Arthur Schnitzler
Therese
Arthur Schnitzler

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Therese wurde im Hause Eppich mit viel Rücksicht behandelt, auch die Gäste kamen ihr mit Höflichkeit entgegen, wie einem zwar mit Glücksgütern weniger gesegneten, aber sonst gleichberechtigten Mitglied der Familie. Ein junger Rechtsanwalt, unansehnlich, kurzsichtig, mit feinen, etwas leidenden Zügen, bemühte sich um sie, sprach von seiner trüben Jugend, seinen Studien, seinen Erfahrungen als Lehrer und Hofmeister, und sie fühlte, daß er sie ein wenig überschätzte, ja, sie wohl für eine andere Art von Wesen hielt, als sie war. Auch sie erzählte ihm mancherlei: von den Eltern, dem Bruder, von Alfred, ihrer »Jugendliebe« – in der etwas beiläufigen und öfters unwahren, dem augenblicklichen Zuhörer etwas angepaßten Art, die sie sich angewöhnt hatte; über Max schwieg sie völlig; von 113 ihrem Abenteuer mit Kasimir berichtete sie wohl, aber so, als wenn es ein ganz harmloses gewesen und als wenn sie nach jenem ersten Praterabend nur ein paarmal freundschaftlich mit ihm spazierengegangen wäre. Am letzten Tage seines Urlaubs, im Wald, da sie beide hinter der übrigen Gesellschaft ein Wenig zurückgeblieben waren, versuchte der junge Anwalt in etwas ungeschickter Weise sie zu umarmen. Sie stieß ihn zuerst heftig zurück, dann verzieh sie ihm und erlaubte ihm, ihr zu schreiben. Sie hörte niemals wieder von ihm.

Ende August kam der junge Herr Eppich an. Seine Schwestern, die sich in der Stadt nicht sonderlich mit ihm vertrugen, waren glückselig über sein Kommen, ihre Freundinnen waren alle in ihn verliebt. Er hatte sich, wie es jetzt Mode war, sein kleines Schnurrbärtchen abrasieren lassen, und man fand, daß er einem sehr bekannten Schauspieler und Frauenliebling ähnlich sehe. Gegenüber Theresen benahm er sich anfangs zurückhaltend; doch eines Nachmittags, auf der Stiege bei einer zufälligen Begegnung, ließ er sie wie zum Scherz nicht vorbei, und sie setzte seinen Zudringlichkeiten nicht so viel Widerstand entgegen, als sie sich vorgenommen hatte. Sie versperrte die Türe hinter sich und sah bald von ihrem Fenster aus, wie der junge Herr unten aus dem Gartentor schritt, eine Zigarette zwischen den Lippen, ohne sich auch nur umzuwenden.

Indes war Dr. Eppich zwei Tage lang hier gewesen; zwischen ihm und seiner Gattin schien etwas Ärgerliches vorgefallen zu sein, wie alle merkten; und er war ohne Abschied wieder abgereist. Die jüngere Tochter ging am nächsten Tag verweint herum, und Therese merkte bald, daß diese Zwölfjährige von den 114 Dingen, die sich rings um sie abspielten, mehr wußte und daß sie sie schmerzlicher fühlte als die andern.

In einer Nacht schreckte Therese plötzlich auf, es war ihr, als hätte sie ein Geräusch an der Tür gehört. Der Gedanke kam ihr, daß vielleicht George sich bei ihr Einlaß verschaffen wollte. Aber statt Angst empfand sie vielmehr eine angenehme Erregung, und als es dann weiterhin stille blieb, eine unzweifelhafte Enttäuschung. Was ihr seit jener Begegnung auf der Stiege schon einige Male flüchtig durch den Sinn gegangen war, wurde ihr in dieser schlaflosen Nacht zu einer Art von Plan: sie wollte es darauf anlegen, sich in George eines Vaters für ihr Kind zu versichern. Freilich war es die höchste Zeit. Aber als hätte der junge Mann ihre Absichten erraten – er hielt sich von nun an völlig fern von ihr, und Therese, zuerst verwundert, hatte bald entdeckt, daß sich im Laufe der letzten Tage zwischen ihm und einer jungen Frau, die im Hause verkehrte, ein Liebesverhältnis angeknüpft hatte. Eifersucht verspürte sie in keiner Weise. Ihr Zorn über sich selbst wandte sich bald in Scham, sie erschien sich wie eine Verworfene, und immer tiefer empfand sie die Peinlichkeit ihres Zustands und die Gefahr ihrer Lage. Insbesondere der Gedanke, ihrem Bruder zu begegnen, erfüllte sie neuerdings mit einer fast lächerlichen Angst. Zugleich aber war sie von der Überzeugung durchdrungen, daß die meisten weiblichen Personen, die sie kannte, besonders aber manche ihrer Berufsgenossinnen, schon Ähnliches durchgemacht wie sie und zur rechten Zeit Abhilfe zu schaffen gewußt hatten. Man konnte freilich nicht geradezu fragen, aber es mußte doch möglich sein, das Gespräch so zu wenden, daß man etwas 115 Zweckdienliches erfahren konnte. Unter den Bonnen und Erzieherinnen ihrer Bekanntschaft gab es zwei, mit denen sie zuweilen in eine leichtere und freiere Unterhaltung geraten war, ohne daß jemals ein wirklich delikates Thema berührt worden wäre. Die eine war ein hageres, blasses, verblühtes und sanft scheinendes Wesen, das sich nicht nur über die Familie, wo sie in Stellung war, sondern auch über alle dort verkehrenden Personen in der boshaftesten Weise zu äußern pflegte. Man wußte, daß sie Witwe oder geschieden war, doch wurde sie immer als Fräulein angesprochen. Die andere war eine Brünette, noch nicht dreißig, von fröhlichem Temperament, der man eine ganze Menge Liebschaften zumutete, ohne ihr auch nur eine einzige nachweisen zu können. Dies war das Geschöpf, bei dem Therese glaubte sich am ehesten Rat holen zu dürfen. Und so begann sie an einem regnerischen Nachmittag Mitte September auf einem Spaziergang, während die Zöglinge vorausgingen, nach einem zurechtgemachten Plan und in etwas ungeschickter Weise von dem Kinderreichtum im Hause des Bankdirektors zu sprechen, wo Fräulein Rosa in Stellung war. Aber da sie sich scheute, eine direkte Frage an sie zu richten, erfuhr sie nichts, als was sie ohnehin schon wußte: daß es gefällige Frauen gab, auch Ärzte, die für dergleichen zu haben seien, und daß die Gefahren im allgemeinen nicht allzu groß waren. Dieses oberflächliche Gespräch beruhigte Therese sonderbarerweise, da ihr durch die heitere, fast spaßhafte Art, in der die andere das Thema behandelte, allerlei, das ihr vorher gefahrvoll und grauenhaft erschienen war, nicht so schwer, ja gewissermaßen selbstverständlich vorkam. Das Ganze war ein Zwischenfall, 116 wie er sich im Leben mancher Frau ereignete, ohne weitere Spuren zu hinterlassen; für sie sollte es auch nichts anderes bedeutet haben.


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