken; es war deutlich zu merken, daß er sich gestern an ihrem Duft erfreut hatte, und dieser Gedanke verursachte ihr große Befriedigung.

Nach der Predigt sang man: »Die Liebe Gottes.« Dabei schielte Margreth wieder zur Mutter, aber diese saß beständig mit gesenkten Augen da, allen anderen entrückt. Nur sang sie sehr laut – und wie innig: »Die Liebe Gottes ist das größte Gebot – ist das einzige, das ich kenne.« Der Graf saß immer noch unbeweglich und wandte ihr sein Profil zu.

Als der Gottesdienst zu Ende war, nahm die Mutter Margreth fest an die Hand und ging geradeswegs aus der Kirche nach Hause. Sonst pflegte sie ein freundliches Wort und ein Lächeln mit den anderen Kirchgängern zu wechseln, und heute wäre es so herrlich gewesen, stehen zu bleiben, bis der Graf mit seinem Gefolge kam. Das Kind wandte den Kopf zurück und sah, wie die Bauern sich vor der Kirchentür aufstellten.

»Ach, Mutter – können wir nicht einen Augenblick warten – Grafens waren in der Kirche – du solltest sie nur sehen, Mutter.«

Aber die Mutter antwortete nur: »Es ist etwas spät, und Vater muß so schnell wie möglich sein Frühstück haben, bevor er nach der Annexkirche fährt.«

Als Margreth etwas später in die Eßstube kam, trat der Vater gerade aus seiner Tür herein. Die Mutter ging auf ihn zu und streckte die Hände aus: »Ach, Lieber, – ich danke dir für diese gesegnete Predigt!«

Aber der Vater setzte sich an den Frühstückstisch und sagte finster: »Ja, was ich geschrieben habe, das habe ich geschrieben – und das Evangelium läßt sich nicht verändern; aber ich hätte gewünscht, daß die Laune, sich im Gotteshaus sehen zu lassen, über den Grafen und – seine Gesellschaft an einem anderen Sonntag als diesem gekommen wäre. Das sind die, welche die Worte der Milde als Entschuldigung für weitere Sünden nehmen. Weil wir niemanden richten dürfen, ist darum doch das Gericht zu erwarten, womit nicht zu spaßen ist. Es war überhaupt keine erbauliche Überraschung.«

Dann fuhr der Vater zur Annexkirche, und Margreth ergriff die Gelegenheit, mit einer Frage hervorzukommen, auf die sie schon am Tage zuvor gebrannt hatte.

»Mutter, du weißt ja, daß der Graf gestern sagte, ich dürfte wiederkommen und Rosen dort oben holen, so oft ich Lust hätte; aber glaubst du, daß ich die Erlaubnis dazu bekomme?«

Die Antwort lautete: »Nein, mein liebes Mädchen, weder vom Vater noch von der Mutter; wir müssen sehen, ohne Rosen auszukommen,« aber die Mutter sagte es in ihrem betrübten Tone, wie jedesmal, wenn sie jemandem die Erfüllung einer Bitte abschlagen mußte.

Nach diesem Tag verging eine längere Zeit, während der Margreth nichts vom Grafen sah. In den Schloßgarten durfte sie nicht kommen, und in der Kirche ließ er sich nicht wieder sehen. »Er hat schnell von diesem Einfall genug bekommen,« – sagte der Vater. Aber in ihren Gedanken spielte er eine große Rolle. Der Vater ging umher mit seiner Falte auf der Stirn und sprach jeden Tag von »dem gräßlichen Ärgernis in nächster Nähe,« und die Mädchen wußten so viel zu erzählen von dem munteren, üppigen Leben, das der Graf und seine Gäste führten. Auf der Landstraße rollten häufig Wagen zu und von dem Schlosse, zuweilen stürmten große Scharen zu Pferde vorbei – und am Abend konnte Margreth gerade von ihrem Bett aus die Lichter von den Schloßfenstern zwischen den Bäumen blinken sehen. Die Mutter kam gewöhnlich herein, um das Abendgebet mit ihr zu beten, und zuweilen blieb sie dann mit Margreths kleiner Hand in der ihrigen sitzen, bis das Kind einschlief. Das war das Behaglichste, aber sie tat es nicht immer, weil sie dann so lange Zeit vom Vater fortblieb.

Aber nun hatte sie es eine ganze Reihe von Abenden getan, und da sagte Margreth einmal: »Mutter, sieh gerade aus – was dort scheint, sind alles Lichter beim Grafen; nun vergnügen sie sich wohl recht dort oben. Was meinst du, daß sie vorhaben, Mutter?«

Aber die Mutter sagte nur: »Nun muß mein liebes Kind schlafen und nicht mehr sprechen. Die letzten Worte, die wir am Tage – wie im Leben – sagen, sollten am liebsten die sein, welche wir an unseren Vater im Himmel richten, nicht wahr?« – aber sie blieb still und unbeweglich sitzen, bis das Kind eingeschlafen war – ja, ob sie noch länger dasaß, konnte Margreth ja nicht wissen.

Der Augustmonat kam und ging, und noch immer war der Graf auf seinem Schlosse. Margreth beschäftigte sich jetzt weniger mit ihm als zu Anfang, denn die Ernte nahm alle ihre Gedanken und alle ihre Freizeit in Anspruch. Aber sie hörte die anderen davon erzählen, wie das lustige Leben dort oben still geworden sei; die ersten Gäste fuhren ab, und es kamen keine neuen wieder, aber der Graf blieb noch und schien sich auf dem Schlosse in der Einsamkeit zur Ruhe setzen zu wollen.

»Warum nicht,« sagte der Vater. »Einsiedler ist auch eine Idee! Sie hat das Interesse der Neuheit, und etwas Neues muß ja ausgefunden werden.«

Eines Tages im September wanderte Margreth im Tannenwald, der eine halbe Stunde vom Pfarrhaus entfernt lag. Die Mutter hatte versprochen, mit ihr nach beendetem Unterricht spazieren zu gehen, war aber so müde geworden, daß sie es aufgeben mußte. So hatte sie Hellesen mitgehen lassen und den beiden Erlaubnis gegeben, bis Mittag Champignons zu suchen. Es war eine große Freude, nur waren sie beide so eifrig beim Suchen, daß sie aller Augenblicke von einander kamen. Deshalb hatten sie sich auch ein Stelldichein bei der großen Eiche gegeben, und unter dieser stand der Korb, in den sie ihre Ausbeute leerten.

Als Margreth einmal dastand und sich nach Hellesen umsah, erscholl eine singende Stimme aus dem Dickicht:

»Im Walde fliegt der Weih umher
über dem hohen Stamme. –
Zu Hause geht mein Herzenslieb
und weint in ihrer Kammer.« – –

Und bald darauf trat der Graf vom Schlosse in Jägertracht heraus. – Er blieb stehen, als sein Auge auf das Kind fiel.

»Das ist ja die kleine Pastorstochter,« sagte er und lächelte ein wenig.

»Ja,« antwortete sie mit Wichtigkeit und richtete sich auf.

»Aber süßestes Kind, bist du allein hier?«

»Ich habe eine Jungfer mit,« sagte sie würdig, »sie kommt her zu mir, wenn sie fertig ist, Schwämme zu pflücken.«

»Und warum bist du nie mehr zu mir hinaufgekommen?« fragte der Graf, »es hat so viel zu pflücken gegeben, sowohl Blumen wie Früchte – und du hast ja die Erlaubnis bekommen zu plündern, wo du willst.«

Margreth bedachte sich ein wenig; sie meinte, es müsse verletzend sein, wenn sie die Wahrheit sagte, daß die Eltern es verboten hätten, und lügen durfte sie nicht. So fand sie – da sie schnell entschlossen war – den Ausweg zu sagen: »Wir haben später keine Kranke gehabt, für die wir pflücken mußten.«

Der Graf lachte. »Und du verfielst nie darauf, für dich selbst zu pflücken? – Dann bist du in diesem Stücke deinem Vater nicht ähnlich; er versteht besser als irgendjemand, Blumen für sich selbst zu pflücken – zu gelegener Stunde.«

Die Worte gingen über Margreths Fassungskraft, aber so viel verstand sie, daß es eine Unhöflichkeit gegen den Vater sein sollte, und so war sie sofort bereit, mit gleicher Münze zurückzuzahlen.

»Ich bin nicht gekommen, weil ich weder vom Vater noch von der Mutter Erlaubnis hatte, denn Sie sollen schlecht sein,« sagt Vater.

Aber als sie es gesagt hatte, fürchtete sie doch, zu weit gegangen zu sein. Sie schielte etwas unsicher in die Höhe und sah eine dunkle Färbung wie das letzte Mal in des Grafen Wangen aufsteigen, während er einen Schritt zurücktrat.

Aber dann lachte er. »Ja so – das ist ja ärgerlich. Aber es wäre doch im Grunde gutes Christentum, meine ich, wenn du hinauskämst und prüftest, wie schlecht ich eigentlich bin, und mir hülfest, ein wenig gut zu werden. Das wäre doch hübscher, als mich dort oben einsam und verlassen sitzen zu lassen – wie es jetzt der Fall ist.«

»Sie könnten ja wieder jemanden zu sich bitten,« schlug Margreth vor, die fand, daß der Graf betrübt aussah, und daß es unrecht war.

»Ja, das könnte ich. Aber ich bin ihrer aller so überdrüssig – und es gibt doch keinen unter ihnen, der mich im Grunde recht lieb hat. Es würde mich mehr freuen, wenn du kämest. Ich könnte dir so viel zeigen, das kannst du glauben.«

»Ach, wenn ich nur dürfte,« sagte sie mit aufrichtigem Bedauern, »denn ich täte es unendlich gern.«

Sie wünschte brennend, ins Schloß zu kommen, und sie hielt so viel von dem hübschen, freundlichen Grafen.

Er lächelte wieder ein wenig und faßte sie unter das Kinn. »Du bist deiner Mutter doch nicht ähnlich,« sagte er wie das erste Mal.

»Ich bin dem Vater aus dem Gesicht geschnitten,« schob sie ein, während er fortfuhr: »Ja, mir scheint doch, – der Mund.«

Gleich darauf fragte er: »Darf ich dich küssen, mein liebes Kind?« und während Margreth darüber nachdachte, ob sie Ja oder Nein antworten solle, wurde sie aufgehoben – bis zu den Baumkronen hinauf, meinte sie – auf den Mund geküßt und wieder niedergesetzt.

Dann streichelte ihr der Graf die Wangen. »Leb wohl du liebe Pastorstochter – übrigens, wie heißt du?«

»Margreth.«

»Nicht Marguerite – ja so, leb wohl Margreth und grüße – nicht deinen Vater – ja?«

Dann schlossen sich die dunklen Zweige hinter der hohen Gestalt, und nur die singende Stimme war noch einen Augenblick zu hören:

»Es helfen deine Träume nicht,
Du Herzliebchen mein,
Der liebe Gott hat's nicht gewollt, –
Und nicht der Vater dein!« – –

Dann erstarben die Töne im Gebüsch. –

Die Mutter war die erste und einzige, die einen ausführlichen Bericht über das neueste Abenteuer ihres Kindes erhielt.

Margreth benutzte den ersten Augenblick, wo sie am Nachmittag allein mit ihr war, die Begegnung und das Gespräch mit dem Grafen so genau, wie sie konnte, zu erzählen, ohne jedoch wortgetreu zu werden, was ihr wegen ihrer einen Antwort nicht ratsam erschien.

»Ich mag den Grafen noch immer so gern leiden, Mutter,« schloß sie, »aber ich hätte gewiß nein gesagt, als ich ihn küssen sollte, wenn ich es gekonnt hätte; meinst du, daß es sehr schlimm war, daß er es getan hat?«

Aber die Mutter schüttelte nur den Kopf und küßte selbst ihr kleines Mädchen; doch, als Margreth dadurch ermuntert weiter fragte: »Und glaubst du nun, daß ich Erlaubnis bekomme, aufs Schloß zu gehen?« antwortete sie ebenso bestimmt, wie das letzte Mal: »Nein, mein Kind, – weder vom Vater noch von mir.«

Aber sie war betrübt, es abzuschlagen, und als sie am Abend bei Margreth saß, und das Kind in seinem Bett unwillkürlich sagte: »Ach, sieh das Licht – aber es scheint nicht so stark wie zu Anfang, als die vielen Fremden da waren – nun sitzt der Graf dort oben und ist ganz allein und traurig,« da gebot die Mutter ihr nicht Schweigen wie das letzte Mal, sondern blieb ganz still mit den im Schoß gefalteten Händen sitzen, und als das Kind eine von den ihren zwischen sie steckte, waren sie ganz kalt wie an dem Morgen, als sie mit Margreth die Rosen aus dem Schloßgarten geholt hatte. –

Wie viele Tage später es war, daß das Entsetzliche geschah, dessen konnte Margreth sich selbst nicht erinnern, aber es war nicht sehr lange darauf, und es kam ein Tag, wo die Mutter Kopfschmerzen hatte und dalag, ohne ertragen zu können, jemanden zu sehen, so daß das Ganze doppelt trostlos dadurch wurde.

Das kam so: Ein Bote vom Schloß wurde so früh am Morgen, daß Margreth noch nicht wach war, zum Vater geschickt, weil der Graf sehr krank war und man glaubte, ihn nach dem Pastor fragen gehört zu haben. Dann kam der Vater im Laufe des Vormittags nach Hause, um die Konfirmanden zu unterrichten und des Dachdeckers Frau zu begraben. Der Graf sei bewußtlos gewesen, – sagte er, aber er wolle ihn später wieder besuchen, und nach dem Begräbnis ging er abermals im Chorrock aufs Schloß, und das sah so unheilverkündend aus, wie Margreth meinte.

Sie ging ganz verzagt umher. Die Mutter war unsichtbar, der Vater fort, und es lag wie ein Alp der Angst auf dem ganzen Hause. Sie ging in ihr kleines Zimmer hinauf und kauerte sich in die Fensternische, während sie zum Schloß hinüberstarrte, wo der große, hübsche Graf nun krank lag. Man sagte, daß er mit einigen Freunden, die vor einer Woche gekommen seien, auf der Jagd gewesen und von einem zufälligen Schuß getroffen sei, es aber selbst für ungefährlich gehalten habe, bis der Zustand mit einem Male schlimmer geworden sei, und nun sei er bewußtlos, wie der Vater sagte – und das klang wie etwas Schlimmes. – Sie ging wieder hinunter, sie hatte oben keine Ruhe – und landete draußen in der Küche, wo Hellesen stand und in flüsterndem Tone einem der Mädchen Vortrag hielt.

Ein zufälliger Schutz – ja, so könne man es wohl nennen – aber der Kammerdiener, der heute Morgen dagewesen sei, wisse es besser. Die Freunde hätten den Grafen bewegen wollen, mit zur Hauptstadt zu kommen, und dieser habe es so nachdrücklich abgeschlagen, daß einer am Abend, als er betrunken gewesen sei, gesagt habe, daß niemand ihm einbilden solle, daß der Graf sich hier draußen vergrabe, um Familienportraits zu studieren; er müsse einen besseren Spaß vorhaben, und es liege sehr nahe zu denken, daß – die Heiligen mit den Jahren zutunlicher würden.

Der Graf habe ihn mitten ins Gesicht geschlagen. Die anderen hätten sich ins Mittel gelegt, aber dann sei »der zufällige Schuß« gekommen – ganz natürlich.

Margreth verstand, daß der Graf aufgestanden sei, um sich zu schlagen, ehe er krank wurde, aber das Übrige begriff sie nicht. Wenn doch nur Mutter gesund wäre! Sie könnte alles erklären.

Als der Pastor gegen Abend nach Hause kam, war sein Gesicht unbeweglicher denn je. Der Graf war tot.

In dieser Nacht wagte Margreth nicht allein zu liegen. Hellesen mußte zu ihr hinein, und die Läden mußten vor dem Fenster, das auf das Schloß hinausging, geschlossen werden. Es war so gräßlich, daß der Graf dort oben tot lag.

Der nächste Tag schleppte sich hin. Es lag eine unheimliche Stimmung auf dem Hause. Margreth ging ratlos umher und konnte kein Spiel in Gang bekommen. Die Mutter lag noch immer.

Am Morgen des dritten Tages – es war Sonnabend – hörte Margreth wieder die Stimme der Mutter aus dem Schlafzimmer, während sie sich in ihrer kleinen Kammer ankleidete. Es war nur der Klang, nicht die Worte, die sie erreichten. Der Vater sprach lauter.

»Ja, ich kann nicht in der Kirche stehen und gegen meine Ueberzeugung sprechen. Es wird einer kein Engel in meinen Augen, nur weil er gestorben ist – zumal auf diese Weise. Sie wissen alle, was ich von dem Leben gedacht habe, das der Graf führte; – ich kann nicht die Wahrheit herabsetzen, weder an dem Tage, wo ich ihn begraben soll, noch an irgend einem anderen.«

Abermals erklang der Mutter Stimme – leise und bebend – dann sprach der Vater weiter:

»Es sind garnicht die Sünden, die ich anrechnen will – daß »wir alle gesündigt haben,« weiß ich ja auch hinlänglich. Ich meine sogar, Marguerite, daß ein Mensch weniger nach der Sünde, die er begeht, beurteilt werden darf, als nach der Art und Weise, wie er sich hinterher zu ihr stellt. Aber in Sünden sterben darf man nicht. Es muß Abstand von ihr genommen werden – wenn auch nur im letzten Augenblick – durch eine wirkliche Bekehrung, und kannst du mir beweisen, daß das hier geschehen ist? Kannst du einen Moment der Bekehrung zeigen in dem ganzen traurigen Leben, das nun abgeschlossen daliegt? Kannst du es nicht, mußt du dich darein finden, daß das Urteil danach ausfällt.«

Dann war der Mutter Stimme nicht wiedergekommen – und Margreth hatte soviel verstanden, daß der Vater das Schlimme, das er über den Grafen an jenem Sonntag auf der Kanzel nicht hatte sagen können, bei seinem Begräbnis sagen würde, – und das wäre zu verkehrt – dem mußte sie einen Riegel vorschieben; – die Mutter konnte es ja nicht.

Den ganzen Vormittag ließ sie dem Vater Ruhe, die Predigt aufzuschreiben, während sie selbst verzagt umherging; aber bei Tisch, wo er anfing, Brotkügelchen zu ihr hinüberrollen zu lassen, sagte sie plötzlich:

»Vater, weißt du was? – wenn du den Grafen begraben wirst, dann solltest du nur die Predigt von damals wieder halten, als er in der Kirche war.«

»So?« sagte der Vater, »warum? – Wovon handelte sie denn, Margreth?«

»Davon, daß man nicht richten soll über einen Splitter in dem Auge des anderen – sie war so schön – mir gefiel sie so gut, und dann würde sie passen, weil der Graf sie gehört hat – und du hättest es dadurch bequem und brauchtest dich nicht noch einen Tag außer Sonnabend von uns abzuschließen.«

Der Pastor lächelte – das war das Bestechende bei seiner Tochter, daß sie stets Gründe für das anzugeben hatte, was sie sagte; es lag von ihrer frühesten Kindheit an ein bestimmter Sinn darin; sie glich ihm so unwiderstehlich.

»Wahrhaftig, Margreth,« sagte er, »das ist garnicht so dumm. Vielleicht kann Vater deine Idee gebrauchen. Das ist wohl das beste Gotteswort, das man benutzen kann, jetzt, wo die Möglichkeit für weitere Sünden nicht mehr vorhanden ist. Richtet nicht – verdammet nicht – ja, nun werde ich doch die Predigt durchgehen.«

Am Nachmittag stand die Mutter plötzlich neben Margreth in der Wohnstube. Es mußte diesmal ein heftiger Anfall von Kopfschmerzen gewesen sein, denn sie war bleicher und hatte dunklere Ringe unter den Augen als sonst.

Als Margreth sie dastehen sah, brach sie in Tränen aus – zum ersten Mal in diesen drei traurigen Tagen – und verbarg das Gesicht in die Falten ihres Kleides, während sie rief: »Ach Mutter, Mutter – ich sagte neulich zum Grafen, daß ich gehört hätte, er sei so schlecht – das erzählte ich dir nicht, und nun ist er tot – und das ist so schrecklich!«

Die Mutter mochte dasselbe finden; einen Augenblick schien es Margreth, als ob sie sie von sich schöbe, aber dann legte sie ihre beiden schmalen Hände auf des kleinen Mädchens Kopf und sagte nur: »Ja, mein Kind – ja, ja – ach, wenn wir doch alle viel liebevoller wären, als wir sind!«

Wenn die Mutter das sagen konnte – sie, die die Lieblosigkeit garnicht kannte, was mußten dann nicht andere wünschen – Margreth schluchzte weiter.

Als die Mutter das Kind durch Liebkosungen beschwichtigt hatte, sagte sie: »Zieh dich an, Margreth, dann gehen wir zusammen hinaus auf die Wiese, um Blumen zu pflücken.«

Die Wiese war eigentlich eine Senkung in der Gegend des Waldes, die so sonnenwarm und geschützt lag, daß der Blumenflor dort weit üppiger war als anderswo, besonders war sie weiß von Priesterkragen – im September wie im Juli.

Als sie draußen angekommen waren, brach die Mutter am Zaun einige lange Weidenzweige, setzte sich ins Gras und begann, Moos zu sammeln, während sie zum Kinde sagte:

»Nun mußt du Margueriten für mich pflücken – viele.«

Margreth pflückte eine Hand voll nach der anderen von den großen weißen Sternen der Wiese, aber so oft sie zur Mutter kam, sagte diese: »Ich muß noch mehr haben.«

Sie hatte mitgenommen, was sie brauchte, um einen Kranz zu binden, – das sah Margreth, – aber diesmal heftete sie die Blumen in Form eines Kreuzes – vielleicht für das Grab des kleinen Bruders; es war ja Sonnabend, da pflegten sie es draußen bei ihm zu schmücken.

Aber das Kreuz wuchs; es wurde sehr groß, zu groß für den kleinen Bruder, und noch immer sagte die Mutter: »Ich muß noch mehr Margueriten haben.«

Endlich war es fertig, und wie herrlich! so groß und glänzend – aber da sank schon die Dämmerung auf die Wiesen, und weiße Nebel kamen gleitend ihnen entgegen.

Die Mutter erhob sich mit einem leichten Schauer, schüttelte das überflüssige Moos von ihrem Kleide und nahm Margreths Hand.

Diese fragte: »Mutter, für wen ist es?« und die Mutter sagte: »Für einen, den du lieb hast, mein Kind. Komm denn.«

Sie gingen über die Felder, auf Pfaden, die Margreth sich nicht erinnerte, vorher benutzt zu haben, aber die Mutter ging leicht und sicher in der Dämmerung und zeigte den Weg. Dann standen sie an einer kleinen Pforte; diese mußte in den Schloßpark führen, das konnte das Kind verstehen, aber von dieser Seite war sie nie hineingekommen. Die Mutter stieß sie auf und ging auf den dunklen Steigen vorwärts, immer leicht und sicher, wie jemand, der seinen Weg kennt. Dann gelangten sie in den Garten auf einen großen, freien Platz, und das Schloß erhob sich gerade vor ihnen.

Sie gingen darauf zu; die breite Marmortreppe mit den geflügelten Löwen auf dem Absatz führte zu einer hohen Glastür hinauf, durch die Licht aus dem Gartensaal fiel. Die Mutter glitt die Stufen hinauf und sah durch die Scheiben und Spitzenfalten der Vorhänge; dann kam sie zurück und rief Margreth zu sich.

Sie setzte sich auf die Steine, stützte das Kreuz mit der einen Hand und legte den anderen Arm um das Kind. Die weißen Blumensterne leuchteten durch die Dunkelheit, und sie sagte:

Margreth, du weißt, daß wir die, welche wir lieben, wenn sie zum letzten Mal eingeschlafen sind, mit Blumen zudecken – nicht wahr? Da drinnen liegt und schläft nun ein Menschenkind, das du lieb hast, und ihm sollst du deine Blumen bringen. Du fürchtest dich doch nicht dabei – nicht mehr als damals, als Mutter dich aufhob über das Bett des kleinen Bruders, damit du ihn noch ein Mal streicheln könntest?«

Margreth schüttelte energisch den Kopf, obgleich ihr das Herz vor Bangigkeit bis zum Halse hinaufschlug, aber noch mehr vor Erwartung dessen, das geschehen sollte.

»Aber die Blumen,« fuhr die Mutter fort, »bedeuten hier mehr als sonst; denn sie sollen an einen liebevollen Gedanken erinnern, den wir beide nicht vergessen haben. Weißt du, was ich meine?«

»Ja, Mutter,« sagte Margreth leise und eifrig, »er sagte, es sei Sünde, die Priesterkragen zu zerstören.«

»Ja, das sagte er, und du weißt, wir waren einer Meinung, daß ein liebevoller Gedanke so viel wert ist, weil er zeigt, daß Gottes Bild in uns lebt. – Von diesem Menschen wird viel Schlechtes gesagt, und wir können nicht wissen, ob es wahr ist; wir kennen diesen liebevollen Gedanken – ach du kannst glauben, daß er viel mehr gehabt hat, – aber diesen kennen wir, und damit wollen wir seine Sünden zudecken.«

»Ach, Mutter, ja, das ist schön – daraus hätte ich nicht verfallen können.«

»Aber siehst du,« fuhr die Mutter fort, »die Blumen haben wir in dem Zeichen gebunden, das an Gottes liebevollsten Gedanken für uns erinnert, in dem Zeichen, das unsere einzige Rettung von Tod und Gericht ist. Es ist der große Liebesgedanke Gottes, der sich mit dem kleinen eines Menschen in diesem Kreuz begegnet, und hinter diesem wollen wir ihn verbergen. Er soll hinter demselben schlafen und erwachen und – wir wollen Gott bitten, daß er auf dieses Menschenkind herniedersehen möge nur durch seinen eigenen großen Liebesgedanken – und garnichts anderes sehen wolle – nicht wahr?«

»Ja,« sagte Margreth, die unendlich befangen war, die aber verstand, daß alles schön sei, und daß sie ganz gut darauf eingehen könne.

Lautlos öffnete die Mutter die große Glastür, und sie standen im Gartensaal. Er war schwarz verhängt, und Palmen und Lorbeerbäume standen aufgestellt.

Mitten im Saal war eine Erhöhung, eine Art Lager mit brennenden Lichtern rings umher und einem weißen Tuch darüber, das den verhüllte, der darauf lag.

Als sie hereingekommen waren, blieb die Mutter ganz unbeweglich stehen, als ob sie vergessen hätte, was sie wollte, und mit dem gleichen Ausdruck wie wenn ihre Gedanken droben bei Gott waren – fern von allen anderen.

Margreth zog sie ein wenig erschreckt am Kleide, und die Mutter ging zu der Erhöhung, gab das Kreuz in die Hände des Kindes und hob sie mit erstaunlicher Kraft auf, so daß sie auf dem Rande des Lagers kniete.

»Leg nun deine Blumen hin,« sagte sie. Margreth legte das große Kreuz auf das Laken – es war so schön zwischen den anderen Blumen.

Dann flüsterte die Mutter hinter ihr: »Bete nun dein Abendgebet, zuerst das Vaterunser, und sage dann wie gewöhnlich: Gott segne und behüte alle, die einschlafen.«

Das tat Margreth, während die Mutter sie stützte.

»Und nun sage Gute Nacht – wie zu einem, den du lieb hast.«

Margreth beugte sich nieder und wollte das Laken streicheln, dort, wo es sich wie ein Menschenantlitz abzeichnete – aber da fürchtete sie sich, es zu berühren, denn es fühlte sich so kalt an – und sie begnügte sich damit, zu sagen: »Gute Nacht, gute, ruhige Nacht – gute Nacht!« während sie dabei ihre drallen Finger küßte.

Die Mutter hob sie herab, und als Margreth sich nach ihr umwandte, – nein, da war nicht eins von den weißen Blumenblättern so weiß wie die Wangen der Mutter; sie hätte sie fast mit in das Kreuz flechten und auf die Brust des Toten legen können.

Dann gingen sie wieder hinaus durch die hohe Glastür, die sich lautlos hinter ihnen schloß, und die Mutter sagte: »Komm, mein Kind, nun gehen wir nach Hause,« aber sie blieb doch oben auf der Treppe stehen – unbeweglich, wie vorhin im Saal, gleichsam weit fort von ihren eigenen Worten – ihr bleiches Antlitz gegen den tiefen Himmel der Herbstnacht erhoben, der begonnen hatte, alle seine funkelnden Sternenlichter anzuzünden.

Und da fiel es Margreth vielleicht ein, daß die Mutter selbst aussah, als ob sie ein einziger liebevoller Gedanke wäre, der sich bereitete, zu Gott emporzufliegen.

Darauf gingen sie nach Hause.


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