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Im September trat sie eine neue Stellung an als eine Art von Gesellschafterin bei einem siebzehnjährigen, blassen, unscheinbaren und etwas einfältigen jungen Mädchen, der einzigen Tochter eines verwitweten und seit vielen Jahren erblindeten, ehemaligen Großkaufmanns, dem überdies zwei erwachsene Söhne, Jurist der eine, der andere Techniker, im Hause lebten. Man wohnte in einer stillen Vorstadtstraße im ersten Stockwerk eines ziemlich alten, etwas düsteren, jedoch wohlgehaltenen Gebäudes, in das manche moderne Neuerungen, wie zum Beispiel elektrische Beleuchtung, noch keinen Eingang gefunden hatten. Der Kaufmann, ein fünfzigjähriger, graubärtiger, noch stattlicher Mann, hatte Therese persönlich aufgenommen mit der Bemerkung, daß ihn ihre Stimme, ihre treue Stimme, wie er sich ausdrückte, angenehm berühre. Da seiner Tochter jede Eignung zur Führung des Haushaltes fehlte, war Therese vorzugsweise die Sorge dafür überlassen, und sie freute sich, auch nach dieser Richtung hin eine ausgesprochene Begabung in sich zu entdecken. Es ging im Hause geselliger und heiterer zu, als Therese erwartet hätte. Die jungen Herren sahen Kollegen bei sich, die Tochter Berta erhielt Besuche von Verwandten und Freundinnen; und dem alternden blinden 203 Mann tat es offenbar wohl, einen jugendlich lebendigen, manchmal sogar ziemlich lauten Kreis um sich zu versammeln und an den Unterhaltungen teilzunehmen. Therese konnte sich hier durchaus als Gleichgestellte, ja bald wie eine Angehörige der Familie fühlen. Eine der Kusinen, ein aufgewecktes, übermütiges Ding, machte Therese zur Vertrauten einer ernsten Leidenschaft, die sie für ihren älteren Vetter, den Juristen, zu hegen behauptete. Theresen aber schien es, als gefiele dem jungen Mädchen der andere Bruder oder auch ein gewisser blonder junger Mensch in Freiwilligenuniform, der öfters ins Haus kam, mindestens ebensogut als der angeblich heißgeliebte Vetter. Sie verspürte eine eifersüchtige Regung, die sie sich um so weniger eingestehen wollte, als sie sich geschworen hatte, sich niemals wieder in aussichtslose Beziehungen einzulassen. Sie war es endlich müde, in der Welt herumgestoßen zu werden; sie sehnte sich nach Ruhe, nach Heimat, nach einer eigenen Häuslichkeit. Warum sollte ihr nicht zufallen, was so manche andere Frauen in ähnlicher Stellung und mit weniger innerem und äußerem Anrecht ohne besondere Mühe erreicht hatten? Erst neulich hatte eine ihrer Berufsgenossinnen, ein dürftiges, fast verblühtes Wesen, einen wohlsituierten Buchhalter geheiratet; eine andere, noch dazu eine Person von ziemlich schlechtem Ruf, einen wohlhabenden Witwer, in dessen Haus sie Erzieherin gewesen war. Dergleichen sollte ihr nicht glücken? Ihr Bub konnte und durfte kein Hindernis sein. Es war ja am Ende doch gerade so, als wenn sie einmal verheiratet gewesen und nun geschieden oder Witwe geworden wäre. Herr Trübner war zwar nicht mehr jung und überdies des Augenlichtes 204 beraubt, doch er war ein stattlicher, fast schön zu nennender Mann, und es war nicht schwer zu merken, daß ihre Nähe ihm wohl tat. Er ließ sich gerne von ihr vorlesen, meist aus philosophischen Schriften, was ihr zuerst einige Langweile verursachte, bis er ihr, sie durch freundliche Fragen immer wieder unterbrechend, allerlei zu erklären, ja gewissermaßen zusammenhängende Vorträge zu halten begann und so in ihr Verständnis und Interesse für eine ihr im allgemeinen recht fernliegende Gedankenwelt zu erwecken glaubte. Manchmal in zarter Weise, versuchte er, sie über ihre Vergangenheit auszuholen. Sie erzählte ziemlich wahrheitsgetreu von ihrer Kindheit, ihren Eltern, der Salzburger Zeit und von mancherlei Erfahrungen, die sie in ihrem Beruf gesammelt hatte. Über ihre Herzenserlebnisse sprach sie nur in Andeutungen, ließ vermuten, daß sie manches Schwere durchgelitten und daß sie vor Jahren für kurze Zeit einmal »so gut wie verheiratet« gewesen sei. Herr Trübner fragte nicht weiter, aber eines Abends zwischen zwei Absätzen eines philosophischen Buches, erkundigte er sich bei Theresen in mild-ernster Weise, wie es ihrem Kind gehe, klärte die Errötende, als sie mit der Antwort zögerte, dahin auf, er habe es dem Ton ihrer Stimme lange schon angehört, daß sie Mutter sei, und da sie schwieg, behielt er ihre Hand in der seinen, ohne diesmal weiter in sie zu dringen.
Einmal, als sie abends von einer Besorgung nach Hause kam, begegnete sie auf der mattbeleuchteten Treppe dem blonden Freiwilligen. Wie zum Scherze wich er ihr nicht aus, sie lächelte, und in der nächsten Sekunde preßte er sie in einer heftigen Umarmung an sich, um sie erst wieder freizugeben, als man oben die 205 Türe gehen hörte. Sie stürzte hinauf, ohne sich noch einmal nach ihm umzuwenden, und wußte zugleich, daß sie ihm verfallen war. Sie fühlte, daß es sinnlos wäre, einen doch nur scheinbaren Widerstand zu leisten, und ehe sie ihm beim nächsten Zusammentreffen ein geheimes Wiedersehen zugestand, bedang sie sich nur ehrenwörtlich strengste Verschwiegenheit aus. Er ging darauf ein, hielt sein Wort, und es bedeutete für sie einen besonderen Reiz, wenn sie ihrem jungen Freund etwa bei einem Abendessen im Hause Trübner gegenübersaß und er, den Schimmer eben verflossener Liebesstunden noch im Aug', höflich respektvolle Worte an sie richtete. Er benahm sich übrigens zu den anderen jungen Mädchen nicht minder liebenswürdig und galant als zu Theresen, brachte allen Blumen und Bonbons, und wenn man zur Faschingszeit in dem kleinen Kreise Lust zum Tanzen verspürte, war er es, der auf dem Klavier dazu aufspielte.
Wenn aber niemand auch nur das geringste von den Beziehungen zwischen ihm und Theresen zu ahnen schien, der Kaufmann, blind und seherisch zugleich, hatte offenbar etwas gemerkt, und seiner Art nach, in etwas salbungsvoller Weise, warnte er Therese vor den Enttäuschungen und Gefahren, denen junge Geschöpfe in ihrer Lebenslage ganz besonders ausgesetzt seien. Obwohl Therese wohl fühlte, daß hier nicht allein Sorge um ihre Tugend im Spiele war, verfehlten seine Worte nicht ihren Eindruck, und unwillkürlich änderte Therese ihr Verhalten gegenüber Ferdinand. Sie war nicht mehr das heiter-unbedenkliche Geschöpf, das er in den Armen zu halten gewohnt war, ließ Besorgnisse laut werden, mit denen sie die schönen Stunden des 206 Beisammenseins zu stören bisher unterlassen hatte, und nach einem neuerlichen Gespräch mit Herrn Trübner, in dem er wieder in ziemlich allgemein gehaltenen Worten von der Leichtfertigkeit der jungen Leute und von den sittlichen Verpflichtungen alleinstehender weiblicher Wesen geredet hatte, schrieb Therese, fast wie unter einem Bann, an Ferdinand einen Abschiedsbrief. Zwar war sie schon drei Tage später wieder in der alten Weise mit ihm zusammen, aber sie wußten beide, daß es zu Ende gehe.
Einmal im Vorfrühling bei einem Einkaufsgang durch die Stadt begegnete sie Alfred, den sie zum letztenmal vor acht Jahren von dem Wagen aus gesehen hatte, in dem sie mit ihrem neugeborenen Kind und Frau Nebling zur Bahn gefahren war. Er blieb stehen, nicht weniger erfreut als sie selbst; sie gerieten ins Plaudern, und nach wenigen Minuten konnten sie beide nicht glauben, daß sie einander wirklich so viele Jahre lang nicht gesehen und gesprochen hatten. Alfred hatte sich kaum verändert. Auch die leichte Befangenheit seines Wesens war noch da, doch wirkte sie jetzt nicht so sehr als Unbeholfenheit denn als Zurückhaltung. Therese erzählte ihm, was sie ihm eben erzählen wollte, verschwieg manches, wonach zwar nicht seine Lippen, doch seine Augen fragten, und kam sich keineswegs unaufrichtig vor. Daß sie nach dem Liebeshandel mit Max noch mancherlei erlebt hatte, das konnte er sich wohl denken. Er war ja indessen auch ein Mann geworden. Wieder stieg die seltsame Empfindung in ihr auf, als stände ihr in Alfred der Vater ihres Kindes gegenüber, und brachte auf ihrem Antlitz ein geheimnisvolles Lächeln hervor, das in Alfreds Blick als Frage 207 sich widerspiegelte. Er erzählte von den Seinen: beide Schwestern seien verheiratet, die Mutter etwas leidend, er selbst mache im Laufe dieses Sommers das Doktorat, ein wenig verspätet, – er sei leider nicht so fleißig gewesen wie andere Kollegen, ihr Bruder Karl zum Beispiel, der schon erster Sekundararzt sei und gewiß eine große Karriere vor sich habe; jedenfalls, fügte er hinzu, als Politiker. Ob Therese denn wisse, daß Karl demnächst nicht mehr Fabiani heißen werde, sondern Faber, ein Name, der sich für einen Mann echtdeutscher Gesinnung jedenfalls besser schicke als einer von welschem Klang, der später übrigens leicht gegen ihn ausgenützt werden könnte. Therese sah vor sich hin. »Ich sehe ihn beinahe nie«, meinte sie beiläufig. Dann bat sie Alfred, ihr zu schreiben, sobald er Doktor geworden sei. »Und früher darf's nicht sein?« fragte Alfred. Sie schaute lächelnd auf, reichte ihm die Hand zum Abschied und lächelte noch den ganzen Weg bis nach Hause.
Herr Trübner ließ sich bald nicht nur philosophische Werke vorlesen; es gab, zu anfangs willkommener Abwechslung, auch leichtere Lektüre, und Therese geriet zuweilen an Stellen, über die sie nur verlegen und stockend hinwegzulesen vermochte. Einmal aber, in einem Kapitel eines übersetzten französischen Memoirenwerkes, hielt sie inne, da sie ihre Stimme nicht nur aus einem gewissen Schamgefühl, sondern auch in plötzlicher Erregung versagen fühlte. Herr Trübner faßte nach ihrer Hand, zog sie an seine Lippen; dann, als Therese zugleich erschreckt und erschüttert es sich gefallen ließ, wurde er verwegener, und Therese, mit halberstickter Stimme, mußte ihn endlich bitten, von 208 ihr abzulassen. Sie blieb noch eine Weile stumm an seiner Seite sitzen, dann, mit einer flüchtigen Entschuldigung, verließ sie das Zimmer. Am nächsten Tag bat er sie in seiner salbungsvollen, sie heute besonders peinlich berührenden Art um Verzeihung. Trotzdem wiederholte er ein paar Tage später seinen Versuch; sie riß sich los, und schon wenige Tage später, unter dem Vorwand, daß sie zu ihrer erkrankten Mutter reisen müsse, verließ sie das Haus.