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Eine Zeitlang lebte sie vollkommen und ausschließlich ihrem Berufe, in dem sie sich nicht nur durch dessen fortgesetzte Ausübung, sondern auch durch Arbeit in freien Stunden weiter ausgebildet hatte und immer weiter ausbildete, so daß sie allmählich zu einer tüchtigen und gesuchten Lehrerin wurde. Es waren durchaus junge Mädchen, die sie unterrichtete und zu Prüfungen vorbereitete. Zwei Jünglinge, die sich gemeldet, hatte sie fortweisen müssen, da sie offenbar andere Zwecke im Auge hatten, als sich im Englischen und Französischen zu vervollkommnen. Einen Brief des Professor Wilnus mit der Bitte, sie wieder einmal besuchen zu dürfen, hatte sie mit einer endgültigen Absage beantwortet. Sie bereute es keinen Augenblick, 267 obwohl ihr manchmal war, als hätte sie ihm dankbar sein können, denn seit seinem Besuch war in Franzens Verhalten eine vorläufig noch andauernde Wandlung zum Bessern erfolgt, er schien regelmäßig zur Schule zu gehen, wie eine gelegentliche Erkundigung Theresens bestätigte, – wo und mit wem er die vielen Stunden außer Hause verbrachte, dem wagte sie freilich nicht nachzuforschen.
Von ihrem Bruder hörte sie nichts, und sie war überzeugt, daß er ihr die Absage an den Professor übelnahm. Auch die Mutter blieb ihr fern, und so wäre sie ganz allein gewesen, wenn nicht Sylvie manchmal des Abends sie besucht hätte. Richard verschwand merkwürdig schnell aus den Gesprächen, doch allerlei andere Erlebnisse aus frühen Tagen teilten sie einander mit, Therese mehr in Andeutungen, Sylvie in manchmal überlebhaften Schilderungen. Und wenn auch die Männer, denen die beiden Frauen im Lauf des Daseins begegnet waren, nicht eben gut wegzukommen pflegten, beide wärmten ihre müden Herzen an der Erinnerung vergangener Jugend. Sylvie hatte die Absicht, baldmöglichst in ihre Heimat nach Südfrankreich zurückzukehren, die sie fast zwanzig Jahre lang nicht gesehen hatte. Was sie dort tun, wie sie sich dort erhalten sollte, da sie doch nur wenig hatte ersparen können, wußte sie freilich nicht, aber ihre Sehnsucht nach Hause hatte einen fast krankhaften Charakter angenommen. Dem immer noch heiteren Geschöpf liefen die Tränen über die Wangen, wenn sie von ihrer Heimatstadt sprach; Therese merkte in solchen Momenten, wie welk, wie alt die Züge Sylvies geworden waren, und sie erschrak. Doch sie beruhigte sich 268 damit, daß sie selbst um sieben oder acht Jahre jünger war.
In dieser Epoche ihres Lebens bedeutete ihr wieder die Kirche eine oft besuchte, wohltuende Aufenthaltsstätte, und sie betete oder wünschte doch inbrünstig, daß sie sich weiter mit ihrem Lose bescheiden, daß ihr Franz nicht allzuviel Kummer bereiten, und insbesondere, daß niemals wieder Leidenschaft den ruhigen Lauf ihres Daseins stören und ihr innerstes Wesen trüben möge.
In diesem Sommer traf es sich, daß sie eine zehnjährige Schülerin, das jüngste Kind eines bekannten Schauspielers, zur Aufnahmeprüfung ins Lyzeum vorbereiten sollte und man sie zu diesem Zweck an einen Salzkammergutsee mitnahm. Ihre Tätigkeit beschränkte sich fast nur darauf, die Kleine täglich ein paar Stunden, meistens im Garten, zu unterrichten. Eine ältere, schon achtzehnjährige Tochter war in einen jungen Mann verliebt, der häufig zu Besuch kam. Ein Vetter machte der noch immer hübschen Hausfrau den Hof, der Gatte brachte seine Aufmerksamkeit einer kaum sechzehnjährigen Freundin der Tochter entgegen, einem höchst verdorbenen Geschöpf, ja, er stellte ihr recht eigentlich nach. Es war für Therese sonderbar, zu beobachten, wie Vater, Mutter, Tochter, jeder für sich, kaum etwas von dem bemerkten oder zum mindesten ganz harmlos zu nehmen schienen, was die andern durchfühlten und durchlitten. Therese selbst, mit ihren durch so viele Erfahrungen geschärften Augen, sah diesem Spiel der Leidenschaften zu, ohne selbst berührt zu sein, war kaum anders bewegt als eine Zuschauerin im Theater, und vor allem war sie sehr 269 froh, daß sie mit solchen Herzensdingen äußerlich und innerlich abgeschlossen hatte. Es schien wirklich alles recht harmlos abzulaufen; zum Schluß aber hatte es doch den Anschein, als wenn ein Opfer fallen sollte. Die Tochter des Hauses verübte einen Selbstmordversuch, und nun war es, als ob alle mit einemmal aus einem gefährlichen Traume jäh erwachten. Ohne daß es zu irgendwelchen peinlichen Auseinandersetzungen gekommen wäre, lösten sich alle diese Beziehungen, die nur im Spiel der Sommerlüfte sich geknüpft hatten, gleichsam in nichts auf; früher, als beabsichtigt gewesen war, verließ man die Villa, die ganze Familie reiste nach dem Süden, und Therese kam früher wieder nach Wien zurück, als sie gedacht.
Ihren Sohn hatte sie indes der Obhut einer Nachbarin empfohlen, einer Beamtenswitwe, einer gutmütigen, ziemlich einfältigen Person, selbst Mutter eines achtjährigen Buben. Wenn sie auch nichts geradezu Nachteiliges über Franzl aussagen wollte, sie konnte nicht verschweigen, daß sie ihn manchmal ganze Tage nicht zu Gesicht bekommen habe. Therese nahm ihn ins Gebet; er log in so törichter Weise, daß Therese auch das Wahrscheinliche nicht mehr zu glauben imstande war. Auf ihre Vorwürfe hin wurde er noch ausfälliger als sonst, doch waren es nicht so sehr seine Worte als Miene und Blick, die Therese im Tiefsten erschreckten. Hier war kein Zug eines Knaben-, eines Kindergesichtes, – ein frühreifer, verdorbener, bösartiger Bursche starrte ihr frech ins Gesicht. Als Therese endlich von der Schule zu sprechen begann, erklärte Franz höhnisch, er denke gar nicht daran, sie weiter zu besuchen, er habe andere, gescheitere Dinge vor, dann 270 äußerte er sich in den häßlichsten Worten über seine Lehrer, und ein besonders unflätiger Ausdruck verletzte Therese so sehr, daß sie sich nicht zurückhalten konnte, Franz ins Gesicht zu schlagen. Dieser, das Antlitz verzerrt, erhob den Arm, es gelang Therese nicht mehr, den Schlag abzuwehren, und so fuhr Franzls geballte Faust über Theresens Lippen nieder, die zu bluten begannen. Ohne sich weiter um sie zu kümmern, rannte er davon und schlug die Türe hinter sich zu. Fassungslos, verzweifelt blieb Therese zurück, aber sie hatte keine Tränen mehr.
Noch am gleichen Abend, nach langer Zeit wieder, schrieb sie an Alfred. Die Antwort traf schon am übernächsten Tage ein, Alfred gab Theresen den Rat, den Buben irgendwohin in die Provinz zu schicken, als Lehrling, als Kommis, als was immer, – ihre Verpflichtungen habe sie reichlich erfüllt, sie solle sich keinerlei Skrupel machen, das Wichtigste sei, daß sie endlich von Angst und Sorge befreit werde. Angst? fragte sie sich; das Wort befremdete sie zuerst, doch gleich fühlte sie, daß es das richtige war. In einem neuen Absatz teilte Alfred ihr mit, daß er sich mit der Tochter eines Tübinger Universitätsprofessors verlobt habe, zwischen Weihnachten und Neujahr vermutlich werde er mit seiner jungen Gattin nach Wien zurückkehren. Niemals aber werde er vergessen, was sie, Therese, für ihn bedeutet habe, was er ihr schuldig sei, und sie könne in jeder Lebenslage auf ihn als auf ihren besten Freund zählen. Ein bitterer Geschmack trat auf ihre zuckenden Lippen, aber auch jetzt weinte sie nicht.
Für den nächsten Sonntag war sie zu ihrem Bruder zum Mittagessen eingeladen. Da sie nicht fürchten 271 mußte, den abgewiesenen Freier dort zu finden, nahm sie an. Karl empfing sie mit auffallender Freundlichkeit, und sie merkte bald, daß er ihre Absage an den Professor durchaus guthieß: dieser habe sich als ein sehr unzuverlässiger Mensch erwiesen, aus opportunistischen Gründen war er aus dem deutschnationalen Lager ins christlich-soziale übergegangen und kandidierte mit vieler Aussicht auf Erfolg für den Gemeinderat. Dann kam Karl auf die Mutter zu reden, die ihm, wie er behauptete, ernstliche Sorgen verursache. Was tat die alte Frau, so frage er sich, mit ihrem Geld, und was wollte sie weiter damit tun? Es war leicht zu berechnen, daß sie sich schon eine hübsche Summe erspart haben mußte. Die Kinder hatten zweifellos die Pflicht, insbesondere er, Karl, als Familienvater, sich darum zu kümmern. Ob Therese, die es als unversorgte Tochter doch am ehesten dürfe, das heikle Thema nicht einmal mit der Mutter zur Sprache bringen und bei dieser Gelegenheit andeuten wolle, daß er, Karl, gerne geneigt sei, die alte Frau zu sich ins Haus zu nehmen, wo sie doch gewiß billiger draus käme als in einer Pension. Obwohl die Art, wie Karl diese Frage behandelte, Theresen höchst widerwärtig war, sagte sie zu, mit der Mutter in gewünschtem Sinne zu reden, dachte aber vorläufig nicht daran, ihr Versprechen einzulösen.
Eines Abends begegnete ihr in der inneren Stadt Agnes. Therese erkannte sie nicht gleich. Sie sah auffallend, fast verdächtig aus, und Therese war es unbehaglich, mit ihr auf der Straße stehen zu bleiben. Agnes erzählte, daß sie seit einiger Zeit nicht mehr »im Dienst«, sondern Verkäuferin in einem Parfümeriegeschäft sei. Therese erkundigte sich nach den alten 272 Leutners, Agnes erwiderte, daß sie nur selten nach Enzbach käme, übrigens sei der Vater im vergangenen Sommer gestorben. Dann trug sie ihr einen Gruß für den Franzl auf und verabschiedete sich.
Und wenige Tage darauf, unaufgefordert, fand sie sich bei Theresen ein. Franz, mit dem Therese kein Wort mehr gesprochen, seit er die Hand gegen sie erhoben, und der sich nur mehr, und immer verspätet, zu den Mahlzeiten einfand, war sonderbarerweise zu Hause, begrüßte Agnes nicht ohne einige Verlegenheit, die sich aber ihrer Ungezwungenheit gegenüber rasch verlor; und bald, Theresens Anwesenheit kaum beachtend, plauderten sie in einer Art kameradschaftlichen Straßenjargons miteinander, dem Therese kaum zu folgen vermochte. Sie tauschten Enzbacher Erinnerungen aus, mit versteckten Anspielungen, von denen sie mit einigem Recht annehmen durften, daß sie für Therese unverständlich blieben. Manchmal aber, mit ihrem frechen, schiefen Blick, grinste Agnes zu Therese hinüber, und es stand deutlich darin zu lesen: Du glaubst, er gehört dir? Mir gehört er.
Endlich schüttelte sie Theresen derb-freundschaftlich die Hand, ging, und Franz, ohne ein Wort an die Mutter, schloß sich ihr an. Wie er nur aussah in seinem billigen, gar nicht mehr knabenhaft zugeschnittenen Anzug mit den großkarierten Beinkleidern, dem zu kurzen Rock, dem rot umränderten Taschentuch, wie bleich und wie verworfen und dabei nicht unhübsch das Gesicht! Ein Bub? nein, das war er wahrhaftig nicht mehr. Wie sechzehn, siebzehn Jahre sah er aus. Ein junger Mann –? das Wort paßte nicht recht für ihn. Ein anderes drängte sich ihr in den Sinn, von dem sie 273 gleichsam wieder weghörte. Ihre Brust hob und senkte sich schwer von ungeweinten Tränen.