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Nun habe ich es,« sagte Tante und sah von der Liste der Gäste zu ihrer bevorstehenden Mittagsgesellschaft auf. »Du kannst den halben Bischof zu Tisch bekommen. Er muß natürlich die Stiftsamtmännin am rechten Arm haben, aber er kann dich ganz gut ins Schlepptau nehmen – und du willst ja so gern mit berühmten Männern in Berührung kommen."
»Ist er denn berühmt?" fragte ich eifrig.
»Ja, denk dir, Bischof in dem jugendlichen Alter zu werden, das ist fast unerhört. Und dann die glänzende »Sittenlehre", die er geschrieben hat!"
Ja, – ich wollte gern mit berühmten Personen in Berührung kommen! Denn wenn man nicht die entfernteste Möglichkeit hat, selbst berühmt zu werden, ist es doch immer sehr pikant, wenn man von einer oder der anderen Berühmtheit sagen kann: »Er kennt mich – er weiß wohl, wer ich bin." Nun war ich darüber ganz im Klaren, daß ich mich nicht so benehmen wollte wie meine ältere begabte Schwester, als sie den philosophischen Professor zu Tisch hatte.
»Wovon spracht ihr?« fragte ich atemlos, als sie von der Gesellschaft nach Hause kam – und erwartete natürlich, daß die Decke in die Höhe gehen und die Wände sich nach außen biegen würden von all der Weisheit, die sie nun hereinbekommen hatte.
»Ja,« antworte sie, »wir sprachen – ja, was wars doch? – wir sprachen gewiß am meisten von Tipperup.«
»Von Tipperup!«
»Ja, dort ist sein Landaufenthalt. Er liebt die Mühle von Tipperup so sehr. – Ja, dann sprachen wir übrigens auch davon, wie gesund es sei, Hafergrütze zu essen.« –
Nein, dann wollte ich doch etwas mehr Ausbeute von meiner Berühmtheit haben!
Zu allererst mußte ich sehen, seines Buches habhaft zu werden – das war klar. Das konnte ich wohl auf der Bibliothek bekommen, und sofort war ich unten bei unserem Hauswirt, um mir eine Bescheinigung zu verschaffen, worauf ich es mir leihen konnte.
»Ja, ich muß Bischof H.'s Ethik haben.« sagte ich, während er schrieb. Ich gebrauchte lieber dieses Wort als Sittenlehre, weil ich überzeugt war, daß Herr Severinsen es nicht verstand, und was man nicht versteht, imponiert immer viel mehr.
Er antwortete übrigens nur: »Ja, das ist mir ganz gleich!« – Dann ging ich spornstreichs zur Bibliothek.
»Ja, es hat zwei Teile,« sagte der Mann drinnen. »Die Dame wünscht wohl nur den ersten Teil?«
»Nein – nein, ich muß beide Teile haben,« sagte ich. Denn es konnte mir nichts nützen, daß ich nur das halbe Buch gelesen hatte, – selbst wenn ich auch nur den halben Bischof bei Tisch haben sollte.
Ja – es hatte zwei Teile! Und jeder von ihnen war größer als das Adreßbuch! Es war kein Gedanke daran, sie zusammen tragen zu können – ich mußte jeden unter einen Arm nehmen. Sie kicherten schon so etwas in der Bibliothek – ich hörte es wohl – aber viel schlimmer wurde es, als ich hinauskam.
Ich schlich wie ein Verbrecher die Häuser entlang in den allerkleinsten Gassen – aber hatte natürlich den Ärger, auf alles zu stoßen, was ich an Bekannten im königlichen Kopenhagen besitze und habe!
Ich hatte jetzt knapp zwei Tage Zeit, das Werk zu lesen – das war ungefähr ein Tag auf jeden Teil. Und das war ja nicht zu viel, besonders, wenn man nicht begabt ist.
Es war so etwas darin, was ich einen inneren und einen äußeren Teil nennen will – ja, sie hießen etwas anders – und sie waren beide gleich widersinnig. Das konnte ich mit halbem Auge sehen, ohne sie gelesen zu haben. Denn es ist doch widersinnig, sich damit abzugeben, eine solche Masse darüber zu schreiben, wie die Menschen sein und was sie tun müssen. Es gibt doch keine Menschenseele, die an das alles denken kann. Was soll es also helfen!
Den inneren Teil, der der erste war, wollte ich überspringen. Darüber war ich gleich mit mir selbst einig. Denn ich bekam schon Kopfschmerzen, als ich nur das Inhaltsverzeichnis durchsah – da konnte es doch nichts nützen, daß ich mich mit ihm abgab! Außerdem gewann ich so einen ganzen Tag für den äußeren Teil, der doch im Register etwas abwechslungsreicher aussah.
Ja, – dann will ich zugestehen, daß ich gleich mitten in den Abschnitt hineinsprang, der lautete: »Von der Ehe« – das klang doch am verheißungsvollsten.
Aber daraus konnte ich auch nicht klug werden. Es war furchtbar verwickelt! Und da kam wahrhaftig niemand in der Welt dazu, zu freien, wenn er sich nach allem, was da stand, richten, und das alles im Kopf haben sollte. Es war, als wollte man den Leuten ein Rezept zum Verliebtwerden geben.
Dann war auch nicht alles, was dastand, ganz schicklich – aber natürlich, es waren nur gelehrte Unschicklichkeiten, und die sollen ja immer angängig sein.
Ich dachte zuerst einen Augenblick daran, den äußeren Teil des Lehrbuches in der Nacht unter mein Kopfkissen zu legen; denn ich weiß aus der Schulzeit, daß das wirklich zum Verständnis helfen kann. Aber er war zu groß und zu hart – ich würde viel schlimmer liegen als die Prinzessin auf der Erbse. So begnügte ich mich damit, ihn mit in mein Schlafzimmer zu nehmen, während ich mich zu Mittag umkleidete.
Ich zog nicht mein hellrotes Kleid an – mir schien, das würde zu leichtsinnig aussehen – sondern ein dunkelblaues Seidendito von gesetzter Couleur, welches andeuten konnte, daß ich es sowohl mit der äußeren wie mit der inneren Sittlichkeit hielt. Aber eine blaßrote Rose steckte ich trotzdem in den Halsausschnitt – denn eine bloße Moral kann man nicht ertragen.
Wir waren vierundzwanzig, und alle anderen waren versammelt. Ich kam zu spät – daran war auch das Ungeheuer von einem Lehrbuch schuld! Tante sah streng aus.
Der Bischof – nach ihm schielte ich doch sofort! Ich hatte herausbekommen, daß er neununddreißig Jahre alt sei, und das ist doch wohl furchtbar alt – gerade einundzwanzig Jahre älter als ich – aber für einen Bischof soll es ungewöhnlich jung sein. Alles ist ja in dieser Welt relativ!
Ich hatte ihn bald entdeckt; er war bartlos und nicht kahl, wie jetzt fast alle Männer zu sein pflegen, und hatte ein Pincenez auf einer langen, feinen Nase; das war alles, was ich in der Eile sehen konnte.
Als er mit der in Sammet und Atlas rauschenden Stiftsamtmännin herankam und Tante uns eiligst mit einander bekannt gemacht hatte, nahm er mich mit einer gnädigen Miene an seinen linken Arm, als ob er meinte, daß es eigentlich weit unter seiner Würde sei, mit mir abzuziehen. »Warte nur,« dachte ich.
Er sprach zuerst sehr lange mit seiner Dame zur Rechten. Dann endlich – bei den Käserollen, glaube ich, war es – wandte er sich etwas vornehm nach mir um, als ob er sich bereitete, mich zu fragen, auf wieviel Bällen ich im Jahr gewesen sei.
Aber ich kam ihm zuvor: »Ich habe mit Freuden des Herrn Bischofs Ethik gelesen.«
Es gab einen kleinen Ruck in ihm, und er sah mich plötzlich aufmerksam an.
»Ja so! das hätte ich wirklich nicht gedacht von einer so jungen und so –"
Er stotterte. Wenn ich nur wüßte, was er gemeint hatte!
Na ja – dann fanden Sie sie wohl überaus langweilig, meine Ethik?«
»Ich fand sie interessant – das ist doch mehr als amüsant,« antwortete ich mit einer nicht unglücklichen Wendung.
Nun hatte ich das Übergewicht! Denn die Amtmännin hatte sein Lehrbuch nicht gelesen und saß ganz gelb und grün vor Neid da, während all sein Interesse sich nun zu mir wandte.
Man muß die Männer nur auf ihre eigenen Sachen bringen – sie sind so von sich eingenommen, daß sie am allerliebsten darüber sprechen.
Mehrere von den anderen bei Tisch fingen an, auf uns zu lauschen; ich war mit einem Male eine ganz merkwürdige Person geworden.
Aber – es war trotzdem kein ganz ungemischtes Schwelgen! Er begann ja, sich in das Buch zu vertiefen, und ich kam mit meinen Antworten in nicht geringe Verlegenheit.
»Ich glaube selbst, daß mir der Abschnitt vom Gewissen eigentlich am besten gelungen ist. Ich weiß nicht, ob Sie sich dessen erinnern?«
»Doch, ich wollte gerade dasselbe sagen.« – –
Es regte sich etwas in meinem eigenen Gewissen, als ich das sagte. Aber wir sprachen ja übrigens nur über das geschriebene und gedruckte Gewissen, und das ist etwas ganz anderes als das richtige.
So lange ich mir damit helfen konnte, alles zuzugeben, was er selbst fand, ging es gerade noch zur Not.
Aber es wurde schlimmer, als er anfing, mich über meine Meinung auszufragen. Ich aß Brot – massenweise – und trank Wein, bis ich ihn in den »falschen Hals« bekam, nur, um den Antworten zu entwischen. Aber der Skandal rückte mir näher und näher auf den Leib.
Und die anderen, die dasaßen und zuhörten! Hätte ich ihm nur eine Tour nach der Mühle von Tipperup vorschlagen oder ihn dazu bringen können, mit mir über eine gute Portion Hafergrütze einig zu werden.
Es war für mich nahe daran, daß alles in die Brüche ging. Aber – ja, es klingt fast unglaublich – dann sagte er plötzlich:
»Ja, ich merke, daß Sie so außerordentlich gut in meinem Buche Bescheid wissen, daß ich Sie nun geradezu bitten möchte – sich darüber auszusprechen. Es ist über ein Jahr her, daß ich es schrieb – ich bin nicht mehr in allen Punkten desselben so sicher – und möchte doch ungern hier sitzen und mich durch Gedächtnisfehler blamieren.«
Viktoria! Die Ehre war gerettet! Es war mir gelungen, sowohl ihm wie allen anderen zu imponieren.
Aber – als ich zu ihm aufsah, etwas erstaunt, – das will ich doch zugeben – begegnete ich zum ersten Mal richtig seinen Augen. Es waren so ein Paar schöne und herzlich gute, graue Augen.
Aber das war es nicht, was mich überraschte. Nein – es war ein ganz leises, feines, schelmisches Blinzeln im Augenwinkel, das mir durch die Brille entgegentrat …
Danke! – – Nein, das hatte ich nicht verdient, daß er da saß und mich völlig durchschaut hatte – und nun edel sein und mich schonen wollte – aber sich doch nicht wenig über die Verlegenheit ergötzte, in die er mich gebracht hatte.
Auf einmal schämte ich mich selbst so sehr der kleinen, erbärmlichen Komödie, die ich gespielt hatte, daß ich ganz rot wurde – und ihm fest und gerade in die Augen sah:
»Nein – Sie irren, ich bin garnicht in Ihrem Buche zu Hause; ich habe nur ein wenig hineingeguckt – und das tat ich bloß, weil ich mit Ihnen zusammen sein sollte … Und ich kümmere mich übrigens lieber nicht darum – denn wenn wir die zehn Gebote haben, die jedes Kind lernen kann, und den kleinen Katechismus und unser eigenes Gewissen, so meine ich, ist es widersinnig, solche zwei dicke Lehrbücher zu schreiben, die doch niemand in der Welt im Gedächtnis behalten kann.«
Nun war die Bombe geplatzt! Ich hörte sehr wohl Tantes halberstickten Husten, der einem verzweifelten Stöhnen glich, und fühlte die starren, erstaunten Blicke aller anderen auf mich gerichtet. Aber ich kümmerte mich auch nicht ein Bißchen darum – denn die grauen Augen sahen so wohlwollend in die meinen, daß ich trotzdem ganz ruhig war.
»Ja, gewissermaßen mögen Sie allerdings recht haben,« sagte er – mit leichtem Lächeln. »Aber das Buch sollte ja auch nur eine entwickelte Erklärung dessen sein, was Sie erwähnten. Es gibt doch viele Verhältnisse im Leben, die gerade von den zehn Geboten – und dem kleinen Katechismus aus beleuchtet werden müssen.«
»Zum Beispiel die Ehe, nicht wahr?« sagte ich. »Ja, den Abschnitt habe ich gelesen. Aber da gibt es wahrhaftig niemanden, der sich danach verheiraten kann! Ich würde es ganz anders geschrieben haben – das steht fest."
»So? Wie zum Beispiel?«
»So zum Beispiel – daß da nur stehen würde: » Über die Ehe. Wenn der Mann und die Frau, die sich heiraten wollen, einander lieben, so ist das Verhältnis zwischen ihnen geordnet, und sie haben gar keine Regeln nötig. Aber wenn sie einander nicht lieben, so kann das Verhältnis nicht geordnet werden. Und man kann es sich gern ersparen, mit Regeln zu kommen.«
Er lachte: »Es ist recht verdrießlich, daß ich Sie nicht getroffen habe, ehe ich zu diesem Abschnitt kam.«
»Herr Bischof müssen wirklich entschuldigen,« – es war Tante, bleich und bestürzt – »daß Sie sich mit dem verzogenen Kinde streiten müssen, das bei allem mitschwatzt, wovon sie nicht den mindesten Begriff hat.«
Das war lächelnd liebenswürdig gegen ihn, aber dabei so drohend gegen mich, daß mir doch etwas heiß um die Ohren wurde – und ich flüsterte zu den wohlwollenden, grauen Augen hinauf:
»Ich bekomme nachher Schelte! War es so fürchterlich schlimm, was ich sagte?«
In dem Augenblick schlug der Bischof an sein Glas und sagte, daß er eine Rede auf die Frau habe halten wollen, aber nicht recht gewußt habe, wie er habe anfangen sollen.
Nun sei er seiner lieben Dame zur Linken sehr dankbar, denn sie habe ihm einen Ausgangspunkt verschafft.
Sie habe dadurch, daß sie die Hauptsache seiner Sittenlehre in ganz wenigen, treffenden Worten umschrieben habe, aufs Neue die Eigentümlichkeit der Frau bestätigt, die sie zur unentbehrlichen Hilfe des Mannes macht, die Pascal – glaube ich wohl, war es – » esprit de finesse« nenne, und die dasselbe oder etwas Ähnliches wie Intuition sei. – – – Kurz, er meinte also, daß während der Mann sich mühsam zu einem Resultat durcharbeiten müsse, die Frau geradeswegs darauf zufliegen könne, – und deshalb wolle er ihr Wohl ausbringen. –
Ja, trotz der hübschen Rede bekam ich hinterher doch meine tüchtige Schelte. Aber im Grunde kümmerte ich mich nicht darum.
Und als ich am Abend heimkehrte, machte ich mich sofort an das Ungeheuer von Lehrbuch.
Ich gewann es so lieb, daß ich mich sowohl durch den ersten wie den zweiten Teil hindurchackerte.
Ja, nicht an einem Abend – aber nach und nach.
Und alle die schweren Worte fanden bei mir so leicht Eingang. Ich brauchte nur daran zu denken, daß sie hinter den grauen Augen entstanden waren, dann waren wir sofort gute Freunde – ich mochte sie alle so gern leiden, daß es nicht schwer wurde, mit ihnen zu tun zu haben.
Tante ließ Mutter wissen, daß sie mich nie wieder mit dem Bischof – oder überhaupt mit irgend einer berühmten Person zusammenbitten würde. Alle hätten sich über mich geärgert – vor allem die Amtmännin – und ich sei fürs ganze Leben so gut wie blamiert.
Aber ich weiß nicht, wie es zuging: in den nächsten paar Jahren trafen wir trotzdem an verschiedenen anderen Orten zusammen – ich meine: der Bischof und ich. Es war wie eine Fügung – denn ich kann mir doch nicht denken, daß er etwas dazu tat.
Allerdings, ich habe gewiß nicht erzählt, daß er unverheiratet war.
Einmal, als wir uns trafen – ja, es war in einem Walde am Strandweg, wo wir gewöhnlich unseren Landaufenthalt nahmen, und wo er nun auch in den Ferien wohnte – sagte ich ihm, daß ich sein großes Buch sehr lieb gewonnen habe.
Aber da antwortete er mir, daß er selbst mit demselben immer unzufriedener geworden sei. Ich hätte ihm die Augen für die Schwächen darin geöffnet, – besonders in dem Abschnitt, der lautete: über die Ehe.
Dann fragte er, ob ich nicht glaubte, daß ich ihm dabei helfen könnte, einen neuen auszuarbeiten?
Aber der sollte nicht geschrieben werden, sagte er. Er sollte gelebt werden. Denn das sei eine viel bessere Art, andere über das rechte Verhältnis zwischen Mann und Frau aufzuklären. Und das sei auch weit, weit glücklicher für eines Menschen eigenes, einsames Ich …
Ich sagte ja – gleich auf der Stelle.
Ja, so endete es wirklich damit, daß ich den ganzen Bischof bekam!
Aber es fing damals an, als ich den halben zu Tisch und sein »Lehrbuch« nicht gelesen hatte.