Arthur Schnitzler
Therese
Arthur Schnitzler

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

98

Die Tage gingen hin, und der Pfingstsonntag kam, an dem die Hochzeit hätte stattfinden sollen. Sie benützte ihn, um Wohlscheins Grab zu besuchen, auf dem noch neben verwelkten Totenkränzen ohne Namen und Schleife auch ihr eigener kleiner Veilchenstrauß lag. Lange stand sie da unter einem klaren, blauen Sommerhimmel, ohne zu beten, fast ohne zu denken, ja, ohne eigentlich traurig zu sein. Jenes Wort ihres 354 Sohnes, das einzige, in dem sie gleichsam sein Herz klingen gehört hatte, tönte in ihr nach: »Hast auch kein Glück, Mutter.« Aber in der Erinnerung bezog es sich nicht eben, und keineswegs allein, auf den Tod ihres Bräutigams, sondern vielmehr auf ihr ganzes Dasein. Wahrhaftig, sie war nicht auf die Welt gekommen, um glücklich zu sein. Und als verehelichte Frau Wohlschein wäre sie es gewiß so wenig geworden als auf jede andere Weise. Daß jemand starb, das war am Ende nur eine jener hundert Arten, unter denen einer verschwindet oder sich davonstiehlt. Es waren so viele tot für sie, Gestorbene und Lebendige. Der Vater war es, der nun schon so lange moderte, Richard, der ihr von allen Männern, die sie geliebt, doch der Nächste gewesen; doch auch die Mutter war es, der sie wenige Tage vor Wohlscheins Hinscheiden von der bevorstehenden Vermählung Mitteilung gemacht, die es aber kaum zur Kenntnis genommen und immer nur mit großer Wichtigkeit von ihrem »literarischen Nachlaß« gesprochen, den sie der Stadt Wien zu vererben gedachte; auch der Bruder, der seit seinem letzten unerwünschten Erscheinen nichts mehr von sich hatte hören und sehen lassen; auch Alfred, der einst ihr Geliebter und Freund gewesen, auch ihr verlorener Sohn, der Zuhälter und Dieb; und Thilda, die in Holland hinter hohen, blanken Fensterscheiben träumte und des Fräuleins längst nicht mehr dachte; und die vielen Kinder, – Buben und Mädchen, denen sie Lehrerin und manchmal fast Mutter gewesen; die vielen Männer, denen sie gehört hatte, – sie waren alle tot. Und fast war es, als wollte sich dieser Herr Wohlschein etwas darauf zugute tun, daß er so unwiderruflich unter diesem Hügel ruhte, und 355 als bildete er sich ein, richtiger tot zu sein als die andern alle. Ach nein, sie hatte keine besonderen Tränen für ihn. Die sie jetzt weinte, die flossen für so viele andere; – und vor allem weinte sie sie wohl für sich selbst. Und vielleicht waren es nicht einmal Tränen des Schmerzes, nur Tränen der Müdigkeit. Denn müde war sie, wie sie es noch niemals gewesen; manchmal überhaupt nichts mehr als nur müde. Jeden Abend sank sie so schwer ins Bett, daß sie dachte, sie werde irgend einmal aus lauter Müdigkeit ins Nichts hinüberschlafen.

Aber so leicht sollte es ihr nicht werden. Sie lebte und sorgte sich weiter. Zweimal geschah es, daß sie Franz wieder aushelfen mußte. Das erstemal kam er selbst am hellichten Tag mit seinem kleinen Koffer angerückt, während sie eben Schülerinnen bei sich hatte. Er wollte sich neuerdings bei ihr einmieten. Sie wies ihn ab, ließ ihn nicht einmal zur Türe herein, doch um Schlimmeres zu vermeiden, blieb ihr nichts übrig, als ihm alles zu geben, was sie noch an Bargeld im Hause hatte. Das nächstemal erschien nicht er selbst, sondern zwei seiner Freunde. Sie sahen aus wie eben seinesgleichen, redeten wirres und hochtrabendes Zeug, behaupteten, des Kameraden Leben und Ehre stünden auf dem Spiel, und entfernten sich nicht früher, als bis Therese auch diesmal fast alles hergegeben hatte, was sie besaß.

Nun aber war der Sommer da, die Stunden hatten vollkommen ausgesetzt, die letzten ersparten Gulden waren aufgezehrt, und sie verkaufte ihre unbeträchtlichen Schmuckstücke, ein schmales, goldenes Armband und einen Ring mit einem Halbedelstein, die ihr Wohlschein geschenkt hatte. Der Erlös wäre immerhin ausreichend 356 gewesen, um ihr bis zum Herbst weiterzuhelfen, und sie war sogar leichtsinnig oder kühn genug, im August für ein paar Tage aufs Land zu ziehen, an den gleichen Ort, wo sie die Weihnachtstage mit Wohlschein verbracht hatte, nur diesmal in einem einfacheren Gasthof.

In diesen Tagen war es, daß sie für eine Weile aus ihrer Müdigkeit, aus ihrem Dahindämmern erwachte und sich vornahm, in ihr Dasein, soweit es noch möglich war, Sicherheit und Sinn zu bringen. Vor allem faßte sie den festen Entschluß, jeden weiteren Erpressungsversuch Franzens rücksichtslos abzuweisen, ja, wenn nötig, bei der Polizei gegen ihn Schutz zu suchen. Was lag daran? Man wußte ja doch überall, daß sie einen ungeratenen Sohn hatte, der sogar schon gesessen war, und niemand auf der Welt würde es ihr verübeln, wenn sie ihn endlich seinem Schicksal überließ. Und ferner nahm sie sich vor, sich wieder einmal bei früheren Schülerinnen, die zum Teil schon verheiratet waren, in Erinnerung zu bringen und Empfehlungen zu erbitten. Sie hatte sich bisher durchgebracht, es konnte ihr auch weiterhin nicht fehlen. Schon diese wenigen Tage auf dem Land, die frische Luft, die Ruhe, das Verschontsein von peinlichen und schmerzlichen Aufregungen – wie günstig wirkte es auf ihre Stimmung ein. Sie war doch nicht so verbraucht, wie sie in den letzten Monaten gefürchtet hatte; und daß sie auch als weibliches Wesen immerhin noch zählte, das erkannte sie an manchem Männerblick, der dem ihren begegnete. Und wenn sie den jungen Touristen ein wenig ermutigt hätte, der, allabendlich von seiner Bergwanderung heimkehrend, im Gastzimmer seine Pfeife 357 rauchte und immer wieder seine Augen mit Wohlgefallen auf ihr verweilen ließ, so hätte sie auch wieder ein »Abenteuer« erleben können. Aber diese Möglichkeit zu wissen, daran ließ sie sich völlig genügen. Es wäre ihr nicht recht würdig, fast wie ein Übermut, ja, wie eine Herausforderung des Schicksals erschienen, den jungen Menschen durch Künste der Koketterie an sich heranzulocken, in ihm Hoffnungen zu erwecken, die zu erfüllen sie ja doch nicht ernstlich gesonnen war.

Eines Morgens, von ihrem Fenster aus, sah sie einen Wagen davonrollen, in dem er saß, den Rucksack zu seinen Füßen, und als hätte er geahnt, daß sie ihm nachschaute, wandte er sich plötzlich nach ihr um, lüftete mit übertriebener Gebärde den Hut mit dem Gamsbart, und sie winkte ihm einen Gruß zurück. Er aber zuckte leicht die Achseln, wie bedauernd, als wollte er sagen: »Nun ist es leider zu spät« – und fuhr davon. Ihr war einen Augenblick schmerzlich zumut. Fuhr da nicht ein Glück, vielleicht ein letztes Glück davon? Unsinn, sagte sie sich selbst und schämte sich ein wenig solcher rührseliger Gedanken.

Am Abend des gleichen Tages – wie übrigens schon vorher bestimmt war – reiste sie nach Wien zurück.


 << zurück weiter >>