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Drei Jahre folgten, so gleichmäßig in ihrem Verlauf, daß sie später in Theresens Erinnerung immer ein Frühjahr ins andere, Sommer in Sommer, Herbst in Herbst, Winter in Winter gleichsam zusammenflossen; – trotzdem sie oder weil sie eine Art von Doppelleben führte: das eine als Erzieherin in der Familie Regan, das andere als die Mutter eines kleinen Jungen, der draußen auf dem Lande bei Bauersleuten in Pflege war.
Wenn sie in Enzbach den Tag verbrachte, ja schon auf der Fahrt hinaus, versank alles, was sie in der Stadt zurückließ, das Ehepaar Regan und die Kinder, versank für sie das Haus, das Zimmer, das sie bewohnte, die ganze Stadt in einen grauen Dunst von Unvorstellbarkeit, aus dem alles, wenn sie aus dem Zuge stieg, und oft erst, wenn sie die Wohnung betrat, wieder zur Wirklichkeit emportauchte.
Wenn sie aber mit der Familie Regan bei Tische saß, mit den Kindern lernte oder spazieren ging oder abends nach erfüllter Berufspflicht ermüdet sich ins Bett strecken durfte, dann erschien ihr wieder die Enzbacher Landschaft, in Sommerglanz oder in Winterstarre – das Gehöft auf dem Hügel in Grün oder in Weiß 154 gebettet – der Ahornbaum mit dem umkränzten Marienbild – das Bauernpaar auf der Bank vor dem Haus oder in dem niederen Wohnraum am Ofen –, wie eine unwahrscheinliche, gleichsam märchenhafte Welt; und immer war es ein Wunder, wenn sie den mählich ansteigenden Weg zum Leutnerhof emporschritt und alles da war, wie sie es vor Tagen oder Wochen verlassen, und sie ihren Buben, immer denselben und doch von einemmal zum andern ein neues Geschöpf, in ihren Armen, auf ihrem Schoße halten durfte; und manchmal geschah es, wenn sie für eine Weile die Augen geschlossen hatte und sie dann wieder auftat, daß ein anderes Kind in ihren Armen lag, als sie es sich mit geschlossenen Augen vorgestellt hatte.
Nicht immer war ihr draußen so wohl, als ihre Sehnsucht es ihr vorgespiegelt hatte. Herr Leutner hatte zuweilen seine bösen Tage, auch die Bäuerin, meist wohlgelaunt und allzu schwatzhaft, war manchmal wie ausgewechselt, unfreundlich, feindselig geradezu, und wenn Therese sich nur im geringsten unzufrieden zeigte, widersprach sie heftig, schalt über die Plage, die sie mit dem Buben habe und die man ihr nicht genügend danke und lohne. Auch nach wiederholter Erhöhung des Kostgeldes gab es Mißstimmungen aller Art. Einmal hatte man verabsäumt, Therese von einer allerdings leichten Erkrankung des Kindes zu verständigen, dann wieder wurden Ausgaben für Arzneimittel angerechnet, die offenbar nicht ganz stimmen konnten, und immer wieder glaubte Therese an dem oder jenem Anzeichen zu merken, daß Frau Leutner sich keineswegs so sehr um den Buben kümmerte, wie es ihre Pflicht war. Andere Male wieder gab es Eifersüchteleien nicht nur zwischen 155 Therese und der Bäuerin, sondern auch zwischen Therese und der kleinen Agnes; und dann beklagte sich Therese geradezu, daß Frau Leutner und ihre Tochter das Kind so verzärtelten, als wenn sie es ihr abspenstig machen wollten. Auch gelegentliches schlechtes Wetter war nicht angetan, die Laune und das Einvernehmen zu fördern. Es war zu ärgerlich, wenn man mit nassen Füßen in dem kalten oder überheizten Raume sitzen mußte und es nach schlechtem Tabak roch, der in die Augen biß und gewiß auch dem Kind schadete. – Nicht ganz selten ertappte sich Therese auf dem Wunsch, nicht nach Enzbach hinausfahren zu müssen, und sie ließ einen und den andern freien Sonntag hingehen, ohne ihr Kind zu sehen. Andere Male wieder glaubte sie es vor Sehnsucht gar nicht aushalten zu können, und in ihrer Sehnsucht war so viel Angst, daß sie die Nächte in bösen Träumen hinbrachte.
Im ganzen aber war es doch eine schöne Zeit. Und oftmals dachte Therese, daß sie eigentlich besser dran sei als manche Mutter, die ihr Kind immer bei sich haben durfte und dieses Glück nicht zu würdigen verstand, während für sie, Therese, ein solches Zusammensein, wenigstens in der Vorfreude, stets einen Festtag zu bedeuten hatte.
Im Hause Regan fühlte sie sich auch weiterhin recht zufrieden. Der Doktor, in seiner Tüchtigkeit von Selbstgefälligkeit nicht ganz frei, blieb immer liebenswürdig, trotz angestrengtester Berufstätigkeit, Frau Regan erwies sich auch weiterhin zwar als sehr genaue, aber doch nie launenhafte und stets gerechte Hausfrau, die Mädchen waren lebhaft, doch fleißig und gehorsam und ihrer Erzieherin sehr zugetan, der Knabe war von 156 stillerer Art, sehr musikalisch, so daß er schon in seinem achten Jahr an musikalischen Familienabenden den Klavierpart in Haydn- und Mozartschen Quartetten durchzuführen imstande war; Therese spielte öfters vierhändig mit ihm und heimste an solchen Abenden ihren bescheidenen Anteil am Beifall für sich ein. In der Atmosphäre von Tätigkeit, Ordnung und Beständigkeit, die sie hier umgab, war sie selbst mehr als zuvor auf ihre eigene Fortbildung bedacht und fand Zeit, ihre Klavier- und Sprachstudien in beschränktem Maße weiter zu betreiben.
In diesem wohlgeordneten Dasein gab es kleine Ereignisse, die den gewohnten Lauf der Tage unterbrachen. Etliche Male geschah es, daß Frau Fabiani nach Wien kam, um persönlich mit Redakteuren und Verlegern zu verhandeln, und die Familie Regan bestand liebenswürdigerweise darauf, die Mutter des Fräuleins zu Tische einzuladen, bei welchen Gelegenheiten Frau Fabiani ein tadelloses, geradezu vornehmes Benehmen zur Schau trug und auch ihres Sohnes Erwähnung tat, des Medicinae-Studiosus, der trotz seiner Jugend an der Universität bereits eine politische Rolle zu spielen beginne und neulich anläßlich eines Kommersabends eine aufsehenerregende Rede gehalten habe.
Nach einem dieser mütterlichen Besuche traf Therese den Bruder, den sie wieder einige Monate lang nicht gesehen hatte, in der Stadt, und sie redeten von der Mutter, über deren letzten, in einer Wiener Zeitung laufenden Roman Karl sich in spöttisch-abschätziger Weise äußerte. Therese fühlte sich sonderbarerweise verletzt; die Geschwister nahmen kühlen Abschied; an der nächsten Ecke wandte Therese sich nach dem Bruder 157 um, und es fiel ihr auf, wie sehr er sich im Laufe weniger Jahre nicht eben zu seinem Vorteil verändert hatte. Er trug sich wohl sorgfältiger als früher, doch die leicht gesenkte Haltung des Kopfes, die etwas zu langen, schlecht geschnittenen, den Kragen streifenden Haare, der rasche, fast hüpfende Gang verliehen seinem ganzen Wesen für Therese etwas Unvornehmes, Unsicheres, Subalternes, wovon sie sich abgestoßen fühlte.
Anfangs hatte sie auch einige Male die Verpflichtung verspürt, Frau Nebling aufzusuchen, und eines Abends wohnte sie einer Operettenvorstellung bei, zu der ihr die Schauspielerin ein Billett geschenkt hatte. Mit schriller, fremder Stimme sang und spielte sie ein ältliches, männersüchtiges, aufgeputztes Weib und betrug sich in einer Weise, daß Therese sich für sie beinahe schämte und bei dem Gedanken schauerte, einer der Söhne könne aus der Fremde zurückkehren und die eigene Mutter in so unanständigem Aufzug, scharlachrot geschminkt, mit lüsternen Gebärden und Blicken, zum Gespötte selbst der Mitspielenden, wie Therese deutlich merkte, auf der Bühne umherspringen sehen.
Einmal auf der Straße war ihr, als käme ihr Kasimir Tobisch entgegen. Doch sie hatte sich getäuscht, eine Ähnlichkeit zwischen dem Vater ihres Kindes und dem an ihr vorbeistreifenden Herrn war kaum vorhanden, und als ihr in kurzen Zwischenräumen solche Irrtümer noch zwei- oder dreimal begegneten und sie immer die gleiche peinliche Erregung verspürte, erkannte sie, daß sie im Grunde Angst hatte, Kasimir Tobisch wiederzusehen; ungefähr so, als wenn er, gerade er, von ihrer weiteren Existenz, insbesondere aber von dem Dasein 158 des Kindes, seines Kindes, nie und nimmer etwas erfahren dürfe. Das Bild eines andern aber, den sie gerne wiedergesehen hätte, Alfred, täuschte ihr auch kein zufällig Begegnender vor. Ihn, von dem sie bestimmt wußte, daß er in derselben Stadt lebte wie sie, führte nie ein freundlicher Zufall ihr entgegen.
Auch die Sommerwochen mit der Familie Regan, obwohl sie jedesmal an einem anderen Gebirgsort verbracht wurden, flossen später für Therese in sonderbarer Weise wie in einen Sommeraufenthalt zusammen, und die jüngeren und älteren Herren, die sich ihr auf dem Lande zu nähern versuchten, unterschieden sich später in der Erinnerung wenig voneinander. Daß ihr von all diesen keiner wirklich nähertrat, lag vielleicht nicht so sehr an ihrem eigenen Widerstand, an ihrer Vorsicht, an ihrer Kühle – denn im Gegensatz zu manchen früheren und manchen späteren Epochen ihres Lebens schienen in jenen Jahren ihre Sinne fast in Schlummer zu liegen – als vielmehr an der in ihrer Stellung begründeten Unfreiheit, durch die immer wieder die entschiedene Fortführung einer im Entstehen begriffenen, der Abschluß einer etwas weiter gediehenen Beziehung vereitelt wurde. Und so geschah es zuweilen, daß sich in ihr der Neid auf andere regte, die es glücklicher getroffen als sie – auf manche der Damen, die an lauen Sommerabenden, wenn das Fräulein sich mit den Kindern schon auf ihre Zimmer zurückgezogen, auf dem großen erleuchteten Platz vor dem Hotel umherspazieren konnten, solange und mit wem es ihnen beliebte, oder auch im Dunkel verschwanden. Sie sah und hörte, was ihr freilich nichts Neues mehr war, wie Frauen, Mütter, junge Mädchen mit Herren vieldeutige 159 Blicke wechselten, verfängliche Reden führten, und wußte, wie sich solche Anfänge weiter zu entwickeln pflegten. Frau Regan selbst, obzwar immer noch eine hübsche, ja begehrenswerte Frau, war eine von den wenigen, die von der Atmosphäre ringsum so gut wie gar nicht berührt schien, wodurch Therese ihrerseits sich auch beruhigt, behütet, ja vielleicht bewahrt fühlte. –
Nichts deutete auf eine kommende Veränderung hin; Doktor Regan und seine Frau kamen ihr nach wie vor mit Freundlichkeit, ja mit Herzlichkeit entgegen, zwischen ihr und den Mädchen, besonders dem älteren, hatte sich fast eine Art von Freundschaft herausgebildet, und das Vierhändigspiel mit dem begabten Knaben war ihr eine liebe Gewohnheit geworden, – als eines Morgens im Juni, kurz bevor man aufs Land ziehen sollte, Frau Regan sie zu sich ins Zimmer rief und ihr, gewiß in einiger Verlegenheit, aber doch recht gefaßt und kühl, ankündigte, daß man sich entschlossen habe, eine Französin ins Haus zu nehmen, und man sich daher – freilich mit dem größten Bedauern – genötigt sehe, sie, Therese, ziehen zu lassen. Natürlich eile das nicht im geringsten, man gab ihr Wochen, Monate lang Frist, bis sie eine geeignete Stellung gefunden, und was die nächste Zeit anbelange, so stehe es ganz in Theresens Belieben, ob sie die Familie Regan in die Dolomiten begleiten oder, was ihr unter diesen Umständen vielleicht lieber sein würde, die ganzen Ferien ungestört zu ihrer Verfügung haben wolle.
Therese stand blaß, ins Herz getroffen, erklärte aber sofort – ohne von ihrer Bewegung etwas zu verraten –, von dem Entgegenkommen der Frau Regan keinerlei 160 Gebrauch zu machen und womöglich noch vor Ablauf der üblichen vierzehn Tage das Haus verlassen zu wollen. Seltsam erschien es ihr selbst, daß ihre Erschütterung nicht andauerte, ja, daß sie noch in der gleichen Stunde eine gewisse Befriedigung, wenn nicht gar Freude über die bevorstehende Veränderung in sich aufsteigen fühlte. Sie gestand sich bald, daß sie in diesem Hause keineswegs so glücklich gewesen war, als sie sich manchmal hatte einbilden wollen, und in einem zufällig in diesen Tagen stattfindenden Gespräch mit Fräulein Steinbauer, der Erzieherin in einem mit dem Reganschen befreundeten Hause, einem ältlichen, verbitterten Geschöpf, ließ sie sich unschwer überzeugen, daß sie im Hause Regan einfach ausgenützt und dann auf die Straße gesetzt worden sei, wie es eben ihrer aller sich immer wiederholendes Schicksal sei. Die gleichmäßige Liebenswürdigkeit der Frau Regan erschien ihr nun als ein Gemisch von Temperamentlosigkeit und Falschheit, das selbstzufriedene und von sich eingenommene Wesen des beliebten Arztes war ihr, wie sie nun wußte, immer in der Seele zuwider gewesen, der Knabe, wenn auch ein großes musikalisches Talent, war geistig zurückgeblieben, die beiden Mädchen, wenn man ihnen auch Fleiß nicht absprechen konnte, waren doch nur recht mäßig begabt, das jüngere schon ein wenig verdorben, das ältere nicht ohne Tücke; und daß Frau Regan die beiden Mädchen längst in die geplante Veränderung eingeweiht hatte, darüber konnte ein Zweifel kaum bestehen. Falschheit und Hinterlist überall.
Sie verließ das Haus mit Bitterkeit im Herzen und schwor sich zu, es niemals wieder zu betreten. 161