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Nach einem beinahe schmerzlichen Abschied, bei dem sie sich vielleicht zum ersten Male gegenüber den Menschen, deren Haus sie verließ, im Unrecht fühlte, trat sie ihren neuen Posten bei einer wohlhabenden Kaufmannsfamilie, einem Hutmacher in der inneren Stadt, als Erzieherin des einzigen, recht verzogenen und besonders schönen siebenjährigen Buben an. Was Theresen am meisten auffiel, war die ununterbrochen gute Laune, die in diesem Hause herrschte. Zu Tische war beinahe immer irgendwer zu Gaste – ein Onkel, eine Kusine, ein Geschäftsfreund, ein verwandtes Ehepaar aus der Provinz –, es wurde vorzüglich gegessen und getrunken, man erzählte Anekdoten, Tratsch aus der Nähe und aus der Ferne, lachte viel und war sichtlich erfreut, ja irgendwie geschmeichelt, wenn Therese mitlachte. Man behandelte sie wie eine gute alte Bekannte, fragte sie nach ihrem Elternhaus, nach ihren Jugenderlebnissen; es war das erstemal, daß sie wieder von ihrem Vater, dem verstorbenen hohen Offizier, von ihrer Mutter, der beliebten Romanschriftstellerin, von Salzburg, von allerlei Menschen, die sie im Laufe der Zeit kennengelernt, reden durfte, ohne vordringlich zu erscheinen. So konnte sie sich leicht behaglich fühlen. Der Bub aber, soviel er ihr auch durch sein verwöhntes, anspruchsvolles Wesen zu schaffen machte, entzückte sie geradezu. Sie entdeckte bald, daß seine Eltern ihn wohl zu verwöhnen, aber doch eigentlich nicht ganz zu würdigen verstanden. Sie fand, daß er nicht nur klug, weit über seine Jahre, sondern von einer ganz eigenen, fast überirdischen Schönheit war, die sie übrigens an das Kostümbild 179 irgendeines Prinzen erinnerte, sie wußte nicht an welches, das sie einmal in einer Galerie gesehen. Und bald erkannte sie, daß sie dieses Kind geradesosehr, ja, noch mehr liebte als ihr eigenes. Als es eines Abends an hohem Fieber erkrankte, war sie es, die angstverzehrt drei Nächte lang an seinem Bette wachte, während die Mutter, in diesen Tagen selbst etwas leidend, sich nur Bericht über den Zustand des Kindes erstatten ließ, das übrigens am dritten Tag schon vollkommen hergestellt war. Bald nachher wurden allerlei Sommerpläne gemacht; man zog die Umgebung von Salzburg in Betracht, und auch Theresens Rat war willkommen.
Da geschah es an einem heitern Sonntagmorgen, daß die Frau des Hauses sie zu sich ins Zimmer bat und ihr freundlich wie immer mitteilte, daß in wenigen Tagen die frühere Erzieherin zurückerwartet würde, die nur zum Besuch von Verwandten einen halbjährigen Urlaub in England verbracht hatte. Therese glaubte zuerst nicht recht zu verstehen. Als sie nicht länger daran zweifeln konnte, daß sie fort sollte, brach sie in Tränen aus. Die Frau tröstete sie, redete ihr zu und lachte sie endlich in ihrer gutmütigen und gedankenlosen Art wegen dieser »Raunzerei« ein wenig aus. Weder sie noch ihr Gatte schienen im geringsten die Empfindung zu haben, daß man Theresen ein Unrecht oder gar einen Schmerz antäte. Der Ton ihr gegenüber im Hause nach der Kündigung änderte sich so wenig, daß Therese immer wieder zu glauben versucht war, sie werde doch weiter hier bleiben dürfen. Ja, man besprach auch nach wie vor mit ihr verschiedene Einzelheiten des bevorstehenden Urlaubs, und der Bub redete von Ausflügen, 180 Kahnfahrten, Bergpartien, die er mit ihr unternehmen wollte. Immer wieder hatte sie während der Mahlzeiten mit Tränen zu kämpfen. Es gab eine Nacht, da sie halb im Traum allerlei romanhafte Pläne erwog: Entführung des Knaben, einen Anschlag gegen die aus England zurückkehrende Erzieherin; – auch noch dunklere Vorsätze, die sich gegen das Kind und gegen sie selbst richteten, gingen ihr durch den Sinn. Am Morgen waren sie natürlich alle in nichts zerflossen.
Endlich war der Tag des Abschieds da. Es war Sorge dafür getragen, daß der Kleine sich auf Besuch bei den Großeltern befand; man gab Theresen eine billige Bonbonniere und die besten Wünsche mit auf den Weg, ohne auch nur mit einem Worte anzudeuten, daß man sie gelegentlich wiederzusehen wünsche. Als sie die Treppe hinunterschritt, starr und tränenlos, wußte sie, daß sie dieses Haus nie wieder betreten würde. Es war nicht das erstemal, daß sie sich dergleichen vorgenommen; aber auch dort, wo ein solcher Vorsatz nicht in ihr aufgetaucht war, wo sie in Frieden, ja sozusagen in Freundschaft geschieden war, auch dorthin hatte sie beinahe niemals wieder den Fuß gesetzt. Wann hätte sie auch Zeit dazu gefunden?
Sie fuhr nach Enzbach mit der Hoffnung, sich in der freien Natur zu erholen, mit der Sehnsucht, sich unter den Menschen draußen wohl zu fühlen, mit dem gleichsam verzweifelten Wunsch, ihr Kind mehr, besser zu lieben, als sie es bisher getan. Nichts von all dem glückte ihr, alles schien vielmehr aussichtsloser als je. Niemals noch war sie in einer so völlig fremden Welt gewesen. Es war ihr, als käme man ihr übelgesinnt, geradezu feindselig entgegen, und so sehr sie sich Mühe gab, es gelang 181 ihr kaum, mütterliche Zärtlichkeit für ihr Kind zu fühlen.
Am schlimmsten wurde es, als Agnes, die indes in Wien Kindermädchen gewesen war, für ein paar Tage nach Enzbach kam. Die Zärtlichkeit der Sechzehnjährigen für den Buben war Theresen in der Seele zuwider, sie ertrug es nicht, das junge Mädchen dem Kind gegenüber sich gleichsam mütterlicher gebärden zu sehen, als sie selbst es vermochte. Manchmal wieder schien ihr das Verhalten von Agnes keineswegs von mütterlichen Gefühlen bestimmt; es hatte vielmehr den Anschein, als habe Agnes es nur darauf angelegt, Therese zu ärgern, zu verletzen, eifersüchtig zu machen. Als ihr das Therese auf den Kopf zusagte, erwiderte sie höhnisch und frech. Frau Leutner schlug sich auf die Seite ihrer Tochter; es kam zu einem Zank, in dem auch Therese alle Haltung verlor; empört über die andern, unzufrieden mit sich selbst, erkannte sie, daß alles nur schlimmer werden konnte, wenn sie noch länger blieb, und es geschah zum erstenmal, daß sie Enzbach ohne eigentlichen Abschied – fluchtartig verließ.