Arthur Schnitzler
Therese
Arthur Schnitzler

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350 Und nun war sie allein, so völlig allein, wie sie es noch nie gewesen war. Sie hatte Wohlschein niemals geliebt. Und doch, an manchem Abend, wie schmerzlich-qualvoll war es, daß diese Türe sich niemals wieder öffnen, daß die Klingel draußen niemals sein Kommen wieder anzeigen sollte.

Und einmal klingelte es doch am späten Abend. Ihr Wissen um das unwiderrufliche Entschwundensein Wohlscheins war noch nicht so eins mit ihr geworden, daß sie den Bruchteil einer Sekunde nicht gedacht hätte: – Er! Was will er denn noch so spät? – Freilich, noch ehe sie sich erhob, wußte sie, daß es jeder sein konnte, nur nicht er.

Es war Franz, der vor der Türe stand. War er schon frei? Im schlecht beleuchteten Stiegenhaus, die Kappe in die Stirn gedrückt, einen Zigarettenstummel zwischen den Lippen, hager und blaß, den Blick zugleich flatternd und gesenkt, sah er eher bedauernswert als gefährlich aus. Therese aber fühlte nichts; weder Angst noch Mitleid. Am ehesten noch eine gewisse Befriedigung, wenn nicht gar eine kleine Freude, daß doch irgend jemand kam und sie für eine Weile von dem furchtbaren Druck des Alleinseins befreien würde, der auf ihr lastete. Und milde sagte sie: »Guten Abend, Franz.«

Er schaute auf, wie verwundert über den milden, fast liebevollen Ton ihrer Begrüßung. »Guten Abend, Mutter.« – Sie reichte ihm die Hand, behielt sogar die seine in der ihren, während sie ihn hereingeleitete. Sie machte Licht. »Setz' dich.« Er blieb stehen. »Also du 351 bist schon frei?« Sie sagte es ganz ohne Betonung, wie wenn sie gefragt hätte: Du bist schon von der Reise zurück?

»Ja«, sagte er. »Seit gestern schon. Wegen braver Aufführung habens' mir eine Wochen g'schenkt. Was, da schaust, Mutter. Also keine Angst brauchst nicht haben. Quartier hab' ich auch schon. Aber sonst nichts.« Er lachte kurz.

Ohne erst zu antworten, deckte Therese den Tisch für ihn, setzte ihm vor, was sie eben zu Hause hatte, und schenkte ihm Wein ein.

Er ließ es sich schmecken. Und da er sogar ein Stück geräucherten Lachs aufgetischt bekam, sagte er: »Dir geht's ja gut, Mutter.« In seinem Ton lag nun mit einem Male eine Forderung, beinahe eine Drohung.

Sie sagte: »Nicht gar so gut, wie du glaubst.«

Er lachte auf. »Na, ich trag' dir nix fort, Mutter.«

»Möchtest auch nicht mehr viel finden.«

»Na, Gott sei Dank, – es wird ja bald wieder nachgeliefert.«

»Ich wüßt' nicht, woher.«

Franz blickte sie böse an. »Bin ja nicht wegen Einbruch gesessen. Wenn einer sein Tascherl liegen laßt, da kann ich ja nix dafür. Mein Verteidiger hat auch gesagt, man könnte mich höchstens wegen Fundverheimlichung verurteilen.«

Sie wehrte ab. »Ich hab' dich um nichts gefragt, Franz.«

Er aß weiter. Dann plötzlich: »Aber mit Amerika is nix. Ich kann mich hier auch fortbringen. Übermorgen tret' ich einen Posten an. Jawohl. Man hat, 352 Gott sei Dank, noch Freunde, die einen nicht im Stich lassen, auch wenn man einmal Malheur g'habt hat.«

Therese zuckte die Achseln. »Warum soll ein gesunder junger Mensch keinen Posten finden? Ich wünschte nur, daß es diesmal von Dauer wäre.«

»Von mir aus wär' schon mancher von Dauer gewesen. Aber die Leut' glauben, man muß sich alles gefallen lassen. Und dazu bin ich nicht der Mensch. Von niemand. Verstehst du, Mutter? Und wenn ich nach Amerika gehen möcht', ging' ich von selber. Verschicken lass' ich mich nicht. Das kannst deinem – das kannst dem Herrn sagen.«

Therese blieb ganz ruhig. »Es war gut gemeint von ihm,« sagte sie – »kannst mir glauben.«

»Was war gut gemeint?« fragte er grob.

»Das mit Amerika. Übrigens kannst du unbesorgt sein, es wird nicht mehr vorkommen. Der Herr – mein Bräutigam – ist vor drei Wochen gestorben.«

Er sah sie an, ungläubig zuerst, als mutete er ihr zu, daß sie sich durch eine Unwahrheit vor neuen Forderungen sicherstellen wollte. Doch auf ihrer blassen Stirn, in ihren vergrämten Mienen vermochte sogar er zu lesen, daß es kein Vorwand, keine Lüge war. Er aß weiter, sprach nichts, dann zündete er sich eine Zigarette an. Und nun erst – und so kalt und gleichgültig es auch klang und wohl auch gedacht war –, Therese hörte doch das erstemal irgend etwas wie Mitgefühl aus seinem Ton: »Hast auch kein Glück, Mutter.«

Dann erklärte er, daß er zu müde sei, um noch sein entlegenes Quartier aufzusuchen, streckte sich, wie er war, auf den Diwan hin, schlief bald ein und war am nächsten Tage fort, ehe Therese erwacht war.

353 Doch zu Mittag schon, mit einem kleinen, schmutzigen Pappendeckelkoffer, war er wieder zur Stelle, logierte sich bei der Mutter ein, auf drei Tage, wie er erklärte, bis er seinen neuen Posten antreten könne, über dessen Natur er weiter nichts verlauten ließ. Therese erreichte immerhin von ihm, daß er sich vom Hause fernhielt, während sie unterrichtete. Doch sie konnte sich nicht dagegen helfen, daß ein Freund und eine Freundin – es mochten auch drei oder vier Menschen sein, von denen sie übrigens keinen zu Gesicht bekam – die halbe Nacht trinkend, flüsternd, lachend bei ihm verbrachten. Was sie noch an Lebensmitteln daheim besaß, lieferte sie ihm für seine Gastereien aus. Am vierten Morgen wartete er ihr Erwachen ab, erklärte, daß er ihr nun weiter nicht mehr zur Last fallen werde, und verlangte Geld. Sie gab ihm, was sie eben zu Hause hatte, den größeren Teil ihrer Barschaft hatte sie vorsichtigerweise in die Sparkasse getan. Es war ihr Glück, denn Franz scheute sich nicht, ehe er ging, Schrank und Kommode zu durchstöbern. Und nun blieb er viele Wochen lang für sie verschwunden.


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