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Es war, als hätte Franz aus unbekannten Fernen her die Veränderung gewittert, die in den äußeren Lebensverhältnissen seiner Mutter eingetreten war. Gerade als Therese wieder einmal einen Korb mit allerlei Eßwaren erhalten hatte, erschien er unerwartet und sah im Winterrock, trotz des abgeschabten Samtkragens, fürs erste recht anständig, fast vertrauenerweckend aus. Doch als er den Rock zurückschlug und unter einem etwas fleckigen 323 Smoking eine auch nicht mehr ganz weiße Hemdbrust sichtbar wurde, war der anfangs günstige Eindruck gleich wieder fort. »Was verschafft mir das Vergnügen?« fragte die Mutter kühl. Nun, er war wieder einmal stellenlos und ohne Obdach. Das Kabinett, in dem er ein paar Wochen lang gewohnt, war ihm gekündigt worden. Daheim sei er schon seit ein paar Monaten wieder. »Na ja,« meinte er hämisch, »wenn man auch keinen Vater hat, eine Vaterstadt hat man doch.« Und es sei doch eigentlich sehr rücksichtsvoll von ihm gewesen, daß er sich in der ganzen Zeit nicht gemeldet. Ob ihm die Mutter nicht zur Belohnung auf zwei, drei Tage Quartier und Kost geben möchte?
Therese schlug es ihm rundweg ab. Aus dem Korb da, den ihr die Schülerinnen zum Nikolofeste gemeinsam geschenkt, könne er sich nehmen, was er wolle. Und zehn Gulden schenke sie ihm auch. Aber ein Einkehrwirtshaus halte sie nicht. Basta. Er steckte ein paar Konservendosen ein, nahm eine Flasche unter den Arm und wandte sich zum Gehen. Die Absätze seiner Schuhe waren vertreten, sein Hals dünn, die Ohren standen ab, merkwürdig gebeugt war sein Rücken. »Na, so eilig ist es nicht«, sagte Therese in plötzlich aufsteigender Rührung. »Setz' dich ein bissl her und – erzähl' mir.« – Er wandte sich um und lachte auf. »Nach so einem Empfang – könnt' mir einfallen«; er klinkte die Türe auf und schlug sie hinter sich zu, daß es durch das Haus dröhnte.
Von diesem Besuch erzählte sie Herrn Wohlschein nichts. Doch als er sie eine Woche darauf abends aus ihrer Wohnung abholen wollte und sie blaß, erregt, die Augen noch von Tränen gerötet antraf, vermochte sie 324 nicht zu verschweigen, daß Franz eben dagewesen sei, zum zweitenmal innerhalb von acht Tagen, und Geld verlangt habe. Sie hatte den Mut nicht gehabt, es ihm zu verweigern. Und sie gestand Wohlschein auch, daß Franz niemals in Amerika gewesen sei, hier in Wien eine dunkle Existenz führe, von der sie nichts Näheres wisse, auch nichts wissen wolle. Und da ihr nun einmal die Zunge gelöst war, erzählte sie ausführlicher und aufrichtiger als je zuvor von allem, was sie mit ihrem Sohn bisher durchgemacht hatte. Anfangs, sie spürte es wohl, war Wohlschein ziemlich peinlich berührt. Doch je länger er ihr zuhörte, um so mehr wurde sein Mitleid rege. Er erklärte endlich, daß er ihrem kümmerlichen und geplagten Leben nicht länger zusehen könne, er schäme sich geradezu, sorgenfrei, ja in Wohlstand dahinzuleben, während sie manchmal – oh, er merke es wohl – am Notwendigsten Mangel leide.
Sie widersprach. Und unter keiner Bedingung wollte sie etwa davon hören, als er ihr eine kleine Monatsrente zur Verbesserung ihrer Lebensumstände anbot. Sie habe ihr anständiges Auskommen, und es sei ihr Stolz, ihr einziger Stolz vielleicht, daß sie zeitlebens mit ihrem Berufe sich selbst und lange genug auch ihren Sohn habe erhalten können.
Doch als er in einem nächsten Gespräch darauf bestand, sich wenigstens die Auffrischung und Ergänzung ihrer Garderobe in bescheidenem Maße angelegen sein zu lassen, widersprach sie kaum mehr; und als sie eine Woche lang wegen einer fieberhaften Erkältung gezwungen war, das Bett zu hüten, mußte sie sich's, wohl oder übel, gefallen lassen, daß er für die Bezahlung des Arztes und des Apothekers, für die notwendige Kostverbesserung 325 und am Ende auch für den Schaden aufkam, der ihr durch den Entfall der Lektionen erwachsen war. Auch bestand er darauf, daß sie nach ihrer Erkrankung sich Schonung auferlegte, und es blieb ihr nichts übrig, als seine Unterstützungen dankbar anzunehmen.