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Sie fragte von nun an nach nichts mehr, ohne jeden Widerstand ließ sie es geschehen, daß er jeden Abend das Haus verließ und erst in den Morgenstunden zurückkehrte. Doch einmal, als der Morgen da war, ohne daß er heimgekehrt wäre, geriet sie in eine ihr unerklärliche, ahnungsvolle Angst. Sie zweifelte nicht, daß er wieder bei einem schlimmen Streich abgefaßt worden 279 war und daß es diesmal nicht so glimpflich abgehen würde als das erstemal. Und als er endlich vor ihr stand, gab sich ihre Erregung, gerade weil sie eigentlich überflüssig gewesen war, in besonders erbitterter Weise kund. Er ließ sie eine Weile reden, erwiderte kaum, ja, lachte zu ihren Worten, als hätte er seine Freude an ihrem Zorn. Therese, dadurch noch heftiger aufgebracht, redete sich in eine Erbitterung ohne Maß. Da, ganz plötzlich, schrie er ihr ein Wort ins Gesicht, das sie zuerst nur falsch verstanden zu haben glaubte. Mit großen, fast irren Augen sah sie ihn an, er aber wiederholte den Schimpf, sprach weiter. »Und so eine will mir was sagen. Was glaubst denn du eigentlich?« Seine Zunge war entfesselt. Weiter sprach er, schimpfte, höhnte, drohte, und sie hörte zu, wie erstarrt. Es war das erstemal, daß er ihr den Makel seiner Geburt ins Gesicht schrie. Aber er sprach nicht zu ihr wie etwa zu einer Unglücklichen, die von einem Liebhaber im Stich gelassen worden war, sondern wie zu einem Frauenzimmer, das eben einmal Pech gehabt und gar nicht wußte, wer der Vater ihres Kindes sei. Es waren auch nicht Vorwurfe eines Kindes, das durch seine uneheliche Geburt sich benachteiligt, gefährdet oder gar geschändet fühlte, es waren bübische, gemeine Schimpfworte, wie Gassenjungen sie Dirnen auf der Straße nachrufen. Sie fühlte auch, daß er bei all seiner Verdorbenheit in seiner tiefsten Seele kaum verstand, was er sagte. Er drückte sich eben so aus, wie es in seinen Kreisen üblich war, sie empfand weder Kränkung noch Schmerz, es war nur das Grauen einer ungeheuren, nie von ihr geahnten Einsamkeit, in das aus unendlicher Ferne die Stimme eines unbegreiflich 280 Fremden tönte, der ein Mensch war wie sie und den sie geboren hatte.
Noch in dieser Nacht schrieb sie an Alfred, daß sie ihn dringend zu sprechen wünsche. Es verstrichen einige Tage, ehe er sie zu sich beschied. Er war freundlich, aber etwas kühl, und sein prüfender Blick erregte in ihr das Bedürfnis, sich zu vergewissern, ob an ihrer Kleidung, ihrem Aussehen irgend etwas nicht in Ordnung sei. Während sie von dem Anlaß ihres Besuches sprach und in einer wenig gewandten, kaum recht zusammenhängenden Weise von ihren letzten Erfahrungen mit Franz erzählte, suchte sie immer zwangshaft im Wandspiegel gegenüber ihr Bild zu erspähen, was ihr anfangs nicht gelingen wollte. Als sie geendet, schwieg Alfred eine Weile und äußerte seine Ansicht, ja, er hielt eine Art von Vortrag über den Fall, aus dem Therese eigentlich nicht viel Neues erfuhr. Auch das Wort »moral insanity« hörte sie nicht zum erstenmal aus seinem Munde. Und er schloß damit, daß er ihr nun einmal nichts Besseres raten könne, als er es schon kürzlich getan: den Jungen aus dem Hause zu geben; womöglich danach zu trachten, daß er in eine andere Stadt übersiedle, ehe sich irgend etwas Nichtwiedergutzumachendes ereignet hätte.
Therese, auf ihrem Sessel hin und her rückend, hatte indes ihr Gesicht im Wandspiegel erblickt und erschrak. Freilich, die Beleuchtung war nicht die beste; aber daß das Glas aus schön häßlich und aus jung alt machte, war keineswegs anzunehmen; und sie sah, glaubte es in diesem fremden, ungewohnten Spiegel unwidersprechlich zu entdecken, daß sie mit ihren vierunddreißig Jahren verblüht, ältlich, fahl aussah, wie eine 281 Frau von über vierzig. Nun, sie war allerdings gerade in den letzten Wochen erheblich abgemagert, überdies war sie unvorteilhaft gekleidet, der Hut besonders stand ihr übel zu Gesicht. Aber selbst all dies in Betracht gezogen, das Antlitz, das ihr aus dem Spiegel entgegenblickte, bedeutete ihr eine traurige Überraschung. Als Alfred im Sprechen innehielt, ward ihr bewußt, daß sie ihm zuletzt kaum mehr zugehört hatte. Er trat nun vor sie hin, fühlte sich verpflichtet, einige mildernde Worte hinzuzufügen, ließ es als möglich gelten, daß bis zu einem gewissen Grad die Entwicklungsjahre an dem unerfreulichen Verhalten Franzens schuld sein mochten, und vor allem warnte er Therese vor Selbstvorwürfen, zu denen sie ja in hohem Maß zu neigen scheine und zu denen doch wahrhaftig kein Grund vorhanden sei. Dem widersprach sie heftig. Wie, sie hätte keinen Grund zu Selbstvorwürfen? Wer denn, wenn nicht sie? Sie war ja niemals eine wahre Mutter für Franz gewesen, immer nur für ein paar Tage oder Wochen, anfallsweise sozusagen, habe sie sich mütterlich gegen ihn betragen. Meistens sei sie doch nur mit ihren eigenen Angelegenheiten, mit ihrem Beruf, ihren Sorgen und – ja, warum sollte sie es leugnen – mit ihren Liebesgeschichten beschäftigt gewesen. Und wie oft habe sie den Buben als Last empfunden, ja, es sei nun einmal so, als Unglück geradezu, schon in früherer Zeit, lange bevor sie von seiner moral insanity etwas geahnt oder gar etwas gemerkt hatte. Schon zur Zeit, als er ein kleines, unschuldiges Kind gewesen sei, ja, schon ehe er auf die Welt gekommen, habe sie nichts von ihm wissen wollen. Und in der Nacht, da sie ihn geboren, habe 282 sie gehofft, gewünscht, daß er überhaupt nicht lebendig zur Welt komme.
Sie hatte noch mehr, noch Wahreres sagen wollen, aber im letzten Augenblick hielt sie sich zurück, aus Angst, durch ein noch weitergehendes Geständnis sich dem Freund zu entfremden, sich ihm, und am Ende nicht ihm allein, gewissermaßen auszuliefern. Und sie schwieg. Alfred aber, wenn er auch tröstend, gütig beinahe die eine Hand auf ihre Schulter legte, – es konnte ihr nicht entgehen, daß er mit der andern die Uhr aus der Westentasche zog; und als Therese daraufhin sich mit einer gewissen Hast erhob, bemerkte er wie entschuldigend, daß er leider vor sechs auf der Klinik sein müsse. Therese aber solle keineswegs etwas veranlassen, ehe sie noch einmal mit ihm gesprochen. Und – es war wohl vorerst nicht seine Absicht gewesen, so weit zu gehen – er schlug ihr vor, nächstens mit Franz zu ihm in die Sprechstunde zu kommen oder besser noch, er selbst wolle dieser Tage, vielleicht Sonntags um die Mittagsstunde, sie besuchen, um bei dieser Gelegenheit wieder einmal mit Franz zu reden, und so zu einem klaren, persönlichen Eindruck zu gelangen.
Therese verstand selbst nicht, daß dieses so natürliche Anerbieten des einstigen Geliebten, des Freundes, des Arztes auf sie wirkte, als hätte er ihr damit die Hand zur Rettung gereicht. Sie dankte ihm aus erfülltem Herzen.